Orientierungssatz

Entscheidung über nichterhobenen Anspruch - keine Heilung der Verletzung des SGG § 123 in Revisionsinstanz:

Das Gericht ist nicht berechtigt, dem Kläger etwas zuzusprechen, was er nicht mit dem Klageantrag geltend gemacht hat (SGG § 123). Der von Amts wegen zu beachtende Verstoß gegen SGG § 123 iVm SGG § 153 kann nicht dadurch geheilt werden, daß der Kläger die Überschreitung seines Anliegens im Revisionsverfahren nicht rügt und somit konkludent seinen ursprünglichen Antrag ändert.

 

Normenkette

SGG § 123 Fassung: 1953-09-03, § 153 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 22.12.1977; Aktenzeichen L 2 V 159/76)

SG Itzehoe (Entscheidung vom 08.10.1976; Aktenzeichen S 5 V 119/75)

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 22. Dezember 1977 aufgehoben, soweit die Bescheide vom 20. Mai 1974 und vom 17. September 1975 und das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 8. Oktober 1976 geändert worden sind und soweit festgestellt worden ist, daß dem Kläger aufgrund des Bescheides vom 26. November 1951 weiterhin eine Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit im allgemeinen Erwerbsleben (§ 30 Abs 1 Bundesversorgungsgesetz) um 100 vH zu gewähren ist.

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 8. Oktober 1976 wird in vollem Umfang zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten im Revisionsverfahren nur noch um die Frage, ob die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) des Klägers von 100 vH vollständig auf das allgemeine Erwerbsleben bezogen ist oder ob in dieser MdE 10 vH wegen besonderen beruflichen Betroffenseins enthalten sind.

Durch Bescheid vom 26. November 1951 wurde dem Kläger Kriegsbeschädigtenrente nach einer MdE von 100 vH gewährt. Durch Neufeststellungsbescheid vom 4. September 1958 wurde eine Besserung der anerkannten Schädigungsfolgen festgestellt, die Schädigungsfolgen wurden neu bezeichnet und "unter Berücksichtigung des früheren Berufs als Ofensetzer und Fliesenleger weiterhin eine MdE von 100 vH gegeben".

Der Antrag des Klägers auf Schwerstbeschädigtenzulage wurde durch Bescheid vom 22. März 1962 mit der Begründung abgelehnt, die MdE betrage ohne Berücksichtigung seines Berufs 90 vH. In einem Bescheid vom 26. August 1963, den der Beklagte im Streit um die Höhe der MdE erließ, ist ausgeführt, in dem Bescheid vom 4. September 1958 sei bindend festgestellt, daß 10 vH der MdE auf die Berufsbeeinträchtigung entfalle.

Durch Bescheid vom 29. Juli 1965 wurde dem Kläger Berufsschadensausgleich bewilligt. In der Berechnung des Schadensausgleichs ist ausgeführt, daß auf den Einkommensverlust der durch Erhöhung der MdE nach § 30 Abs 2 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) von 90 vH auf 100 vH erzielte Mehrbetrag der Grundrente angerechnet werde.

Im Dezember 1971 und November 1972 beantragte der Kläger eine Neufeststellung seiner Versorgungsbezüge wegen des Hinzutretens neuer mittelbarer Schädigungsfolgen. Seine MdE betrage allein im allgemeinen Erwerbsleben 100 vH. Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit der Begründung ab, die zusätzlich geltend gemachten Leiden seien nicht auf Kriegseinwirkungen zurückzuführen (Bescheid vom 20. Mai 1974, Widerspruchsbescheid vom 17. September 1975).

Vor dem Sozialgericht (SG) hat der Kläger beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Bescheids das beklagte Land zu verpflichten, ihm ab 1. Dezember 1971 Grundrente nach einer MdE - bezogen auf das allgemeine Erwerbsleben - von 100 vH zu gewähren und dabei Veränderungen im rechten und linken Knie als weitere Schädigungsfolgen anzuerkennen.

Das SG ist davon ausgegangen, nach dem angefochtenen Bescheid vom 4. September 1958 stehe fest, daß 10 vH der MdE für eine besondere berufliche Beeinträchtigung gewährt worden seien. Eine Änderung sei nicht eingetreten, denn die Gehschäden, die der Kläger anführe, seien schädigungsunabhängig.

Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung hin unter Änderung der angefochtenen Bescheide ein Feststellungsurteil des Inhalts erlassen, "daß dem Kläger aufgrund des Bescheides vom 26. November 1951 weiterhin eine Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit im allgemeinen Erwerbsleben (§ 30 Abs 1 BVG) um 100 vH zu gewähren ist". Im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen. Das LSG hat in Übereinstimmung mit dem SG und dem Beklagten keine wesentliche Änderung angenommen. Trotzdem habe der Kläger zum Teil Erfolg. Denn der Bescheid vom 26. November 1951, in dem die MdE allein im Hinblick auf das allgemeine Erwerbsleben auf 100 vH angesetzt worden sei, sei insoweit durch nachfolgende Bescheide nicht wirksam geändert worden. Der Hinweis in dem Bescheid vom 4. September 1958 auf die berufliche Betroffenheit sei unklar. Er sei zu Lasten des Beklagten dahin auszulegen, daß an der MdE keine Änderung vorgenommen worden sei. Möglicherweise sei der Bescheid vom 4. September 1958 insoweit wegen Unklarheit und Unverständlichkeit nichtig. Einen Zugunstenbescheid nach § 40 des Verwaltungsverfahrensgesetzes der Kriegsopferversorgung brauche der Kläger nicht zu beantragen. Die späteren Bescheide hätten die MdE im allgemeinen Arbeitsleben nicht herabgesetzt. Diese Bescheide wiesen nur auf die - in Wirklichkeit nicht durchgeführte - Herabsetzung der MdE in dem Bescheid vom 4. September 1958 hin.

Mit der durch das LSG zugelassenen Revision wendet sich der Beklagte gegen die Meinung des LSG, der Bescheid vom 4. September 1958 sei unklar. Abgesehen davon könne nicht verlangt werden, daß dieser Bescheid genau aufschlüssele, inwieweit sich die MdE auf das allgemeine Arbeitsleben beziehe und inwieweit die MdE wegen beruflicher Betroffenheit gewährt worden sei. Denn damals sei die Höhe der Versorgungsbezüge allein von der Gesamt-MdE abhängig gewesen.

Er beantragt,

das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er ist der Auffassung, das angefochtene Urteil sei zutreffend.

Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil ist insoweit aufzuheben, als darin in Abänderung entgegenstehender Entscheidungen über eine Feststellungsklage entschieden worden ist. Da eine Feststellungsklage nicht, auch nicht sinngemäß, erhoben worden ist, verstößt das Urteil insoweit gegen § 123 Sozialgerichtsgesetz (SGG) iVm § 153 SGG.

Gegenstand des Verfahrens waren die Bescheide vom 20. Mai 1974 und vom 17. September 1975, durch die der auf § 62 BVG gestützte Antrag des Klägers auf Neufeststellung wegen neuer Schädigungsfolgen und der dadurch erhöhten MdE im allgemeinen Erwerbsleben abgelehnt worden ist. Die Klage - Aufhebungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes - hatte das Ziel, den Beklagten zu verpflichten, die neuen Schädigungsfolgen anzuerkennen und als Konsequenz dieser Anerkennung die MdE im allgemeinen Erwerbsleben um 10 vH heraufzusetzen.

Das LSG hat das diese Klage in vollem Umfang abweisende Urteil des SG bestätigt. Da der Kläger keine Revision eingelegt hat, ist die Klageabweisung rechtskräftig geworden.

Das LSG ist aber - ohne darüber Ausführungen zu machen - davon ausgegangen, daß der Kläger zusätzlich zu seiner Aufhebungs- und Verpflichtungsklage eine Feststellungsklage erhoben habe. Dazu war das LSG nicht befugt. Nach § 123 SGG iVm § 153 SGG hatte das LSG nur über die erhobenen Ansprüche zu entscheiden. Das gilt auch für den Umfang der Befugnis des Rechtsmittelgerichts, das angefochtene Urteil abzuändern (BSG in SozR Nr 3 zu § 123 SGG). Daß das Gericht hierbei nicht an die Fassung der Anträge gebunden ist, ändert nichts daran, daß - wie in § 308 Zivilprozeßordnung (ZPO) - nicht etwas zugesprochen werden darf, was nicht beantragt ist (vgl BSG in SozR Nr 15 zu § 123 SGG).

Der Kläger hat nicht den Anspruch erhoben, festzustellen, daß der begehrte MdE-Satz im allgemeinen Arbeitsleben ihm bereits durch eine bindende Verwaltungsentscheidung seit dem Jahre 1951 zusteht. Der Kläger hat vielmehr vor dem SG den Antrag gestellt: "Den Bescheid des Versorgungsamts Heide vom 20. Mai 1974 und den Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamts Schleswig-Holstein vom 17. September 1975 aufzuheben und das beklagte Land zu verpflichten, ihm ab 1. Dezember 1971 Grundrente nach einer MdE - bezogen auf das allgemeine Erwerbsleben - von 100 vH zu gewähren und dabei Veränderungen im rechten und linken Knie als weitere Schädigungsfolgen anzuerkennen". Diesen Antrag hat er, wie sich aus dem Tatbestand des angefochtenen Urteils ergibt, vor dem LSG sachlich nicht erweitert. Da auch sonst weder in den Akten des SG noch in denen des LSG ein Anhaltspunkt dafür zu finden ist, daß der Kläger darüber hinaus einen Feststellungsantrag gestellt hat oder auch nur stellen wollte, hat das LSG über einen nicht erhobenen Anspruch entschieden.

Der Verstoß gegen § 123 SGG ist von Amts wegen zu beachten. Denn das Verbot, über nicht erhobene Ansprüche zu entscheiden, ist nicht eine das Verfahren betreffende Vorschrift, deren Verletzung nach § 559 Abs 2 Satz 2 ZPO iVm § 202 SGG grundsätzlich nur auf Rüge hin geprüft werden könnte. § 123 SGG betrifft den Inhalt des Urteils und nicht das Verfahren, das zum Urteil führt (vgl BSG in SozR § 123 Nr 15 mwN).

Die Verletzung dieser Vorschrift ist auch nicht geheilt worden. Der Beteiligte, der durch eine gegen das Antragserfordernis verstoßende Entscheidung begünstigt ist, kann allerdings nach allgemeiner Meinung durch den Antrag auf Zurückweisung der Berufung den Mangel zur Heilung bringen (vgl die Kommentare zur ZPO: Wieczorek, 2. Aufl 1976, § 308 Anm D I b und c; Stein/Jonas/Schumann/Leipold, 19. Aufl 1972, § 308 Anm I, 1 c; Baumbach/Lauterbach, 35. Aufl 1977, § 308 Anm 1 D mit Hinweisen auch auf die höchstrichterliche Rechtsprechung).

Eine Heilung ist aber durch den Antrag des Begünstigten auf Zurückweisung der Revision nicht möglich (vgl BAG in Der Betrieb 1975, 892; aA Wieczorek, aaO. und Baumbach/Lauterbach, aaO). Die Heilung kommt nämlich einer Klageänderung gleich, die in der Revisionsinstanz unzulässig ist (§ 168 SGG). Die Tatsache, daß die Heilung auf den Zeitpunkt zurückwirkt, in dem die Gesetzesverletzung stattgefunden hat, ändert an dieser Betrachtungsweise nichts. Denn erst in der Revisionsinstanz könnte im Falle der Heilung der bisher nicht erhobene Anspruch als erhoben behandelt werden. Der Vorgang der Heilung, der der Klageänderung entspricht, würde in der Rechtsmittelinstanz durchgeführt werden.

Da das LSG somit über einen Anspruch entschieden hat, der nicht erhoben war und der auch nicht als erhoben behandelt werden kann, mußte das angefochtene Urteil insoweit aufgehoben werden. Zur Klarstellung ist ausgesprochen worden, daß das angefochtene Urteil des SG in vollem Umfange wieder herzustellen war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1646616

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