Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtmäßigkeit einer Rentenentziehung. Anhörung. Mitteilung wesentlicher Tatsachen. Verfahrensmangel. Verfahrensrüge
Orientierungssatz
1. Eine ordnungsgemäße Anhörung iS des § 24 SGB 10 erfordert die Mitteilung aller Tatsachen, die für die beabsichtigte Entscheidung des Versicherungsträgers erheblich sind. Dazu gehören für den Fall der Rentenentziehung auch die wesentlichen medizinischen Feststellungen. Eine Übersendung von Gutachtenabschriften ist aber grundsätzlich nicht erforderlich (vgl BSG vom 1981-11-04 2 RU 71/80 = SozR 1300 § 24 Nr 2 und BSG vom 1982-03-30 2 RU 73/81).
2. Eine im Klageverfahren nicht erhobene Rüge stellt noch keinen Verzicht dar. Ein prozessual beachtlicher Verzicht auf die Geltendmachung eines Verfahrensmangels bedarf regelmäßig einer ausdrücklichen Erklärung des Verzichtenden, die bloße Untätigkeit des Klägers erfüllt dieses Erfordernis nicht. Dies gilt umsomehr, als dem Kläger keine Rechtspflicht zur Rüge oblag. Die von ihm im Klageverfahren zu beachtenden Erfordernisse sind abschließend in § 92 SGG aufgezählt. Hiernach "soll" der Kläger nur die "zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben"; Verfahrensrügen sind jedoch weder Tatsachen noch Beweismittel.
Normenkette
SGB 10 § 24 Abs 1 Fassung: 1980-08-18; SGG § 92
Verfahrensgang
SG Reutlingen (Entscheidung vom 29.04.1982; Aktenzeichen S 12 J 426/82) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit einer Rentenentziehung.
Der Kläger bezieht von der Beklagten Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit seit August 1975 ua wegen einer Fettleberzirrhose. Ärztliche Nachuntersuchungen fanden in den Jahren 1977, 1979 und 1981 statt. Aufgrund der letzten Nachuntersuchung teilte die Beklagte dem Kläger durch Schreiben vom 2. Februar 1982 mit, die Feststellungen im Rentenkontrollverfahren hätten ergeben, daß in seinem Gesundheitszustand eine Änderung eingetreten sei, derzufolge das Bestehen von Erwerbsunfähigkeit jetzt verneint werden müsse. Der Kläger werde ärztlicherseits wieder für fähig gehalten, körperlich leichte Arbeiten vollschichtig und regelmäßig zu verrichten. Es sei daher beabsichtigt, die Erwerbsunfähigkeitsrente zum nächstmöglichen Termin zu entziehen. Dem Kläger wurde Gelegenheit gegeben, sich bis 22. Februar 1982 hierzu zu äußern.
Der Bevollmächtigte des Klägers teilte der Beklagten daraufhin mit Schreiben vom 8. Februar 1982 mit, der Kläger sei auch nach Auffassung seines Hausarztes nicht in der Lage, vollschichtig und regelmäßig körperlich leichte Arbeiten zu verrichten. Gleichzeitig bat er die Beklagte darum, ihm die maßgebenden ärztlichen Gutachten zur Kenntnis zu geben. Durch Bescheid vom 1. März 1982 entzog die Beklagte die Erwerbsunfähigkeitsrente mit Ablauf des Monats April 1982.
Das Sozialgericht (SG) hat der Klage gegen den Entziehungsbescheid stattgegeben (Urteil vom 29. April 1982) mit der Begründung, der Kläger sei nicht nach § 24 Abs 1 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) wirksam angehört worden. Ihm seien nicht alle entscheidungserheblichen Tatsachen mitgeteilt worden und er habe keine Gelegenheit gehabt, die ärztlichen Gutachten einzusehen.
Mit der vom SG zugelassenen Sprungrevision wendet sich die Beklagte gegen die Rechtsauffassung des SG. Sie trägt vor, nach den Umständen des Einzelfalles sei der Kläger im Anhörungsverfahren ausreichend unterrichtet worden, zumal er anwaltlich vertreten gewesen sei. Insbesondere sei sie nicht zur Gewährung von Akteneinsicht verpflichtet gewesen. Schließlich habe sich der Kläger im Verfahren auch nicht auf die Verletzung des rechtlichen Gehörs berufen und damit schlüssig auf diese Rüge verzichtet.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 29. April 1982 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Reutlingen zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt, Die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und sieht eine Verletzung des rechtlichen Gehörs durch die Beklagte darin, daß ihm eine kritische Überprüfung der beabsichtigten Verwaltungsentscheidung im Anhörungsverfahren nicht möglich gewesen sei.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet.
Mit Recht hat das SG den angefochtenen Entziehungsbescheid aufgehoben. Das diesem Bescheid vorausgegangene Verwaltungsverfahren leidet an einem wesentlichen Mangel; die nach § 24 SGB X erforderliche Anhörung des Klägers ist nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden. Dieser Verfahrensmangel ist nicht nach § 41 Abs 1 Nr 3 iVm Abs 2 SGB X geheilt worden.
Durch den Entziehungsbescheid hat die Beklagte in die Rechte des Klägers (seinen Rentenanspruch) eingegriffen. Nach § 24 Abs 1 SGB X war sie deshalb verpflichtet, dem Kläger Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Ein Ausnahmefall iS des § 24 Abs 2 SGB X, der zu einem Absehen von der Anhörung hätte führen können, lag hier nicht vor. Die Beklagte ist ihrer gesetzlichen Verpflichtung insofern nicht nachgekommen, als sie dem Kläger die für die Entziehung erheblichen Tatsachen nicht vollständig bekanntgegeben hat. Das hatte zur Folge, daß sich der Kläger hierzu nicht äußern konnte.
Die Beklagte hat dem Kläger mitgeteilt, daß sie ihn wieder für fähig halte, körperlich leichte Arbeiten vollschichtig und regelmäßig zu verrichten. Durch diese Angaben gibt die Beklagte dem Kläger jedoch lediglich bekannt, wie sie - aufgrund ärztlicher Beurteilung - die Leistungsfähigkeit des Klägers einschätzt. Hingegen hat die Beklagte die Tatsachen, auf denen diese ärztliche Beurteilung beruht, nicht mitgeteilt, obgleich es sich dabei um wesentliche Tatsachen handelt. Denn erst deren Kenntnis hätte den Kläger in die Lage versetzt, zu überprüfen, in welchen Bereichen sich sein Gesundheitszustand gegenüber der Rentengewährung nach Ansicht der Beklagten gebessert haben sollte. Ohne diese Kenntnis war der Kläger nicht in der Lage, sich zu diesen Tatsachen zu äußern und ggf sachgerechte Einwendungen dagegen zu erheben.
Zu den für die Entscheidung über die Rentenentziehung erheblichen Tatsachen gehört die Angabe der Änderungen des Gesundheitszustandes, die gegenüber der Rentengewährung eingetreten sind. Insoweit reicht es jedoch aus, wenn dem Kläger der wesentliche Inhalt mitgeteilt wird, eine Übersendung von Gutachtensabschriften ist nicht grundsätzlich erforderlich (vgl BSG Urteil vom 4. November 1981 - 2 RU 71/80 - = SozR 1300 § 24 Nr 2; Urteil vom 30. März 1982 - 2 RU 73/81 -). Nach § 48 Abs 1 SGB X kann die Rente entzogen werden, wenn in den tatsächlichen Verhältnissen, die bei der Rentengewährung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Zu den der Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente zugrundeliegenden tatsächlichen Verhältnisse gehören die die Erwerbsminderung des Versicherten bedingenden Krankheiten oder Gebrechen. Diese werden ärztlich festgestellt und liegen der (ärztlichen) Beurteilung der Erwerbsminderung bzw der noch verbliebenen Erwerbsfähigkeit des Versicherten zugrunde. Erblickt der die Rente gewährende Versicherungsträger eine die Rentenentziehung rechtfertigende Änderung der Verhältnisse in der Besserung des Gesundheitszustandes des Versicherten, so bilden die Krankheiten oder Gebrechen wiederum die Grundlage für die ärztliche Beurteilung der nunmehr angenommenen Erwerbsminderung. Diese Beurteilungsgrundlage ist dann eine wesentliche Tatsache, die für die Entscheidung über die Rentenentziehung maßgeblich ist. Hierzu muß sich der Versicherte äußern können, um das zu ermöglichen muß ihm jedoch diese Tatsache bekanntgegeben werden. Das der Rentenentziehung zugrundeliegende ärztliche Gutachten enthält nicht nur die Beurteilung der Leistungsfähigkeit, die dem Kläger mitgeteilt wurde, sondern auch die Feststellung, daß ua ein Fettleberschaden nicht mehr vorliegt. Hierbei handelt es sich um eine Tatsache, die für die Beurteilung des Leistungsvermögens des Klägers und seinen Rentenanspruch wesentlich ist. Sie hätte deshalb dem Kläger mitgeteilt werden müssen. Dies ist hier nicht geschehen. Eine im Einzelfall trotz Aufforderung unterbliebene Mitteilung der entscheidungserheblichen Tatsachen steht im Ergebnis der unterlassenen Anhörung gleich.
Der wesentliche Mangel des Anhörungsverfahrens ist auch in der Folgezeit nicht geheilt worden. Dem Kläger sind bis zur Klageerhebung - ein Vorverfahren hat nicht stattgefunden - die erforderlichen Tatsachen nicht mehr mitgeteilt worden (§ 41 Abs 2 SGB X). Ihm wurde auch keine Gelegenheit zur Akteneinsicht gegeben (§ 25 SGB X), denn sein hierauf gerichtetes Schreiben vom 8. Februar 1982 hat die Beklagte nicht beantwortet.
Schließlich kann sich die Beklagte auch nicht darauf berufen, daß der Kläger den Verfahrensmangel im Klageverfahren nicht gerügt und hierdurch auf diese Rüge wirksam verzichtet habe. Eine im Klageverfahren nicht erhobene Rüge stellt noch keinen Verzicht dar. Ein prozessual beachtlicher Verzicht auf die Geltendmachung eines Verfahrensmangels bedarf regelmäßig einer ausdrücklichen Erklärung des Verzichtenden, die bloße Untätigkeit des Klägers erfüllt dieses Erfordernis nicht. Dies gilt umsomehr, als dem Kläger keine Rechtspflicht zur Rüge oblag. Die von ihm im Klageverfahren zu beachtenden Erfordernisse sind abschließend in § 92 SGG aufgezählt. Hiernach "soll" der Kläger nur die "zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben"; Verfahrensrügen sind jedoch weder Tatsachen noch Beweismittel. Nach alldem war die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen