Leitsatz (amtlich)
Ist ein nach Vollendung des 16. Lebensjahres liegender Schulbesuch abgebrochen und wegen schwerer Erkrankung erst später fortgesetzt worden, so ist der erste Abschnitt des Schulbesuchs nicht deshalb von der Anrechnung als Ausfallzeit (bis zur Höchstdauer von 4 Jahren) nach AVG § 36 Abs 1 Nr 4 (= RVO § 1259Abs 1 Nr 4) ausgenommen, weil die Unterbrechung der Schulausbildung länger als 5 Jahre gedauert hat.
Normenkette
AVG § 36 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Buchst. b Fassung: 1965-06-09; RVO § 1259 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Buchst. b Fassung: 1965-06-09
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen und des Sozialgerichts Dortmund vom 13. Oktober und 9. März 1970 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, das Altersruhegeld des Klägers unter zusätzlicher Berücksichtigung von 21 Monaten Ausfallzeit neu zu berechnen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob beim Altersruhegeld des Klägers noch eine Schulausbildung von 21 Monaten als weitere Ausfallzeit i.S. von § 36 Abs. 1 Nr. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) zu berücksichtigen ist.
Der Kläger besuchte bei Vollendung des 16. Lebensjahres (31.1.1920) das Realgymnasium in H/Westfalen und anschließend bis Juli 1923 ein Privatgymnasium der Kongregation der Missionare von der Hl. Familie in O im Sauerland. Der Kläger war der Kongregation mit dem Ziele beigetreten, Missionar zu werden. Im Anschluß an die Gymnasialzeit verbrachte er ein Jahr als Novize in der Kongregation. Danach begann er an einer Ordensschule ein Philosophiestudium, brach dieses aber Ende 1925 ab. Im gleichen Jahr erkrankte er an einer offenen Lungentuberkulose. Während der mehrjährigen Krankheitszeit nahm er von 1926 bis 1930 am Fernunterricht eines Lehrinstituts teil. Von Januar 1931 an besuchte er das Pädagogium in H und legte dort am 30. März 1933 die Reifeprüfung ab. Vom 1. April 1934 an war der Kläger versicherungspflichtig beschäftigt.
Die Beklagte legte der Berechnung des Altersruhegeldes als Ausfallzeit nach § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG die Zeit des Schulbesuchs von Januar 1931 bis März 1933 = 27 Monate zugrunde (Bescheid vom 23. Dezember 1968).
Der Kläger begehrt die Anrechnung einer Schulausbildung von weiteren 21 Monaten als Ausfallzeit. Im Klageverfahren hat er den Anspruch u.a. auf seine Teilnahme am Fernunterricht in den Jahren 1926 bis 1930 gestützt. In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht (SG) hat der Kläger - nach Schilderung seiner Lebensumstände in den 20er Jahren - auf die Frage, welche Zeiten er noch als Ausfallzeiten geltend machen wolle, erklärt: "Ich mache noch die Zeit vom 1. Januar 1920 bis Juli 1923 als Ausfallzeit geltend". Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 9. März 1970). Die Berufung ist ohne Erfolg geblieben.
Das Landessozialgericht (LSG) hat zwar in der genannten Erklärung des Klägers keine Klagerücknahme i.S. von § 102 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bezüglich des Anspruchs auf Anrechnung von 21 Monaten Schulausbildung während der Teilnahme am Fernunterricht in den Jahren 1926 bis 1930 gesehen. Es hat aber der Entscheidung des SG im Ergebnis zugestimmt: Die Teilnahme am Fernunterricht sei keine Schulausbildung im Sinne des Gesetzes gewesen. Die Zeit der Schulausbildung von 1920 bis 1923 könne deshalb nicht als Ausfallzeit angerechnet werden, weil nicht innerhalb von fünf Jahren seit dem Ende dieses Schulbesuchs eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen worden sei (Urteil vom 13. Oktober 1970).
Die vom LSG zugelassene Revision rügt eine Verletzung des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG.
Der Kläger beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Beklagte in Änderung des Urteils des SG und des angefochtenen Bescheids zu verurteilen, noch weitere 21 Monate Schulausbildung als Ausfallzeit anzurechnen und darüber einen neuen Bescheid zu erteilen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie ist - anders als das LSG - der Auffassung, daß eine Sachentscheidung über das Begehren des Klägers, auch die Zeit der Teilnahme an dem Fernlehrgang als Ausfallzeit zu berücksichtigen, nicht mehr hätte ergehen dürfen, weil der Kläger insoweit seine Klage in der mündlichen Verhandlung vor dem SG zurückgenommen habe. Darüber hinaus sei zweifelhaft, ob für eine Sachentscheidung des LSG überhaupt noch Raum gewesen sei, da sich das gesamte Vorbringen des Klägers in der Berufungsinstanz nur noch auf das bereits in der ersten Instanz fallengelassene Begehren bezogen habe, die Zeit des Fernunterrichts von 1926 bis 1930 in Höhe von 21 Monaten als Ausfallzeit rentensteigernd angerechnet zu erhalten. Darin müsse eine weitere Klagerücknahme gesehen werden. Der Kläger habe offenbar unter dem Eindruck der Gründe des Ersturteils in der Berufungsinstanz nicht mehr geltend machen wollen, die Zeit von 1920 bis 1923 sei als Ausfallzeit anzurechnen. Im übrigen hält die Beklagte die vom LSG vertretene materielle Rechtsauffassung für zutreffend.
II
Die Revision ist zulässig.
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die Klage nicht zurückgenommen worden. Zwar hat der Kläger während des Verfahrens in den Tatsacheninstanzen sein Klagebegehren abwechselnd auf verschiedene Sachverhalte gestützt. Der mit der Klage begehrte Ausspruch einer bestimmten Rechtsfolge, nämlich der zusätzlichen Berücksichtigung von 21 Monaten Ausfallzeit bei der Rentenberechnung, hat sich dadurch aber nicht geändert. Der wechselweise Sachvortrag konnte nicht zwei voneinander unabhängige prozessuale Ansprüche zur Folge haben, bezüglich deren eine teilweise Klagerücknahme zulässig gewesen wäre (vgl. BSG 21, 13, 16).
Aus den gleichen Gründen kann - entgegen der Annahme der Beklagten - eine "weitere Klagerücknahme" auch nicht darin gesehen werden, daß der Kläger die Berufung gegen das Urteil des SG nicht mehr auf die bis 1923 zurückgelegte Schulausbildung gestützt hat. Maßgeblich kann auch insoweit nur der im Berufungsverfahren gestellte Antrag des Klägers sein, mit welchem - ohne Einschränkung - die Anrechnung von noch weiteren 21 Monaten Schulausbildung als Ausfallzeit begehrt wird. Da die Berufung hier keinen abtrennbaren Teil eines Klageanspruchs betrifft, kommt schließlich auch kein teilweiser Berufungsverzicht gegenüber dem im SG-Urteil allein gewürdigten Zeitraum von Januar 1920 bis Juli 1923 in Betracht.
War daher das LSG an einer umfassenden sachlichen Entscheidung nicht gehindert, so erweist sich die hiergegen gerichtete Revision des Klägers auch als begründet.
Es kann offen bleiben, ob die Teilnahme des Klägers am Fernunterricht von 1926 bis 1930 eine Schulausbildung i.S. von § 36 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AVG gewesen ist. Auch wenn man mit den Ausführungen des LSG in dieser Hinsicht - ungeachtet der nunmehrigen gesetzlichen Anerkennung des Fernunterrichts als förderungsfähige berufliche Bildungsmaßnahme (vgl. § 34 des Arbeitsförderungsgesetzes vom 25.6.1969 und § 3 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes vom 26.8.1971; vgl. auch § 60 Abs. 4 des Berufsbildungsgesetzes vom 14.8.1969) - an der bisher gegenteiligen Beurteilung des erkennenden Senats (SozR Nr. 33 zu § 1267 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) im vorliegenden Fall festhält, ist dem Klagebegehren im Hinblick auf die Schulzeit des Klägers von 1920 bis 1923 zu entsprechen. In diesem Zeitraum besuchte der Kläger nach den Feststellungen des LSG ein Realgymnasium in Hagen und ein ordenseigenes Privatgymnasium in O. . Es bedarf keiner besonderen Darlegungen darüber, daß der Besuch dieser Schulen als Schulausbildung i.S. des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG anzusehen ist. Das LSG hat die Anrechenbarkeit dieses Zeitraumes im geltend gemachten Ausmaß von 21 Monaten als Ausfallzeit auch nur daran scheitern lassen, daß der Kläger nach dem (vorläufigen) Ende des Schulbesuchs im Juli 1923 nicht innerhalb von 5 Jahren eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen hat. Im Hinblick auf die von der Beklagten bereits als Ausfallzeit anerkannte (spätere) Schulausbildung von Januar 1931 bis März 1933 ist dies indes nicht erforderlich.
Die Berücksichtigung einer nach Vollendung des 16. Lebensjahres liegenden weiteren Schulausbildung als Ausfallzeit bis zur Höchstdauer von 4 Jahren setzt nach dem Wortlaut des § 36 Abs. 1 Nr. 4 b AVG lediglich voraus, daß "im Anschluß daran" oder nach Beendigung einer an die Schulausbildung anschließenden Ersatzzeit innerhalb von 5 Jahren eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen worden ist. Die Worte "im Anschluß daran" können dabei allein das Ende des letzten Zeitraums der Schulausbildung (Januar 1931 bis März 1933) betreffen, wovon auch die Beklagte bei der bisherigen Anrechnung der Ausfallzeit von 27 Monaten im Hinblick auf die erste Beitragsentrichtung im April 1934 ausgegangen ist. Das Gesetz gibt nichts dafür her, daß in den Fällen einer Unterbrechung der Schulausbildung die erste Periode der Ausbildung als Ausfallzeit unberücksichtigt bleibt, wenn die Unterbrechung mehr als 2 oder 5 Jahre dauerte. Die vom Gesetz für die Anerkennung der Ausfallzeit lediglich geforderte Voraussetzung, daß in gewissen Zeiten eine Schulausbildung stattgefunden hat, ist hier erfüllt. Rechnet man in diesem Fall - wie hier geschehen - die getrennte letzte Periode einer solchen Ausbildung an, dann muß sich mit ihrer Hilfe auch der Anschluß an eine vorausgehende Ausfallzeit wahren lassen (ebenso Koch/Hartmann, Kommentar zum AVG, Band IV, Teil V, Anm. B, V, 4 d zu § 36 AVG). Es ist dann nicht mehr zulässig, die gesamte Schulzeit in zwei Teile aufzuspalten und die Fünfjahresfrist auch vom Ende des ersten Teils der Schulausbildung an zu berechnen.
Sieht man demnach die Schulausbildung des Klägers trotz der mehrjährigen Unterbrechung als Einheit an, so geht auch der Hinweis fehl, daß nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) unter dem Wort "anschließend" in § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG (nur) ein Zeitraum bis zu 2 Jahren zu verstehen ist (vgl. SozR Nr. 5, 25, 27 und 28 zu § 1259 RVO). Diese Rechtsprechung besagt nur, daß jede weitere, von der früheren Ausbildung abweichende Ausbildung die Anschlußfrist ebenso wahrt wie die im Gesetz insoweit allein genannten Ersatzzeiten i.S. von § 28 AVG. Davon zu unterscheiden ist der Fall, daß die gleiche Art der Ausbildung - hier der Schulausbildung - mehrere Jahre unterbrochen worden ist (vgl. hierzu Koch/Hartmann aaO Anm. B V 4 c einerseits und Anm. B V 4 d andererseits - jeweils zu § 36 AVG). Für die Annahme, daß dann der erste Teil der Schulausbildung als Ausfallzeit nur angerechnet werden könne, wenn der zweite Teil der Schulausbildung sich innerhalb von 2 Jahren anschließt, bietet das Gesetz keine Stütze. Nach dem Sinn und Zweck des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG soll die durch Krankheit zeitlich verzögerte Reifeprüfung den einheitlichen Charakter der weiteren Schulausbildung auch nicht beseitigen, zumal das BSG im Rahmen der Waisenrentengewährung den durch Krankheit bedingten Unterbrechungszeitraum der Schul- oder Berufsschulausbildung i.S. von § 44 AVG bzw. § 1267 RVO zugerechnet hat (vgl. SozR Nr. 42 zu § 1267 RVO). Auch der 1. Senat des BSG hat sich im Urteil vom 15. Juli 1969 (SozR Nr. 24 zu § 1259 RVO) u.a. unter dem Gesichtspunkt einer durch schwere Erkrankung erzwungenen Ausbildungsverzögerung gegen eine enge Auslegung des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG ausgesprochen, mit dem Hinweis, daß durch die gesetzliche Begrenzung der Anrechnung auf eine Höchstdauer von 5 Jahren beim Hochschulstudium (bzw. von 4 Jahren bei der Schulausbildung) einer übermäßigen finanziellen Belastung der Versichertengemeinschaft ohnehin vorgebeugt wird.
Gegen eine einheitliche weitere Schulausbildung kann auch nicht angeführt werden, daß der Kläger nach dem Besuch des ordenseigenen Gymnasiums im Jahre 1923 zunächst Missionar werden wollte und erst im Jahre 1925 die Fortsetzung der Schulausbildung mit dem Ziel der Reifeprüfung anstrebte. Wenngleich somit die Krankheit nicht ursächlich für die vorläufige Beendigung des Schulbesuchs im Jahre 1923 war, so muß unter Beachtung der für den Ausbildungsfortgang des Klägers in den folgenden Jahren maßgeblichen Umstände doch eine bloße Unterbrechung der weiteren Schulausbildung im Jahre 1923 bejaht werden, zumal der Kläger ohne die Erkrankung den von der Beklagten als Ausfallzeit anerkannten zweiten Teil der Schulausbildung einige Jahre früher hätte abschließen können. Insoweit ist auch zu beachten, daß die Gymnasialausbildung bis zum Jahre 1923, mit welcher der Kläger in etwa den Ausbildungsgrad der sog. "mittleren Reife" erlangt hatte, sich rückblickend als Zwischenstation des gleichen Bildungsweges erweist, der dann später mit der Reifeprüfung abgeschlossen wurde. Die Schulausbildung auf den beiden Gymnasien bis Juli 1923 war sogar für das spätere Abitur unerläßlich. Eine derartige rückblickende Betrachtungsweise hat der erkennende Senat bei der Prüfung von Ausfallzeiten bereits im Urteil vom 30. Juni 1971 (12/11 RA 128/70) für zulässig und geboten angesehen. Dann kann man aber die beiden Abschnitte der Schulausbildung nicht - wie dies das LSG getan hat - unabhängig voneinander, sondern nur im Zusammenhang beurteilen.
Da somit die einheitliche Schulausbildung des Klägers einerseits erst im März 1933 beendet und im Anschluß daran die versicherungspflichtige Beschäftigung innerhalb von 5 Jahren aufgenommen worden ist, andererseits die gleiche Schulausbildung auch den Schulbesuch vom 31. Januar 1920 (Vollendung des 16. Lebensjahres) bis zum Juli 1923 umfaßt, sind aus diesem Zeitraum die bis zur Höchstdauer von 4 Jahren noch fehlenden 21 Monate Schulausbildung als Ausfallzeit nach § 36 Abs. 1 Nr. 4 b AVG anrechenbar. Dementsprechend war zu entscheiden (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen