Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente. bisheriger Beruf. Verweisungsberuf
Orientierungssatz
Einen Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente hat nicht, wer seinen erlernten Tischlerberuf nur für kurze Zeit ausgeübt hat und aufgrund seiner gesundheitlichen Verhältnisse und Kräfte diesen Beruf nur auf Kosten seiner Gesundheit ausüben konnte und als dessen bisheriger Beruf im Sinne von § 1246 RVO daher eine jahrelang ausgeübte Tätigkeit als ungelernter Arbeiter anzusehen ist. In einem solchen Fall muß sich der Rentenantragsteller auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes für ungelernte Arbeiter verweisen lassen, einschließlich solcher, die üblicherweise Schwerstbeschädigten vorbehalten zu sein pflegen.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 24.09.1969) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 24. September 1969 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit zusteht.
Der im Mai 1922 geborene Kläger hat von April 1936 bis Mai 1938 bei einem Tischlermeister in D und von September 1940 bis September 1941 im S.t in H das Tischlerhandwerk erlernt. Am 1. Oktober 1941 bestand er die Gesellenprüfung. Anschließend wurde er zum Wehrdienst einberufen. Im Jahre 1944 erlitt er eine Beinverletzung, die zur Amputation des linken Beines im Oberschenkel führte. Er erhält deswegen eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 vom Hundert.
Nach der Entlassung aus dem Wehrdienst war der Kläger zunächst arbeitslos. Vom Oktober 1948 bis 29. August 1949 war er vorübergehend als Tischler tätig. Nach erneuter Arbeitslosigkeit war er sodann von Mai 1952 bis April 1966 bei der Deutschen G AG als Schichtführer, Kannenfüller und Kauenwärter beschäftigt. In den Jahren 1965 und 1966 war er wegen Ekzembildung am Stumpf häufig krank und arbeitsunfähig. Ab 13. September 1966 wurde eine Stumpfkorrektur durchgeführt. Im Februar 1967 kündigte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis, das mit Ablauf des Monats März 1967 beendet wurde. Seitdem hat der Kläger nicht mehr gearbeitet.
Im Oktober 1966 hatte der Kläger die Gewährung von Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit beantragt. Die Beklagte lehnte seinen Antrag mit Bescheid vom 30. Dezember 1966 ab. Auf die hiergegen erhobene Klage verurteilte das Sozialgericht (SG) Lüneburg die Beklagte unter Aufhebung ihres angefochtenen Bescheides zur Zahlung von Rente wegen Berufsunfähigkeit ab 1. Oktober 1966. Es war der Auffassung, der Kläger sei berufsunfähig, da er als Beinamputierter für den Tischlerberuf nicht mehr geeignet sei und eine Verweisung auf andere Berufe nicht möglich sei. Von dem erlernten Tischlerberuf sei bei der Beurteilung auszugehen, da dem Kläger nicht nachteilig angerechnet werden könne, daß er unmittelbar nach der Gesellenprüfung habe Soldat werden müssen.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen durch Urteil vom 24. September 1969 das Urteil des SG Lüneburg vom 8. Mai 1967 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat aufgrund der eingeholten ärztlichen Gutachten als erwiesen angesehen, daß der Kläger im wesentlichen an einem Zustand nach Verlust des linken Beines im Oberschenkel mit Narben und Stumpfekzem, an einer Wirbelsäulenveränderung mit geringfügiger Behinderung und an einer beginnenden Arthrosis deformans des rechten Kniegelenks leide, ferner an einem erheblichen Übergewicht und an Bluthochdruck. Er könne deshalb mit Prothese nur noch leichte bis mittelschwere Arbeiten bis fünf Stunden täglich und ohne Prothese nur Arbeiten vorwiegend im Sitzen für acht Stunden täglich verrichten.
Damit sei der Kläger noch nicht berufsunfähig, so hat das LSG weiter ausgeführt. Er könne zwar nicht mehr als Tischler, aber z. B. noch ganztägig als Materialprüfer, Telefonist, Maschinen- oder Automatenarbeiter einfacher Art, Karteiführer, Arbeiter im Postein- und -ausgang größerer Betriebe usw. tätig sein. Entsprechende Arbeitsmöglichkeiten seien auch vorhanden; auf sie müsse er sich verweisen lassen, da nicht von seinem erlernten Beruf als Tischler ausgegangen werden könne. Wie das Bundessozialgericht (BSG) mehrfach entschieden habe, komme als bisheriger Beruf im Sinne des § 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nur eine Berufstätigkeit in Betracht, die versicherungspflichtig gewesen sei und für die auch Beiträge entrichtet worden seien. Vor seiner Verwundung seien für den Kläger keine Beiträge zur Rentenversicherung abgeführt worden. Sein Lehrverhältnis sei mangels Zahlung von Entgelt nicht versicherungspflichtig gewesen.
Das LSG hat in seinem Urteil die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassen. Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt mit dem Antrage,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Lüneburg vom 8. Mai 1967 zurückzuweisen.
Die Revision rügt zunächst Verletzung der §§ 103, 106, 128 SGG. Das LSG hätte die Quittungskarten des Klägers beiziehen müssen. Wäre das geschehen, so wäre festgestellt worden, daß für ihn die erste Quittungskarte am 2. Mai 1938 ausgestellt worden sei und daß sie drei Wochenbeiträge der Klasse II enthalte, die am 8. Mai, 15. Mai und 22. Mai 1938 entwertet worden seien. Daraus ergebe sich, daß der Kläger nach Beendigung des zweiten Lehrjahres ein Entgelt erhalten habe mit der Folge, daß er auch versicherungspflichtig in der Rentenversicherung gewesen sei. Damit sei er nach der Rechtsprechung des BSG berufsunfähig, weil nunmehr für die Beurteilung der Tischlerberuf zugrunde zu legen sei. In diesem könne der Kläger zweifellos nicht mehr arbeiten. Auf andere ungelernte Tätigkeiten brauche er sich nicht verweisen zu lassen. Somit stehe ihm die begehrte Rente vom Monat der Antragstellung an zu.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Das angefochtene Urteil sei im Ergebnis richtig. Die jetzt nachgewiesene Beitragsleistung sei nicht geeignet, für den Kläger den Berufsschutz als Tischler zu begründen. Die Beiträge seien noch vor Abschluß der Lehre und darüber hinaus auch noch vor Sammlung der erforderlichen Berufserfahrung entrichtet. Allerdings sei der Kläger nunmehr bei Beginn seines Kriegsdienstes bereits Versicherter gewesen. Weiter sei er durch den Verlust des linken Oberschenkels zunächst invalide geworden. Diese Invalidität habe aber nicht ununterbrochen bestanden. Dies sei im übrigen jetzt auch von untergeordneter Bedeutung, weil es allein darum gehe, ob seit Oktober 1966 ein Anspruch auf Rente bestehe. Die jahrelange Beschäftigung des Klägers nach seiner Verwundung bei der Deutschen G AG zeige, daß die ursprünglich vorhanden gewesene Invalidität sicher nicht über April 1952 hinaus bestanden habe. Ob der Kläger bei seiner zehn Monate andauernden Beschäftigung als Tischler im Jahre 1948 invalide gewesen sei, könne dahingestellt bleiben. Die Beiträge seien auf jeden Fall anzurechnen; im übrigen sei die damals gezeigte Arbeitsleistung so gering gewesen, daß man von einer Sammlung von Berufserfahrungen ebensowenig sprechen könne wie von einer versicherungspflichtigen, den Berufsschutz begründenden Beschäftigung in einem erlernten Beruf.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die kraft Zulassung statthafte Revision des Klägers kann keinen Erfolg haben. Hierfür braucht nicht entschieden zu werden, ob die vorgebrachten Verfahrensrügen einer Verletzung der §§ 103, 106, 128 SGG hinsichtlich der Feststellung, daß für den Kläger während seiner Lehrzeit keinerlei Beiträge zur Rentenversicherung abgeführt worden sind, begründet sind oder nicht. Immerhin soll nach den Ausführungen im angefochtenen Urteil im Berufungsverfahren unstreitig gewesen sein, daß keine Beiträge vorlagen, so daß nicht ersichtlich ist, inwiefern sich das LSG noch zu weiteren Ermittlungen in dieser Hinsicht hätte gedrängt fühlen müssen. Nachdem nunmehr aber die Quittungskarte Nr. 1 vorliegt, steht jetzt jedenfalls fest, daß der Kläger während seiner Lehrzeit in D für kurze Zeit versicherungspflichtig beschäftigt war, und daß für ihn drei Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet worden sind. Diese Tatsache kann aus Gründen einer sinnvollen Prozeßführung ausnahmsweise der weiteren Beurteilung des Streitfalles im Revisionsverfahren zugrunde gelegt werden (vgl. 1 RA 245/68 vom 15. Juli 1969; BVerwG, NJW 1968, 2308; BGH, NJW 1970, 1007). Sie rechtfertigt jedoch keine andere Entscheidung. Im Ergebnis ist der Auffassung des LSG beizupflichten, daß für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit des Klägers im Sinne des § 1246 RVO nicht von seinem erlernten Beruf des Tischlers als seinem "bisherigen Beruf" auszugehen ist. Er muß sich vielmehr auf alle ungelernten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes einschließlich der Arbeiten einfacher Art verweisen lassen. Entgegen der Meinung des LSG würde zwar beim Kläger wegen der jetzt nachgewiesenen Beitragsleistung im Mai 1938 die Wartezeit z. Zt. seiner Verwundung im Jahre 1944 als erfüllt zu gelten haben, wenn er infolge einer Wehrdienstbeschädigung invalide oder berufsunfähig geworden ist (vgl. § 1263 a RVO aF, § 1252 RVO nF). Gleichwohl begründet auch dieser Umstand keine für den Kläger günstigere Beurteilung.
