Leitsatz (redaktionell)
AnVNG Art 2 § 50 Abs 1 kann nicht auf Fälle ausgedehnt werden, in denen die selbständige Erwerbstätigkeit bereits vor Beginn des 2. Weltkrieges aus wirtschaftlichen Gründen beendet worden ist.
Normenkette
AnVNG Art. 2 § 50 Abs. 1 Fassung: 1965-06-09; ArVNG Art. 2 § 52 Abs. 1 Fassung: 1965-06-09
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 17. September 1970 aufgehoben.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 13. März 1970 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Streitig ist, ob der Kläger als Vertriebener von dem Recht der Beitragsnachzahlung nach Art. 2 § 50 Abs. 1 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) Gebrauch machen kann.
Der 1898 geborene Kläger war in der Zeit von 1924 bis Oktober 1938 in Schlesien selbständig tätig, zuletzt als Handelsvertreter einer Firma, die Kraftfutter für Viehzucht und Viehmast herstellte. Von November 1938 an war er als Angestellter beim Finanzamt B, Bezirk B, beschäftigt. Nach seinem Zuzug in das Bundesgebiet im September 1945 nahm er im Juni 1947 wieder eine versicherungspflichtige Beschäftigung auf.
Der Kläger bezieht von der Beklagten seit Mai 1963 Altersruhegeld. Seinen Antrag auf Nachentrichtung von Beiträgen begründete er damit, er habe die selbständige Vertretertätigkeit im Herbst 1938 wegen der damaligen Devisenbestimmungen und Wirtschaftsverordnungen und der dadurch unmöglich gewordenen Produktion aufgeben und eine zunächst als kurzfristig gedachte Beschäftigung beim Finanzamt aufnehmen müssen. Wegen des bald danach ausgebrochenen Knies sei eine Rückkehr in den selbständigen Beruf nicht zu erreichen gewesen. Nach der Währungsreform 1948 habe er sich dann wieder als freier Handelsvertreter betätigt. Die Beklagte lehnte die Beitragsnachentrichtung ab, weil der Kläger nicht unmittelbar vor der Vertreibung eine selbständige Tätigkeit ausgeübt habe (Bescheid vom 20. August 1968, Widerspruchsbescheid vom 17. März 1969).
Die Klage hatte keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts vom 13. März 1970). Der Berufung des Klägers gab das Landessozialgericht (LSG) statt: Zwar habe die Tätigkeit des Klägers als selbständiger Handelsvertreter im Oktober 1938 nicht aus kriegsbedingten, sondern aus wirtschaftlichen Gründen geendet. Der Kläger habe seinen Beruf damals aber nicht endgültig aufgeben wollen und sei später aufgrund der Notdienstverordnungen zur Fortsetzung seiner Beschäftigung beim Finanzamt gezwungen gewesen. Diese zwangsweise Weiterbeschäftigung müsse einem etwaigen Kriegsdienst rechtlich gleichgesetzt werden. Damit sei der nach Art. 2 § 50 AnVNG erforderliche Kausalzusammenhang zwischen dem Existenzverlust und der Vertreibung gewahrt (Urteil vom 17. September 1970).
Die Beklagte hat die zugelassene Revision eingelegt, mit der sie eine fehlerhafte Anwendung des Art. 2 § 50 AnVNG durch das Berufungsgericht rügt.
Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten ist begründet.
Der Kläger hat kein Recht, Beiträge für die Zeit von Februar 1924 bis Oktober 1938 nach Art. 2 § 50 Abs. 1 Satz 2 AnVNG nachzuentrichten, weil er nicht im Sinne des Satzes 1 der Vorschrift vor seiner Vertreibung aus Schlesien als Selbständiger erwerbstätig gewesen ist.
Nach der genannten Vorschrift setzt die Berechtigung zur Beitragsnachentrichtung zwar nicht voraus, daß die selbständige Erwerbstätigkeit durch die Vertreibung selbst unterbrochen worden ist; vielmehr genügt es, wenn die selbständige Tätigkeit unmittelbar an einen Zeitraum heranreicht, in welchem diese aus kriegsbedingten Gründen bis zur Vertreibung nicht fortgesetzt werden konnte (vgl. Urteil des 4. Senats vom 9. Dezember 1965 in BSG 24, 146, 148 mit weiteren Nachweisen). Es muß also - wie der erkennende Senat im Urteil vom 30. Juni 1971 (Az.: 12/11 RA 80/70) bereits entschieden hat - zwischen dem Existenzverlust und der Vertreibung ein unmittelbarer Zusammenhang zumindest in dem Sinne bestehen, daß kriegsbedingte Gründe schon vor der Vertreibung zur Aufgabe der selbständigen Erwerbstätigkeit geführt haben.
Ein kriegsbedingter Verlust der selbständigen Erwerbstätigkeit ist indes im vorliegenden Fall auszuschließen. Die Revision weist zutreffend daraufhin, daß nach den für das Revisionsgericht gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG die selbständige Vertretertätigkeit des Klägers im Oktober 1938 allein aus wirtschaftlichen Gründen beendet worden ist. Es ist auch kein Anhalt dafür vorhanden, daß bereits die Aufnahme der abhängigen Beschäftigung beim Finanzamt in B. im November 1938 kriegsbedingt gewesen wäre. Der Kläger hat nicht vorgetragen, daß er von Anfang an zu den Dienstleistungen im Finanzamt - womöglich aufgrund der Bestimmungen der Notdienstverordnung vom 15. Oktober 1938 (RGBl I 1441), zu welcher im übrigen die 1. Durchführungsverordnung erst am 15. September 1939 (RGBl I 1775) erlassen wurde - gezwungen worden ist.
Bei diesem unstreitigen Sachverhalt - wirtschaftlich bedingte Aufgabe der Selbständigkeit und freiwillige Aufnahme der abhängigen Beschäftigung in Friedenszeiten - kann aber die vom LSG festgestellte spätere, zu Beginn des zweiten Weltkrieges zwangsweise Weiterbeschäftigung des Klägers als Finanzamtsangestellter den nach Art. 2 § 50 Abs. 1 AnVNG erforderlichen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Aufgabe der selbständigen Erwerbstätigkeit und der Vertreibung nicht herstellen. Diese Kausalität wäre allenfalls dann gewahrt, wenn der Kläger die selbständige Vertretertätigkeit im Oktober 1938 deswegen hätte beenden müssen, weil er bereits damals aufgrund staatlicher Zwangsmaßnahmen zu Dienstleistungen in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis herangezogen worden wäre. Gerade daran fehlt es. Dies hat das LSG verkannt. Dabei kann es nicht rechtserheblich sein, daß der Kläger nach seinen vom LSG als glaubwürdig angesehenen Angaben zur allein maßgeblichen Zeit der wirtschaftlich bedingten Aufgabe der selbständigen Erwerbstätigkeit im Oktober 1938 zunächst die Absicht gehabt hat, alsbald seinen alten Beruf als selbständiger Handelsvertreter wieder aufzunehmen. Diese nicht realisierte Absicht kann jedenfalls nicht als Bindeglied in der notwendigen Ursachenkette zwischen Aufgabe der selbständigen Erwerbstätigkeit und Vertreibung dienen.
Eine den vorliegenden Sachverhalt noch umfassende Auslegung des Art. 2 § 50 Abs. 1 Satz 1 AnVNG ist auch nach dem Sinn der Vorschrift nicht gerechtfertigt. Das Gesetz verfolgt den Zweck, diejenigen Personen zu schützen, die durch Vertreibung, Flucht oder Evakuierung ihre Selbständigkeit verloren haben. Deshalb hat der 4. Senat im Urteil vom 9. Dezember 1965 aaO es für die Berechtigung zur Beitragsnachentrichtung nach Art. 2 § 52 Abs. 1 Satz 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (= Art. 2 § 50 Abs. 1 Satz 2 AnVNG) für rechtsunerheblich angesehen, wenn zwischen der Aufgabe der selbständigen Erwerbstätigkeit und der Vertreibung ein Zeitraum lag, in welchem der Selbständige aus Gründen des Krieges seine bisherige Tätigkeit nicht fortsetzen konnte. Wie bereits im Urteil des erkennenden Senats vom 30. Juni 1971 aaO ausgeführt worden ist, kann das Gesetz aber darüber hinaus nicht auch noch auf Fälle ausgedehnt werden, in denen die selbständige Erwerbstätigkeit - wie hier - bereits vor Beginn des zweiten Weltkrieges aus wirtschaftlichen Gründen beendet worden ist. Da das Gesetz die Berechtigung zur Beitragsnachentrichtung auf die Tatbestände der Vertreibung, Flucht oder Evakuierung beschränkt, kann nicht angenommen werden, daß es insoweit ungewollt unvollständig geblieben ist. Es bleibt daher auch kein Raum dafür, dem Klagebegehren im Wege der analogen Anwendung des Art. 2 § 50 Abs. 1 AnVNG auf den vorliegenden Sachverhalt zu entsprechen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen