Entscheidungsstichwort (Thema)
Feststellung der Versicherungs- und Beitragspflicht durch Verwaltungsakt
Leitsatz (amtlich)
1. Eine personenunabhängige Feststellung der Versicherungspflicht (Beitragspflicht) durch eine Allgemeinverfügung, die sich lediglich auf bestimmte Tätigkeiten - hier: Hauptstellenleiter einer staatlichen Sport-Toto-GmbH bezieht, ist unzulässig (vergleiche BSG 1976-04-29 12/3 RK 66/75 = BSGE 41, 297, 299).
2. Der Mangel der personellen Bestimmtheit eines Verwaltungsaktes kann im gerichtlichen Verfahren nicht durch "Nachschieben von Gründen" oder eine Beiladung (SGG § 75 Abs 1 und 2) behoben werden.
Leitsatz (redaktionell)
Der Bescheid der Einzugsstelle über die Versicherungs- und Beitragspflicht kann nur dann als Verwaltungsakt iS des RVO § 1399 Abs 3 (AVG § 121 Abs 3) sowie des AFG § 182 Abs 1 gewertet werden, wenn er konkrete Angaben über die Versicherungs- und Beitragspflicht bestimmter Arbeitnehmer enthält.
Normenkette
AVG § 2 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23, § 121 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23, Abs. 4 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1227 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1399 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23, Abs. 4 Fassung: 1957-02-23; AFG § 168 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1969-06-25; AVAVG § 56 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1966-12-23; SGG § 75 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, Abs. 2 Fassung: 1953-09-03; AFG § 182 Abs. 1 Fassung: 1969-06-25
Verfahrensgang
Tenor
Die Revisionen der Beigeladenen zu 1) und 2) gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 26. November 1976 werden zurückgewiesen.
Die Beigeladenen zu 1) und 2) haben als Gesamtschuldner der Klägerin und den Beigeladenen zu 3) und 4) auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beigeladenen zu 3) und 4) als Hauptstellenleiter der Klägerin, der Staatlichen Sport-Toto GmbH in Stuttgart, in der Angestelltenversicherung (AnV) versicherungs- und in der Arbeitslosenversicherung (ArblV) beitragspflichtig sind.
Die Klägerin führt in Baden-Württemberg den Sport-Toto, das Zahlenlotto und ähnliche Wetten durch. Mit Stand von Ende 1970 waren 2615 Annahmestellen und 22 Hauptstellen vorhanden. Der Geschäftsverkehr zwischen der Klägerin und den Annahmestellen läuft über die Hauptstellen. Von 1968 bis Ende Mai 1971 waren die Rechtsbeziehungen zwischen der Klägerin und den Leitern der Hauptstellen in dem "Geschäftsauftrag für die Führung einer Hauptstelle" (GA) und einigen Zusatzvereinbarungen geregelt. Am 1. Juni 1971 wurde der Vertrag geändert und nunmehr als Geschäftsbesorgungsvertrag bezeichnet, die Bestimmungen des GA, soweit sie Weisungen der Gesellschaft an die Leiter der Hauptstellen enthielten, beseitigt und das Recht zur fristlosen Kündigung und zur Prüfung der Hauptstelle weniger ins einzelne gehend geregelt.
Der Beigeladene zu 3), Dr. B. (B.), leitet eine der drei Stuttgarter Hauptstellen mit 133 Annahmestellen (Stand: Ende 1970), der Beigeladene zu 4), K... (K.), eine weitere Stuttgarter Hauptstelle mit 115 Annahmestellen (Stand: Ende 1970). B. ist seit 1968 von der Versicherungspflicht in der AnV befreit. K., der gelernter Textilkaufmann ist, hat größere Textilvertretungen. K. beschäftigt seine Ehefrau als Geschäftsführerin. Diese unterschreibt bei Verhinderung des K. durch die Textilvertretungen die Abrechnungen der Hauptstelle.
Die beklagte Allgemeine Ortskrankenkasse Stuttgart, die am 1. August 1968 erklärt hatte, sie sehe die Hauptstellenleiter als selbständige Unternehmer an, stellte in ihrem an die Klägerin gerichteten Bescheid vom 11. Februar 1970 "die Versicherungspflicht der Hauptstellenleiter" ab 1. Januar 1970 fest, ohne die Hauptstellenleiter namentlich zu benennen und Ausnahmen von der Versicherungs- und Beitragspflicht zu berücksichtigen. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 15. Juni 1970). In der Begründung des Widerspruchsbescheids ist am Schluß festgestellt: "Damit ist in der Rentenversicherung der Angestellten und auf Grund des AFG bzw. bis 30.6.69 auf Grund des AVAVG auch Versicherungspflicht bzw. Beitragspflicht in der Arbeitslosenversicherung gegeben." Während des Klageverfahrens stellte die Beklagte auf Verlangen der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) - Beigeladene zu 1) - die Versicherungspflicht der Hauptstellenleiter ohne Personenangabe in der AnV ab 1. Januar 1968 durch Bescheid vom 14. Oktober 1970 fest. Sie fügte hinzu, dieser Bescheid werde nach § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des anhängigen Verfahrens vor dem Sozialgericht (SG) Stuttgart.
Das SG Stuttgart hat die Bescheide der Beklagten vom 27. Januar 1970 und vom 11. Februar 1970 sowie den Widerspruchsbescheid vom 15. Juni 1970 aufgehoben (Urteil vom 21. März 1972). Über den Bescheid der Beklagten vom 14. Oktober 1970 entschied das SG nicht. Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat die Berufungen der Bundesanstalt für Arbeit (BA) und der BfA zurückgewiesen und den Bescheid der Beklagten vom 14. Oktober 1970 aufgehoben. Es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 26. November 1976).
Gegen dieses Urteil haben die Beigeladenen zu 1) (BfA) und zu 2) (BA) Revision eingelegt. Sie rügen eine Verletzung des § 2 Abs 1 Nr 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG), der §§ 168 ff des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) und des § 56 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG).
Die Beigeladenen zu 1) und 2) beantragen,
die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin und die Beigeladenen zu 3) und 4) beantragen,
die Revisionen der Beigeladenen zu 1) und 2) zurückzuweisen.
Die Beklagte stellt keinen Antrag.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil nach § 124 Abs 2 SGG entscheidet.
II
Die Revisionen der Beigeladenen zu 1) - BfA - und zu 2) - BA - sind unbegründet. Sie sind zurückzuweisen.
Die Vordergerichte waren nicht berufen, in der Sache selbst zu entscheiden. Denn sowohl der Bescheid vom 11. Februar 1970 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. Juni 1970 als auch der Bescheid vom 14. Oktober 1970 sind schon deshalb aufzuheben, weil die Beklagte es unterlassen hat, die Versicherungs- und Beitragspflicht der Beigeladenen zu 3) und 4) im einzelnen festzustellen.
Die Beklagte hat diese Bescheide in ihrer Eigenschaft als Einzugsstelle erlassen (§ 121 Abs 3 AVG). Die Einzugsstelle entscheidet über die Versicherungspflicht, die Beitragspflicht und die Beitragshöhe, wenn sie auch an Erklärungen des Rentenversicherungsträgers - hier der BfA - zu Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung gebunden ist (§ 121 Abs 4 AVG). Die von der Einzugsstelle erlassenen Verwaltungsakte hat diese unbeschadet des Weisungsrechts nach § 121 Abs 4 AVG allein zu verantworten und im Streitfall als Partei zu vertreten (§ 121 Abs 3 zweiter Halbsatz AVG). In keinem Falle entsprechen die von der Beklagten erlassenen Verwaltungsakte dem Gesetz, das jeweils von ihr eine Entscheidung über die Versicherungspflicht, Beitragspflicht und Beitragshöhe für bestimmte Personen in der Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung für eine bestimmte Zeit verlangt. Die Bescheide der Beklagten lassen diese unabdingbare Bestimmtheit der für versicherungspflichtig erklärten Hauptstellenleiter der Klägerin vermissen. Im Bescheid vom 11. Februar 1970 wird lediglich unter Bezugnahme auf ein Schreiben vom 27. Januar 1970 "die Versicherungspflicht der Hauptstellenleiter der Staatlichen Sport-Toto GmbH Stuttgart ab 1. November 1970" festgestellt und die Klägerin aufgefordert, "die Beiträge" abzuführen. Jede Angabe zur Person der gemeinten Hauptstellenleiter fehlt. Der nachfolgende Widerspruchsbescheid vom 15. Juni 1970 benennt ebenfalls keine Personen, stellt aber erstmals "Versicherungspflicht in der Rentenversicherung der Angestellten und auf Grund des AFG bzw bis 30. Juni 69 auf Grund des AVAG auch Versicherungspflicht bzw Beitragspflicht in der Arbeitslosenversicherung" fest. Der zum Gegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens gewordene weitere Bescheid der Beklagten vom 14. Oktober 1970 (§ 96 Abs 1 SGG) stellt "die Versicherungs- und Beitragspflicht in der Rentenversicherung der Angestellten der Hauptstellenleiter ab 1.1.1968 fest", ohne die Versicherungspflichtigen der Person nach eindeutig zu bezeichnen. Die Beklagte hat lediglich überschlägig "die Hauptstellenleiter" der Klägerin für versicherungs- und beitragspflichtig in der Rentenversicherung der Angestellten und der ArblV erklärt, wobei hinsichtlich der ArblV mangels Zeitangabe im Widerspruchsbescheid unklar geblieben ist, für welche Zeit insoweit Beitragspflicht bestehen soll. Die Beklagte hat mit dieser Verfahrensweise verkannt, daß jedes die Versicherungspflicht auslösende Beschäftigungsverhältnis stets personenbezogen ist. Die Beklagte war als Einzugsstelle verpflichtet, vor Erlaß der Bescheide die Person der Hauptstellenleiter der Klägerin mit Hilfe der Klägerin zu ermitteln und sodann für jeden einzelnen Hauptstellenleiter die versicherungs- und beitragsrechtliche Prüfung vorzunehmen. Die unerläßliche Prüfung im Einzelfall mußte sich auf die Versicherungspflicht, Versicherungsfreiheit und Versicherungsbefreiung in der AnV sowie die Beitragspflicht und -freiheit in der ArblV erstrecken (vgl BSGE 41, 297, 299 = SozR 2200 § 1399 Nr 4). Eine personenungebundene, lediglich summarische Feststellung der Versicherungs- und Beitragspflicht, bezogen auf bestimmte Tätigkeiten, wie hier die der Hauptstellenleiter, ist den Einzugsstellen nicht erlaubt.
Die unterlassene personenbezogene Einzelprüfung zur Versicherungs- und Beitragspflicht mit Einschluß der jeweiligen Versicherungsfreiheit und Versicherungsbefreiung sowie Beitragsfreiheit kann nicht im sozialgerichtlichen Verfahren unter Hinweis auf zulässiges Nachschieben von Gründen nachgeholt werden. Das Nachschieben von Gründen ist nur zulässig, wenn von Anfang an der streitige Verwaltungsakt hinsichtlich der gemeinten Personen des Verwaltungsrechtsverhältnissen eindeutig ist, lediglich aber die Begründung des Verwaltungsakts ergänzungsbedürftig erscheint. Dabei müssen die nachgebrachten Gründe schon beim Erlaß des Bescheids vorhanden gewesen sein. Auch darf sich der Verwaltungsakt durch die nachgeschobenen Gründe nicht in seinem Wesen verändern und den Kläger nicht in seiner Rechtsverfolgung beeinträchtigen (vgl BSGE 27, 34, 38; 29, 129, 132 mit Nachweisen; BSGE 29, 217, 221). Ebensowenig kann der Mangel der personellen Bestimmtheit durch eine Beiladung im sozialgerichtlichen Verfahren nach § 75 Abs 2 SGG oder durch eine Übereinkunft der Beteiligten, die im Ergebnis den Prozeß den Charakter eines Musterprozesses geben soll, behoben werden. Vielmehr ist der festgestellte Mangel unbehebbar. Die Verwaltungsakte der Beklagten sind daher rechtswidrig. Sie sind auf die Aufhebungsklage der Klägerin hin aufzuheben, ohne daß zu prüfen und zu entscheiden ist, ob "die Hauptstellenleiter" der Klägerin abhängig Beschäftigte oder Selbständige waren und sind.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1650774 |
BSGE, 206 |