Der Kläger hat drei Wochenbeiträge zur Invalidenversicherung zum Beginn seines dritten Lehrjahres aufzuweisen. Die Wartezeit ist im Hinblick auf seine Verwundung als erfüllt anzusehen. Vor seiner Verwundung hat er jedoch seinen erlernten Tischlerberuf nicht versicherungspflichtig ausgeübt.
Mit Rücksicht hierauf muß er einem Versicherten mit einem anerkannten Anlernberuf (mit einer Anlernzeit von einem bis zwei Jahren) gleichgestellt werden. Hieran ändert die Tatsache nichts, daß der Kläger nach dem Kriege in den Jahren 1948/49 ein knappes Jahr als gelernter Tischler versicherungspflichtig gearbeitet hat. Denn dieser Beschäftigung kommt, wie das LSG mit Recht angenommen hat, als sein bisheriger Beruf nicht in Betracht, weil er nach seinen gesundheitlichen Verhältnissen und Kräften diesen Beruf nur auf Kosten seiner Gesundheit ausüben konnte, wie das LSG ebenfalls unangefochten festgestellt hat.
Ist somit von dem anerkannten Anlernberuf oder einem diesem gleichgestellten Beruf auszugehen, so war der Kläger nach seiner Verwundung auf alle Tätigkeiten eines anerkannten Anlernberufs, aber auch auf alle ungelernten Tätigkeiten zu verweisen, die nicht zu Arbeiten einfacher Art gehören, soweit er sie gesundheitlich und nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten verrichten konnte (BSG, SozR Nr. 32 zu § 1246 RVO). Hierzu war auch der Kläger nach den Feststellungen des LSG bereits in den Jahren 1948/49 wieder in der Lage. Er hat jedoch solche Tätigkeiten ohne ersichtlichen Grund - insbesondere nicht mit Rücksicht auf seine Gesundheit - nie ausgeübt. Statt dessen hat er vom Mai 1952 bis April 1966 als Schichtführer, Kannenfüller und Kauenwärter gearbeitet. Hierbei hat es sich ausschließlich um ungelernte Hilfsarbeiten gehandelt. Mit Rücksicht hierauf kann für die Prüfung, ob der Kläger berufsunfähig ist, nicht sein erlernter Tischlerberuf zugrunde gelegt werden (BSG, SozR Nr. 33 zu § 1246 RVO). Sein Berufsleben ist vielmehr durch seine fast 15-jährige Tätigkeit als ungelernter Arbeiter bei der Deutschen Gasolin-Nitag AG geprägt worden. Er muß sich daher jetzt auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes für ungelernte Arbeiter verweisen lassen einschließlich solcher, die üblicherweise Schwerbeschädigten vorbehalten zu sein pflegen (BSG 16, 18, 21). Daß er hier nicht mehr die Hälfte des Verdienstes eines körperlich gesunden Versicherten mit gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten erwerben könne, behauptet die Revision selbst nicht.
Nach den Feststellungen des LSG hat sich der Gesundheitszustand des Klägers seit Aufnahme der Tätigkeit als Kauenwärter im Jahre 1952 nicht verschlechtert; vielmehr ist sein Leistungsvermögen jetzt und früher im wesentlichen das gleiche. Mit Rücksicht hierauf hat das LSG den Kläger zu Recht noch nicht für berufsunfähig gehalten.
Somit ist die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen