Leitsatz (redaktionell)

Die Nachentrichtung freiwilliger Beiträge nach dieser Sondervorschrift ist nur für Monate zulässig, die nicht bereits mit Beiträgen belegt sind.

 

Orientierungssatz

Nachentrichtung von Beiträgen - Aufstockung freiwilliger Beiträge - Abgrenzungsspielraum des Gesetzgebers - Rechtsstaatsprinzip - Sozialstaatsprinzip

Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist die nachträgliche Aufstockung, Aufspaltung, Zusammenlegung oder Verschiebung bereits entrichteter Beiträge unzulässig (vgl BSG 1982-02-16 12 RK 54/80 = SozR 2200 § 1405a Nr 1). Dies gilt auch für den von Art 2 § 44a AnVNG (= Art 2 § 46 ArVNG) erfaßten Personenkreis.

Das Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzip ist hierdurch nicht verletzt.

 

Normenkette

AnVNG Art. 2 § 44a Abs. 3 Fassung: 1972-10-16; ArVNG Art. 2 § 46 Abs. 3 Fassung: 1972-10-16; AnVNG Art. 2 § 49a Abs. 2 Fassung: 1972-10-16; ArVNG Art. 2 § 51a Abs. 2 Fassung: 1972-10-16; GG Art. 20

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 27.04.1981; Aktenzeichen L 11 An 836/80)

SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 24.04.1980; Aktenzeichen S 6 An 413/78)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Aufstockung freiwilliger Beiträge im Wege der Nachentrichtung nach dem Gesetz zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Angestellten (AnVNG).

Der Kläger (geboren 1921) hat für die gesamte Zeit von Januar 1947 bis November 1950 (47 Monate) freiwillige Beiträge zur Rentenversicherung der Angestellten entrichtet. Die Beiträge wurden in niedrigen Klassen entrichtet, weil der Kläger sich damals in wissenschaftlicher Ausbildung zum Facharzt für Chirurgie befand. Im Dezember 1975 beantragte er die Nachentrichtung freiwilliger Beiträge für die Zeit von Januar 1946 bis Februar 1952 und Aufstockung der bereits geleisteten freiwilligen Beiträge. Die Beklagte gestattete die Nachentrichtung von Beiträgen nach Art 2 § 44a AnVNG für 12 Monate im Jahre 1946 und drei Monate im Jahre 1951, ferner nach Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG für vier Monate im Jahre 1957 (Bescheide vom 9. Juli 1976). Auf den Widerspruch des Klägers teilte sie mit, daß für die Zeit von Januar 1947 bis November 1950 eine Nachentrichtung nicht möglich sei, weil für diesen Zeitraum bereits Beiträge entrichtet worden seien.

Mit Widerspruchsbescheid vom 10. Mai 1978 gab die Beklagte dem Widerspruch insoweit statt, als sie die Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen nach Art 2 § 44a AnVNG noch für die Zeit vom 1. Dezember 1950 bis 31. März 1951 zuließ. Eine Aufstockung der bereits entrichteten freiwilligen Beiträge lehnte sie jedoch weiterhin ab.

Klage und Berufung hatten keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts -SG- Frankfurt vom 24. April 1980; Urteil des Hessischen Landessozialgerichts -LSG- vom 27. April 1981). Das LSG hat die Auffassung vertreten, daß nach dem Gesetz eine Beitragsentrichtung nur in Betracht komme, soweit Zeiten nicht mit Beiträgen belegt sind. Hierin komme ein allgemeiner beitragsrechtlicher Grundsatz zum Ausdruck, der auch im Rahmen anderer Vorschriften deutlich werde und vom Bundessozialgericht (BSG) in mehreren Entscheidungen herausgestellt worden sei. Der Ausschluß der Aufstockung verstoße auch nicht gegen Verfassungsrecht. Das Bundesverfassungsgericht -BVerfG- (Beschluß vom 19. Dezember 1978 - 1 BvR 1045/78 - SozR 5750 Art 2 § 46 ArVNG Nr 7) habe bereits ausgeführt, daß über die Möglichkeit der Nachentrichtung von Beiträgen hinaus eine vollständige Gleichstellung der betroffenen Personengruppen in die Vergangenheit hinein nicht geboten sei.

Mit der Revision macht der Kläger geltend, daß das Aufstockungsverbot gegen Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes (GG) iVm dem Sozialstaatsprinzip nach Art 20 GG verstoße, soweit für die Tatbestände des Art 2 § 44a Abs 3 AnVNG eine Aufstockung ausgeschlossen werde. Nach seiner Auffassung liegt die Ungleichbehandlung einmal darin, daß diejenigen, die seinerzeit während der wissenschaftlichen Ausbildung, uU unter Opfern, freiwillige Beiträge aufgebracht hätten, nun schlechter ständen als diejenigen, die seinerzeit kein Interesse für die Rentenversicherung gezeigt und deshalb auch keine Beiträge entrichtet hätten. Der vom BSG als Rechtfertigung dieser Ungleichbehandlung angeführte rentenversicherungsrechtliche Grundsatz, wonach sich der Versicherte durch die Wahl einmal entrichteter Beiträge für immer gebunden habe, könne im Rahmen von Art 2 § 44a Abs 3 AnVNG nicht überzeugen. Indem der Kläger bereits in den Jahren 1947 bis 1950 Leistungen zur Solidargemeinschaft erbracht habe, habe er auch ein Recht, in späteren Zeiten an den Vergünstigungen teilzuhaben, die durch Wandlungen des Rentenversicherungsrechts entstehen. Die bisher getroffenen Entscheidungen stehen nach Auffassung des Klägers einer abweichenden Ansicht für den Bereich des Art 2 § 44a Abs 3 AnVNG nicht entgegen, da es sich jeweils um abweichende Sachverhalte gehandelt habe. Auch könne der Fall des Klägers nicht mit den Fällen verglichen werden, in denen aufgrund einer Pflichtversicherung niedrige Beiträge entrichtet worden sind; denn zur Pflichtversicherung trügen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bei, während die freiwilligen Beiträge voll vom Beitragszahler selbst aufzubringen waren. Bedenke man dies, so sei zu erkennen, daß der Kläger mit seinem Aufstockungsbegehren nichts Systemwidriges begehre, sondern lediglich einen Ausgleich der Nachteile im Versicherungsverlauf, der ihm dadurch entstanden ist, daß er seinerzeit nicht versicherungspflichtig war.

Der Kläger sieht im übrigen einen Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip darin, daß aus dem damaligen Verhalten des Klägers (der Entrichtung der freiwilligen Beiträge) rückwirkend nachteilige Folgerungen gezogen werden (Aufstockungsverbot), Folgerungen also, die er damals bei Entrichtung der Beiträge noch nicht überschauen konnte (BVerfG, Beschluß vom 26. Juni 1979 - 1 BvL 10/78 - Sozialgerichtsbarkeit 1980, 111).

Der Kläger beantragt,

die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Beklagte unter

Abänderung der Bescheide vom 9. Juli 1976 in der Gestalt des

Widerspruchsbescheides vom 10. Mai 1978 zu verurteilen, dem

Kläger die Aufstockung der für die Zeit vom 1. Januar 1947 bis

30. November 1950 entrichteten freiwilligen Beiträge und die

Nachentrichtung von jeweils 10 weiteren freiwilligen Monatsbeiträgen

für die Jahre 1947 bis 1949 und von 4 weiteren Monatsbeiträgen

für das Jahr 1950 zu gestatten.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie beruft sich im wesentlichen auf das angefochtene Urteil. Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. Der Kläger ist nicht berechtigt, zur Aufstockung freiwilliger Beiträge die in seinem Antrag im einzelnen bezeichneten Beiträge nachzuentrichten.

Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung zu anderen Nachentrichtungsvorschriften in der gesetzlichen Rentenversicherung die nachträgliche Aufstockung, Aufspaltung, Zusammenlegung oder Verschiebung bereits entrichteter Beiträge für unzulässig gehalten (vgl BSG SozR Nr 3 und Nr 4 zu § 1407 RVO; SozR Nr 8 zu § 1418 RVO; SozR Nr 38 zu Art 2 § 42 ArVNG; SozR Nr 10 zu Art 2 § 52 ArVNG; Urteil vom 22. August 1967 - 11 RA 338/64 - DAngVers 1968, 67, Urteile vom 8. März 1979 - 12 RK 5/78 - und - 12 RK 32/78 -; Urteil vom 4. April 1979 - 12 RK 36/78 -; BSG SozR 5750 Art 2 § 51a Nr 24 und Nr 30; Urteil vom 6. Februar 1982 - 12 RK 54/80 -). Der erkennende Senat hat gerade in den letztgenannten Urteilen herausgestellt, daß dieses Änderungsverbot einen dem Versicherungsverhältnis in der gesetzlichen Rentenversicherung eigenen Wesenszug entspricht, wonach dies Verhältnis grundsätzlich nachträglich nicht mehr geändert werden darf.

Entgegen der Auffassung des Klägers gilt für den von Art 2 § 44a AnVNG erfaßten Personenkreis nichts anderes. Der Gesetzgeber hat ersichtlich die Nachentrichtungsmöglichkeit nur eröffnet, um den Versicherten die Möglichkeit zu geben, zeitliche Lücken im Versicherungsverlauf auszufüllen. Daneben besteht zweifellos für eine Vielzahl von Versicherten ein Bedürfnis - je nach Lage des Einzelfalles uU sogar ein vorrangiges Bedürfnis -, in der Vergangenheit entrichtete niedrige Beiträge auf das durchschnittliche Niveau der übrigen Beiträge aufzustocken. Diesem Bedürfnis hat der Gesetzgeber aber nicht Rechnung getragen. Es besteht auch keine Möglichkeit für den Personenkreis, der unter Art 2 § 44a AnVNG fällt, eine Ausnahme zu machen. Er ist nämlich keineswegs besonders hart betroffen. Mindestens ebenso hart betroffen sind Hausfrauen, die während der Zeit der Kindererziehung nur eine Halbtagsbeschäftigung ausüben konnten, Personen, die aus finanziellen Gründen zunächst keine Ausbildung oder kein Studium beginnen konnten und deshalb einige Jahre niedrig bezahlte Tätigkeiten verrichten mußten, Personen, die wegen der Lage des Arbeitsmarktes unterwertige Tätigkeiten aufnehmen mußten, Frauen, die aus heutiger Sicht im Verhältnis zu ihren männlichen Kollegen unterbezahlt waren, Personen, die sich aus karitativen Gründen zu einer Beschäftigung gegen geringen Lohn verdingt haben oder auch Personen, die in Branchen oder Gegenden mit besonders niedrigem Lohnniveau tätig waren.

Eine besondere Benachteiligung, die im Wege der Auslegung auszugleichen oder als verfassungswidrig anzusehen wäre, kann auch nicht darin gesehen werden, daß der Kläger nicht niedrige Pflichtbeiträge, sondern niedrige freiwillige Beiträge entrichtet hat. Auch insoweit sind die von Art 2 § 44a AnVNG erfaßten Personen nicht in besonderem Maße betroffen, auch nicht die Gruppen, zu der der Kläger gehört (Personen, die vor dem 1. Januar 1957 während der wissenschaftlichen Ausbildung für ihren Beruf nicht pflichtversichert waren). Mit ihnen wären in gleicher Weise zu bedenken alle diejenigen, die überhaupt nicht beschäftigt waren, sofern sie aus finanziellen Gründen nur niedrige freiwillige Beiträge entrichten konnten. All diese Gründe, bei denen ein Bedürfnis nach Aufstockung der Beiträge besteht, einzubeziehen oder bestimmte Grenzen festzulegen, ist allein Sache des Gesetzgebers und kann im Wege der Rechtsprechung nicht vollzogen werden. Es handelt sich hierbei um ein sozialpolitisches Anliegen, das eine völlig andere Struktur hat als die Ausfüllung von zeitlichen Beitragslücken. Dies rechtfertigt es auch im Lichte der Verfassung, desjenigen, die ein Bedürfnis nach Aufstockung haben, und diejenigen, die ein Bedürfnis nach Ausfüllung zeitlicher Lücken haben, unterschiedlich zu behandeln; denn der Gesetzgeber hat einen weiten Spielraum darin, wo er die Grenzen für sozialpolitische Anliegen ziehen will (vgl auch BVerfG Beschluß vom 27. September 1978 - 1 BvL 31/76 und 4/77 - SozR 5750 Art 2 § 51a Nr 19). Dabei ist der Gesetzgeber - wie auch das LSG mit Recht hervorhebt - nicht verpflichtet, in die Vergangenheit hinein alle Rechtsnachteile auszugleichen, die sich aus der Rechtsentwicklung nach heutiger Sicht ergeben haben.

Aus diesem Grunde kann der Kläger auch nicht mit dem Argument durchdringen, das Rechtsstaatsprinzip sei verletzt, weil er heute nachteile erleide, die er damals noch nicht voraussehen konnte. Solche Nachteile sind typische Folgen der sich ändernden Rechtssituation, und es muß dem Gesetzgeber überlassen bleiben, ob und wie er sie ausgleicht, solange die Rechtsänderung nicht eine die verfassungsrechtlichen Grenzen verlassene Rückwirkung enthält. Das ist hier jedoch nicht der Fall. Bei alledem ist dem Kläger zuzugeben, daß es im Ergebnis unerfreulich ist, daß diejenigen, die keine freiwilligen Beiträge gezahlt haben, oder diejenigen, die nicht gearbeitet haben und deshalb keine Pflichtbeiträge entrichtet haben, gegenüber denjenigen benachteiligt werden, die wenig verdient und deshalb niedrige Pflichtbeiträge oder niedrige freiwillige Beiträge entrichtet haben. Die Korrektur dieser Ergebnisse ist aber, wie dargelegt, allein Sache des Gesetzgebers und ist im Wege der Rechtsprechung auch deshalb nicht möglich, weil es vielfältige Möglichkeiten der Abgrenzung gibt, das Gesetz aber keinen Anhalt bereitstellt, welcher Grenze hier der Vorzug zu geben ist und welche Voraussetzungen für die Aufstockung gefordert werden müßten.

Die Revision konnte deshalb keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1659972

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