Leitsatz (amtlich)

Wurde die MdE während der letzten 10 Jahre wegen Verschlechterung erhöht, so darf sie nach Vollendung des 55. Lebensjahres wegen Besserung des Gesundheitszustandes unterhalb desjenigen Grades herabgesetzt werden, der bei Veränderungen in den letzten 10 Jahren niemals unterschritten worden war.

 

Leitsatz (redaktionell)

"Unverändert":* 1. Für das gesetzliche Tatbestandsmerkmal des "unverändert Gebliebenen" ist es gleichgültig, ob die Erwerbseinbuße in der fraglichen Zeit geschwankt hatte oder ob sie nur angestiegen oder ob sie bloß gefallen war. Von dem in BVG § 62 Abs 1 verwendeten Begriff der "Veränderung", die eine Neufeststellung gebietet, wird jede dieser Möglichkeiten erfaßt. Sie darf in gar keiner Richtung eingetreten sein, wenn BVG § 62 Abs 3 S 1 anwendbar sein soll.

 

Normenkette

BVG § 62 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1966-12-28, Abs. 3 S. 1 Fassung: 1966-12-28

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 13. November 1975 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin vollendete im August 1971 das 55. Lebensjahr. Sie bezog ursprünglich wegen einer doppelseitigen Lungentuberkulose Rente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) bei zwischen 30 v.H. und 80 v.H. schwankender Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE). Mit Bescheid vom 6. April 1959 war ihrer Rente eine MdE um 60 v.H. zugrunde gelegt worden. Auf einen Verschlimmerungsantrag vom Jahre 1968 war die Leistung auf eine solche nach einer MdE von 70 v.H. erhöht worden. Anläßlich einer im April 1973 durchgeführten Nachuntersuchung wurde eine wesentliche Besserung in den anerkannten Schädigungsfolgen festgestellt und die Rente mit Bescheid vom 22. August 1973 ab 1. Oktober 1973 entsprechend einer MdE von 40 v.H. gezahlt. Widerspruch, Klage und Berufung blieben auch nach Einholung weiterer ärztlicher Gutachten ohne Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) führte aus: zwar habe die Klägerin seit Juni 1959 stets mindestens Rente nach einer MdE um 60 v.H. bezogen, jedoch nicht 10 Jahre in gleichbleibender Höhe. Entscheidend sei daher, ob jede wegen Änderung der gesundheitlichen Verhältnisse erfolgte Neufeststellung der MdE als zu beachtende "Veränderung" aufzufassen sei. Die Entstehungsgeschichte des § 62 Abs. 3 BVG bestätige, was der Wortlaut besage, nämlich eine uneingeschränkte Neufeststellung nach § 62 Abs. 1 BVG innerhalb der Zehnjahresfrist.

Mit der zugelassenen Revision wendet sich die Klägerin gegen die Auslegung des § 62 Abs. 3 BVG durch das LSG. Sie sei seit 1956 ununterbrochen Schwerbeschädigte mit einer MdE um 80 v.H. - 60 v.H. - und 70 v.H. gewesen. Der damit erlangte Besitzstand einer MdE von mindestens 60 v.H. könne nicht wegen einer zeitweiligen Verschlimmerung der Schädigungsfolge gemindert werden, sondern müsse im Hinblick auf den Gesetzeszweck erhalten bleiben. Abzustellen sei für die Anwendung des "unverändert Gebliebenen" auf die Fälle von Rentenherabsetzungen in den letzten 10 Jahren, nicht aber auf Fälle der Rentenerhöhung, bei denen ein bestimmter Rentenansatz nicht unterschritten worden sei. Folge man dieser Auffassung, bestehe kein Anlaß, die MdE unter 70 v.H., zumindest aber nicht unter 60 v.H. festzustellen.

Die Klägerin beantragt,

die Urteile des Sozialgerichts Kiel vom 5. August 1974 und des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 13. November 1975 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin mit einem neuen Bescheid über den 30. September 1973 hinausgehende Versorgungsbezüge nach dem BVG nach einer MdE um 60 v.H. zu gewähren,

hilfsweise,

das angefochtene LSG-Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision der Klägerin vom 12. Januar 1976 gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 13. November 1975 zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist unbegründet.

Die Versorgungsbehörde war, wie das LSG zutreffend erkannt hat, durch § 62 Abs. 3 Satz 1 BVG nicht gehindert, aus einer wesentlichen Besserung im Lungenleiden der Klägerin die rechtliche Folgerung zu ziehen; sie durfte vom 1. Oktober 1973 an die Versorgungsrente, die vorher - abgestellt auf eine MdE von 70 v.H. - gewährt worden war, wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse auf eine Höhe entsprechend einer MdE von 40 v.H. herabsetzen. Die Klägerin vermag nicht mit dem Verlangen durchzudringen, es sei in ihrem Falle auch fernerhin davon auszugehen, daß ihre Erwerbsfähigkeit um mindestens 60 v.H. eingeschränkt sei. Dafür ist weder erheblich, daß die Klägerin das 55. Lebensjahr überschritten hat, noch daß ihre Erwerbsbehinderung in dem letzten Jahrzehnt vor Erreichen dieses Lebensalters niemals unter 60 v.H. absank. Zwar verbietet es § 62 Abs. 3 Satz 1 BVG, daß die MdE wegen Besserung des Gesundheitszustandes niedriger festgesetzt wird, wenn sie in den letzten 10 Jahren seit Feststellung nach diesem Gesetz "unverändert" geblieben ist. Bei der Klägerin mußte jedoch innerhalb der Zehnjahresspanne das Maß ihrer körperlichen Beeinträchtigung im Erwerbsleben von 60 auf 70 v.H. heraufgesetzt werden. Das Kriterium, auf welches das Gesetz abhebt, war also nicht gleich geblieben. Daß der Wechsel im Sachverhalt in ansteigender Richtung verlief, oder anders ausgedrückt: daß die körperliche Leistungsbehinderung der Klägerin zeitweilig noch unter 60 v.H. abfiel, gestattet keine besondere Beurteilung. Für das gesetzliche Tatbestandsmerkmal des "unverändert Gebliebenen" ist es gleichgültig, ob die Erwerbseinbuße in der fraglichen Zeit geschwankt hatte oder ob sie nur angestiegen oder ob sie bloß gefallen war. Von dem in § 62 Abs. 1 BVG verwendeten Begriff der "Veränderung", die eine Neufeststellung gebietet, wird jede dieser Möglichkeiten erfaßt. Sie darf in gar keiner Richtung eingetreten sein, wenn Abs. 3 Satz 1 anwendbar sein soll.

Diese aus dem Wortlaut folgende Auslegung wird durch die Art der geltenden Regelung als dem Ende einer längeren Entwicklung bestätigt. Der gesetzliche Tatbestand ist bemerkenswert allgemein und abstrakt gehalten. Was damit gemeint ist, wird durch einen Vergleich der gegenwärtig geltenden Gesetzesfassung mit der ursprünglich getroffenen Regelung verdeutlicht. Diese war in der Verwaltungsvorschrift - Fassung vom 9. August 1956, Beilage zum Bundesanzeiger Nr. 157 vom 15. August 1956 - Nr. 6 zu § 62 BVG enthalten. Anfänglich wurde nicht, wie heute, auf den Grad der Erwerbsbehinderung abgestellt, sondern auf den "Befund" und darauf, daß mit einem Wandel der Schädigungsfolgen "nach ihrer Art und dem bisherigen Verlauf nicht mehr zu rechnen" war. Hierfür wurden ua zusätzlich als Beispiele der glatte Verlust von Gliedmaßen, der Verlust der Augen und die meisten Fälle der Hirn- und Rückenmarkverletzungen aufgezählt. Von dieser anschaulichen, die empirische Einzelbeobachtung vorschreibenden Sachbehandlung ist der Gesetzgeber allmählich und immer mehr abgerückt. Er hat ungeachtet der Entwicklung, die ein Gebrechen oder eine Krankheit beim einzelnen tatsächlich genommen hat, schlicht auf einen unveränderten Zustand während eines Zeitraumes von 10 Jahren und auf das Erreichen eines bestimmten Lebensalters abgestellt. Zunächst bezeichnete er als einen der beiden Indikatoren die Vollendung des 60., dann die des 55. Lebensjahres (1. Neuordnungsgesetz vom 27. Juni 1960 - BGBl I 453 -; 3. Neuordnungsgesetz vom 28. Dezember 1966 - BGBl I 750 -). Ferner gab er das Erfordernis eines eingehenden ärztlichen Gutachtens, von dem vorher die Rede gewesen war, auf (so die Fassung des Gesetzes nach dem 1. NOG). Besonders markant ist jedoch, daß er als Tatbestandselemente nicht mehr den Befund und die aus dem Krankheitsbild abgeleitete Prognose gelten ließ, sondern statt dessen an eine Bewertung anknüpfte, nämlich daran, wie sich eine Gesundheitsstörung im allgemeinen Erwerbsleben auswirkt und ob eine bestimmte MdE sich in 10 Jahren beständig auf einer Höhe gehalten hat. Der generalisierende Grundzug des Gesetzes ist unverkennbar. Diese Schematisierung widerstreitet weitgehend einem Eingehen auf die unmittelbar greifbaren Fallgegebenheiten. Deshalb erfordert das Merkmal "unverändert" in § 62 Abs. 3 Satz 1 BVG schlechthin die Beachtung jeden Wechsels in der MdE während der letzten Dekade.

