Entscheidungsstichwort (Thema)
Verweisung eines Facharbeiters. bisher erzieltes Entgelt
Leitsatz (amtlich)
1. Versicherungsrechtlich geschützter Beruf mit abgeschlossener Ausbildung bzw Abschlußprüfung ist die erlernte Tätigkeit, wenn der Versicherte sie überhaupt - sei es auch nur kurz - ausgeübt hat (vgl BSG vom 1965-06-01 5 RKn 38/64 = SozR Nr 20 zu § 45 RKG; BSG vom 1970-07-28 5/4 RJ 11/68 = SozR Nr 87 zu § 1246 RVO; BSG vom 1976-01-20 5/12 RJ 132/75 = BSGE 41, 129; BSG vom 1977-03-30 5 RJ 98/76 = BSGE 43, 243; BSG vom 1979-03-15 5 RJ 96/78; BSG vom 1977-04-26 4 RJ 93/76).
2. Bei der Berufsunfähigkeit des RVO § 1246 Abs 2 kommt es nicht auf die tatsächliche Beitragsleistung zu der Zeit an, als der "bisherige Beruf" ausgeübt wurde. Wohl liefert die tarifliche Einstufung - nicht der effektive Lohn - in Zweifelsfällen einen Beleg für den qualitativen Wert des Berufs. Jedoch ist nicht die individuelle Arbeitsleistung entscheidend, sondern abstrakt der Beruf als solcher, auch wenn ein dem tatsächlich ausgeübten Beruf entsprechendes Entgelt nicht erzielt und keine adäquaten Beiträge geleistet wurden. Die an das versicherungspflichtige Entgelt gekoppelte Beitragshöhe ist nicht in erster Linie Maßstab für das Versicherungswagnis, sondern Anknüpfungspunkt für die Rentenhöhe (vgl BSG vom 1979-06-20 5 RKn 26/77).
3. Ein ehemaliger Facharbeiter kann zumutbar nur auf Tätigkeiten verwiesen werden, die nach ihrer tariflichen Einstufung in die Gruppe der sonstigen Ausbildungsberufe (Anlernberufe) fallen. Hierzu gehören auch diejenigen ungelernten Tätigkeiten, die wegen ihres qualitativen Werts für den Betrieb wie ein sonstiger Ausbildungsberuf (Anlernberuf) tariflich eingestuft sind. Die Zumutbarkeit der für einen gelernten Arbeiter in Erwägung gezogenen Verweisungstätigkeiten iS von RVO § 1246 Abs 2 S 2 ist grundsätzlich konkret anhand von tarifvertraglichen Lohngruppen sowie bezogen auf die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit des Versicherten zu prüfen.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 12.12.1977; Aktenzeichen L 9 J 656/77-1) |
SG Heilbronn (Entscheidung vom 11.02.1977; Aktenzeichen S 5 J 1832/73) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 12. Dezember 1977 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit zusteht (§ 1246 Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Der im Jahre 1927 geborene Kläger ist gelernter Maler mit Abschlußprüfung. Nach der Lehre war er in diesem Beruf von 1952 bis 1966 versicherungspflichtig beschäftigt; seitdem steht er nicht mehr in einem Arbeitsverhältnis. Seinen Rentenantrag vom 9. Januar 1973 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 28. September 1973 ab.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. Januar 1973 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. Soweit der Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit begehrt hatte, hat es die Klage abgewiesen (Urteil vom 11. Februar 1977). Das Landessozialgericht (LSG) hat in seiner Entscheidung vom 12. Dezember 1977 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage in vollem Umfang abgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, der Kläger gehöre nicht zur oberen Leistungsgruppe der Arbeiterberufe, denn er habe während seiner versicherungspflichtigen Beschäftigung nur ein unterdurchschnittliches Einkommen erzielt. Sein persönlicher Prozentsatz der allgemeinen Bemessungsgrundlage betrage lediglich 79,44. Die Werte der oberen Leistungsgruppe habe er während seiner Beschäftigung als Maler in keinem Jahr erreicht; in einigen Jahren habe er sogar unter den Werten der mittleren Gruppe gelegen. Da sich im erzielten Lohn die Bewertung einer Tätigkeit am deutlichsten wiederspiegele, könne er keiner höheren als der mittleren Gruppe der Arbeiterberufe zugeordnet werden. Er sei auf Tätigkeiten der unteren Gruppe zu verweisen, soweit sie nicht völlig untergeordneter und niedriger Art seien. Da der Kläger nicht gehindert sei, leichte Arbeiten vorwiegend im Sitzen auf die Dauer der normalen Arbeitszeit zu verrichten, sei er nicht berufsunfähig, ohne daß es darauf ankomme, ob ihm ein geeigneter Arbeitsplatz vermittelt werden könne.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger die unrichtige Anwendung des § 1246 Abs 2 RVO. Als gelernter Maler könne er nicht auf alle einfachen Arbeiten verwiesen werden.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG vom 12. Dezember 1977 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG vom 11. Februar 1977 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen wird (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Die bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts lassen eine abschließende Entscheidung über die vom Kläger begehrte Rente wegen Berufsunfähigkeit nicht zu.