Diese Auslegung folgt der Absicht, die das Gesetz mit der genannten Vorschrift verfolgt. Der Gesetzgeber hat sich von drei inhaltlich miteinander verwobenen Erwägungen leiten lassen. Ältere Kriegsbeschädigte sollen, soweit dies vermeidbar ist, vor der Belästigung und Beunruhigung durch Nachuntersuchungen bewahrt bleiben. Sofern dadurch eine Rentenminderung oder eine Rentenentziehung vermieden wird, erscheint dies - zweitens - vertretbar; der für Nachuntersuchungen benötigte Verwaltungsaufwand stehe - so verlautete es während der parlamentarischen Beratungen - in keinem Verhältnis zu den durch eventuelle Ausgabenersparnis eintretenden Minderaufwendungen. Es wurde bewußt eine Vereinfachung der Gesetzesanwendung angestrebt. Die Gesetzesgestaltung ist - drittens - gerechtfertigt: Bei einem höheren Lebensalter des Beschädigten und bei einer Erwerbsbehinderung in einem 10 Jahre hindurch konstant festen Umfang besteht ausreichende Gewähr dafür, daß der Leistungsbetrag objektiv der wirklichen Sachlage entspricht und erhebliche Änderungen nicht mehr zu erwarten sind (Bericht des Bundestagsausschusses für Kriegsopfer - und Versorgungsschäden, zu BT-Drucks. V/1216, zu Nr. 51 (§ 62), hier: zu Buchstabe c S. 10; vgl. auch BSG 19, 204, 206). Gerade das zuletzt erwähnte gesetzgeberische Motiv vermittelt die Erkenntnis, daß es nicht eigentlich um die Sicherung eines Rentenminimums geht. Vielmehr ist es dem Gesetzgeber darum zu tun, die Lehre aus der Erfahrung zu ziehen, daß ein Leidenszustand, der lange unverändert an- und fortdauerte, im höheren Lebensalter den Charakter der Endgültigkeit angenommen hat. Indem der Gesetzgeber zugleich auf eine ins Detail gehende Kasuistik verzichtete und es erlaubte, daß die Tatbestandserfüllung am Grad der MdE abgelesen wird, schuf er eine Norm, die einer unwiderleglichen Vermutung gleichkommt.

Bei dieser Rechtslage ist kein Raum für die von der Revision angestellte Überlegung, daß nach Vollendung des 55. Lebensjahres die Versorgungsrente an dem Maß der MdE gemessen werden müsse, das während der vorangegangenen zehn Jahre nicht unterschritten wurde. Eine solche von der Revision vertretene Rentenbesitzstandsgarantie ist in § 62 Abs. 3 Satz 1 BVG nicht ausgesprochen.

Hiernach erweist sich das Berufungsurteil als richtig.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649249

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