Das LSG hat § 1246 Abs 2 RVO unrichtig angewendet. Nach den von der Revision nicht angegriffenen und für den Senat gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen im angefochtenen Urteil ist bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit des Klägers von einem "bisherigen Beruf" im Sinne der genannten Vorschrift als Maler auszugehen. Obwohl er dieses Handwerk erlernt und darin von 1952 bis 1966 versicherungspflichtig gearbeitet hat, ist er vom Berufungsgericht nicht als Facharbeiter angesehen worden. Das LSG hat es vielmehr entscheidend darauf abgestellt, welches Einkommen der Kläger erzielt hat und ob die darauf basierenden Beitragsleistungen zur Rentenversicherung derjenigen eines Facharbeiters im allgemeinen entsprechen. Dagegen wendet sich die Revision zu Recht.
Der Senat hat bereits entschieden, daß versicherungsrechtlich geschützter Beruf mit abgeschlossener Ausbildung bzw Abschlußprüfung die erlernte Tätigkeit ist, wenn der Versicherte sie überhaupt - sei es auch nur kurz - ausgeübt hat (vgl BSG in SozR Nrn 20 zu § 45 RKG und 87 zu § 1246 RVO; BSGE 41, 129, 130 ff; 43, 243, 245; Urteile des Senats vom 15. März 1979 - 5 RJ 96/78 - und des 4. Senats vom 26. April 1977 - 4 RJ 93/76 -). Bei der Berufsunfähigkeit des § 1246 Abs 2 RVO kommt es nicht auf die tatsächliche Beitragsleistung zu der Zeit an, als der "bisherige Beruf" ausgeübt wurde. Wohl liefert die tarifliche Einstufung - nicht der effektive Lohn - in Zweifelsfällen einen Beleg für den qualitativen Wert des Berufs. Jedoch ist nicht die individuelle Arbeitsleistung entscheidend, sondern abstrakt der Beruf als solcher, auch wenn der Versicherte einen seinem tatsächlich ausgeübten Beruf entsprechendes Entgelt nicht erzielt und keine adäquaten Beiträge geleistet hat. Die an das versicherungspflichtige Entgelt gekoppelte Beitragshöhe ist nicht in erster Linie Maßstab für das Versicherungswagnis, sondern Anknüpfungspunkt für die Rentenhöhe (vgl Urteil des Senats vom 28. Juni 1979 - 5 RKn 26/77 -).
Als ehemaliger Facharbeiter kann der Kläger zumutbar nur auf Tätigkeiten verwiesen werden, die nach ihrer tariflichen Einstufung in die Gruppe der sonstigen Ausbildungsberufe (Anlernberufe) fallen. Hierzu gehören auch diejenigen ungelernten Tätigkeiten, die wegen ihres qualitativen Werts für den Betrieb wie ein sonstiger Ausbildungsberuf (Anlernberuf) tariflich eingestuft sind. Die Zumutbarkeit der für einen gelernten Arbeiter in Erwägung gezogenen Verweisungstätigkeiten im Sinne von § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO ist grundsätzlich konkret anhand von tarifvertraglichen Lohngruppen sowie bezogen auf die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit des Versicherten zu prüfen. Insoweit wird auf die Ausführungen des Senats in den Urteilen vom 15. Februar 1979 - 5 RJ 48/78 - und vom 28. November 1978 - 5 RKn 10/77 - mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) verwiesen.
Unter Beachtung der Ausführungen des Senats wird das LSG nun die erforderlichen Feststellungen zur - konkreten - Verweisung des Klägers zu treffen haben.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen