Entscheidungsstichwort (Thema)
"Ständiger Aufenthalt". Wohnung auch in der SBZ
Leitsatz (redaktionell)
Wer in den Jahren 1956 bis 1958 einen wesentlichen Teil seiner Lebensbereiche in der SBZ belassen und damit für einen objektiven Betrachter den Eindruck erweckt hat, er wolle sich auch seine Rechte in der SBZ voll erhalten, hat sich jedenfalls nicht iS des FAGSV § 1 Abs 1 "ständig" im Bundesgebiet oder im Land Berlin aufgehalten.
Orientierungssatz
Zum Begriff des "ständigen Aufenthalts" iS von FAG SV § 1 Abs 1.
Normenkette
SVFAG § 1 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1956-01-21
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 10. Dezember 1958 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind dem Kläger nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger, geboren am 19. Januar 1891, beantragte im Februar 1956 bei der Beklagten Altersruhegeld. Er hatte Beiträge an die Reichsversicherungsanstalt für Angestellte (RfA) zur einheitlichen Rentenversicherung in Berlin, an den zuständigen Versicherungsträger in der sowjetisch besetzten Zone (SBZ) und zuletzt - ab 1951 - an die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) entrichtet. Durch Bescheid vom 6. Juli 1956 lehnte die Beklagte den Antrag ab, da sie nach § 1 des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes (FAG) vom 7. August 1953 (BGBl 1, 848 in der Fassung vom 21. Januar 1956, BGBl I, 17) für die Leistungsgewährung nicht zuständig sei; der Kläger halte sich nicht ständig im Bundesgebiet oder im Lande Berlin auf, sein Hauptwohnort sei P. Das Sozialgericht (SG) Berlin wies die Klage am 10. Mai 1957 ab: Zwar habe der Kläger seinen ständigen Aufenthalt im Land Berlin, er habe aber keinen Anspruch gegen die Beklagte, weil er für denselben Versicherungsfall von dem Versicherungsträger in der SBZ auf Antrag eine Leistung zu beanspruchen habe (§ 1 Abs. 5 FAG). Die Berufung des Klägers wies das Landessozialgericht (LSG) Berlin am 10. Dezember 1958 zurück: Der Anspruch des Klägers gegen die Beklagte scheitere daran, daß sich der Kläger nicht, wie es § 1 Abs. 1 Nr. 1 FAG erfordere, ständig im Bundesgebiet oder im Land Berlin aufhalte. Es sei zwar erwiesen, daß sich der Kläger überwiegend im Westen Berlins aufhalte, weil er seit Jahren dort ein Baugeschäft betreibe und dort auch eine Wohnung habe. Neben diesem einen Kreis der Lebensverhältnisse des Klägers, der im Land Berlin liege, verfüge der Kläger aber noch über einen zweiten Kreis von Lebensverhältnissen in Potsdam; der Kläger habe dort ebenfalls eine Wohnung, er sei dort sogar unter seinem ersten Wohnsitz gemeldet, dort lebe auch ständig seine Ehefrau, er habe dort Grundbesitz und besitze auch noch den Personalausweis der sogenannten DDR. Bei dieser Sachlage könne nicht davon gesprochen werden, daß sich der Kläger im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 FAG ständig im Land Berlin aufhalte; ständiger Aufenthalt im Sinne dieser Vorschrift sei, wie sich aus dem Sinn und der Entstehungsgeschichte des Gesetzes ergebe, nur bei den Personen anzunehmen, die außer dem Mittelpunkt ihrer Lebensverhältnisse im Land Berlin oder im Bundesgebiet nicht auch noch einen zweiten Kreis von Lebensverhältnissen außerhalb dieser Gebiete haben und denen ein Betreten der SBZ unmöglich oder unzumutbar sei. Es sei auch nicht zu prüfen, ob dem Kläger ein Anspruch nach Art. II § 51 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) zustehe; selbst wenn mit dem angefochtenen Bescheid auch dieser Anspruch abgelehnt sein sollte, so scheitere insoweit eine sachliche Überprüfung an dem Fehlen des nach § 79 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) vorgeschriebenen Vorverfahrens. Das LSG ließ die Revision zu. Das Urteil wurde dem Kläger am 16. Januar 1959 zugestellt.
Am 11. Februar 1959 legte der Kläger Revision ein, er beantragte,
unter Abänderung der Vorentscheidungen die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger das Altersruhegeld zu gewähren.
Der Kläger begründete die Revision - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist - am 14. April 1959: Er rügte im wesentlichen, das LSG habe den Begriff des ständigen Aufenthalts im Sinne von § 1 Abs. 1 FAG falsch ausgelegt.
Die Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Während des Revisionsverfahrens - im August 1962 - teilte die Beklagte mit, dem Kläger sei auf seinen Antrag ab Mai 1961 in der SBZ Rente bewilligt worden, der Kläger sei dann infolge der Errichtung der Mauer am 13. August 1961 zunächst in P verblieben, wo er sich an dem Wochenende über den 13. August 1961 gerade aufgehalten habe. Der Kläger teilte im Mai 1963 mit, er sei im April 1963 legal von Potsdam nach Westberlin übergesiedelt. Mit Bescheid vom 29. November 1963 erkannte die Beklagte den Anspruch des Klägers auf Altersruhegeld mit Wirkung vom 1. Januar 1959 - Inkrafttreten des durch das Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes (FANG) vom 25. Februar 1960 neugefaßten Fremdrentengesetzes (FRG) - an, die Auszahlung des Altersruhegeldes für die Zeit bis zum 19. April 1963 lehnte sie jedoch ab, weil der Kläger erst am 20. April 1963 einen Wohnsitz im Land Berlin begründet habe und die Rentenleistungen für die Zeit vom 1. Januar 1959 bis 19. April 1963 nach § 96 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) ruhten.
Der Kläger beantragte nunmehr,
die Beklagte zu verurteilen, ihm das Altersruhegeld auch für die Zeit vom 1. Januar 1956 bis 19. April 1963 zu zahlen,
hilfsweise beantragte er,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Berlin zurückzuverweisen.
Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung (§§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG) einverstanden.
II
Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG); sie ist jedoch nicht begründet.
Gegenstand auch des Revisionsverfahrens ist - nur - der Bescheid der Beklagten vom 6. Juli 1956; mit diesem Bescheid hat die Beklagte den Anspruch des Klägers auf Altersruhegeld nach dem FAG in Verbindung mit dem AVG in der vor dem 1. Januar 1957 maßgebenden Fassung (AVG aF) geregelt; sie hat verneint, daß nach diesen Vorschriften dem Kläger ein Anspruch auf Altersruhegeld gegen die Beklagte zustehe. Das LSG hat über die Rechtmäßigkeit dieses Bescheides am 10. Dezember 1958, also vor dem Inkrafttreten des FRG - nach Art. 7 § 3 Abs. 1 FANG in Kraft seit 1. Januar 1959 - entschieden; es hat den Anspruch des Klägers nur nach dem FAG prüfen können. Der Kläger hat mit der - im August 1956 erhobenen - Klage die Aufhebung des Bescheides vom 6. Juli 1956 und die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung von Altersruhegeld beantragt. Während des Revisionsverfahrens hat die Beklagte durch den Bescheid vom 29. November 1963 den Anspruch des Klägers auf Altersruhegeld mit Wirkung vom 1. Januar 1959 an nach dem FRG in Verbindung mit dem AVG nF geregelt und das Altersruhegeld mit Wirkung vom 20. April 1963 an bewilligt. Dieser Bescheid vom 29. November 1963 ist aber nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens geworden - auch nicht insoweit, als er den Bescheid vom 6. Juli 1956, dessen Aufhebung der Kläger zugleich mit dem Antrag auf die Bewilligung von Leistungen begehrt, für die Zeit vom 1. Januar 1959 an "ersetzt" hat; § 96 SGG findet nämlich im Revisionsverfahren keine Anwendung, vgl. auch § 171 Abs. 2 SGG.
Den Bescheid vom 6. Juli 1956, mit dem die Beklagte über den Anspruch des Klägers auf Altersruhegeld nach dem FAG, also für die Zeit vom 1. Januar 1956 (Antragsmonat) bis 31. Dezember 1958 (Inkrafttreten des FRG) entschieden hat, hat das LSG zu Recht als rechtmäßig angesehen. Der Kläger hat, sofern er zu den in § 1 Abs. 2 FAG genannten Personen gehört, nach § 1 Abs. 1 FAG Anspruch auf Leistungen gegen den nach § 7 FAG zuständigen Versicherungsträger im Bundesgebiet oder im Land Berlin unter den Voraussetzungen, daß er 1) sich ständig in den genannten Gebieten aufhält und 2) von dem Versicherungsträger, bei dem das Versicherungsverhältnis bestanden hat, keine Leistungen erhält. Das LSG ist zu Recht davon ausgegangen, der Kläger gehöre zu dem Personenkreis des § 1 Abs. 2 FAG; der Kläger ist in gesetzlichen Rentenversicherungen bei Versicherungsträgern im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 FAG versichert gewesen, denn er hat nach den unangefochtenen Feststellungen des LSG auch Beiträge zur früheren RfA, also zu einem stillgelegten Versicherungsträger (BSG 4, 96, 98/99; 9, 67, 71) und zu einem Versicherungsträger in der SBZ entrichtet. Der Kläger hat sich jedoch, wie das LSG ebenfalls zu Recht angenommen hat, jedenfalls im Sinne des FAG nicht "ständig" im Bundesgebiet oder im Land Berlin aufgehalten (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 FAG).
Zum Begriff des "ständigen Aufenthalts" im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 FAG ist in dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 21. April 1959 (BSG 9, 266 ff, 268) ausgeführt, er bedeute "ein tatsächliches, länger dauerndes, nicht zufälliges Verweilen in einem bestimmten Gebiet" (ebenso Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand vom 1. September 1963, Bd. I, 294 d V, VI; Hoernigk/Jahn/Wickenhagen, Fremdrenten- und Auslandsrentengesetz, 2. Aufl., 1956, Anm. 6 zu § 1 Abs. 1 FRG); in diesem Urteil ist auch zutreffend ausgeführt, daß sogenannte Berliner "Grenzgänger", die (in der Zeit vor der Errichtung der Mauer) im Osten Berlins gearbeitet, aber mit ihrer Familie im Westen Berlins gewohnt haben und nach der Beendigung der Arbeit dorthin zurückgekehrt sind, sich "ständig" im Land Berlin aufhalten. Um einen solchen Fall handelt es sich hier jedoch nicht. Der Kläger hat zwar, wie das LSG zu Recht dargelegt hat, "zwei verschiedene Lebenskreise" gehabt, nämlich einen "Lebenskreis" in P und einen "Lebenskreis" im Westen Berlins. Ob er damit auch sowohl in Potsdam als auch im Westen Berlins einen "ständigen" Aufenthalt" im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs gehabt hat, kann dahinstehen. Für die Frage, ob ein "ständiger Aufenthalt" im Sinne des FAG gegeben ist, kommt es entscheidend auf den Sinn und Zweck an, den das FAG mit der Zubilligung von Ansprüchen an bestimmte Personenkreise verfolgt. Insoweit ist davon auszugehen, daß das FAG - anders als das spätere FRG - auf dem "Entschädigungsprinzip" beruht; nach ihm sollen grundsätzlich die Versicherungsträger im Bundesgebiet vorlageweise für die ursprünglich verpflichteten Versicherungsträger in dem Umfang eintreten, in welchem diese verpflichtet sind (vgl. Jantz/Zweng/Eicher, Das neue Fremdrenten- und Auslandsrentengesetz, 2. Aufl., Einführung XIII und XIV). Diese "Hilfe" der Bundesrepublik ist jedoch nur für die Fälle bestimmt, in denen die Lebensverhältnisse des Betroffenen ihre Grundlage mindestens überwiegend im Bundesgebiet oder im Lande Berlin gehabt haben. Das ist beim Kläger nicht so gewesen. Er hat zwar seit Jahren im Westen Berlins (in B) ein Baugeschäft betrieben und (in B) eine Wohnung gehabt, er hat sich auch tagsüber zum Betrieb seines Geschäfts vorwiegend im Westen Berlins aufgehalten und auch nach Schluß der Geschäftszeit noch erhebliche Zeit in seiner Wohnung in B zugebracht; er hat aber andererseits - anders als in dem Fall BSG 9, 266 ff - ständig auch eine Wohnung in der SBZ in Potsdam gehabt und ist auch dort polizeilich gemeldet gewesen; in dieser Wohnung hat ständig die Ehefrau des Klägers gewohnt, der Kläger hat, wie sich aus seinem eigenen Vorbringen ergibt und wovon auch erkennbar das LSG ausgegangen ist, die arbeitsfreie Zeit zum Teil auch in seiner Wohnung in P verbracht, er hat in Potsdam Grundbesitz gehabt, er hat auch den Personalausweis der sogenannten DDR besessen. Danach ist der Schluß gerechtfertigt, daß die Lebensverhältnisse des Klägers ihre Grundlage nicht überwiegend im Lande Berlin gehabt haben; wer in den Jahren 1956 bis 1958 einen wesentlichen Teil seiner Lebensbereiche in der SBZ belassen und damit für einen objektiven Betrachter den Eindruck erweckt hat, er wolle sich auch seine Rechte in der SBZ voll erhalten, hat sich jedenfalls nicht im Sinne von § 1 Abs. 1 FAG "ständig" im Bundesgebiet oder im Land Berlin aufgehalten.
Das Urteil des LSG ist sonach zutreffend, die Revision des Klägers ist unbegründet und zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG). Das LSG hat auch zu Recht nicht geprüft, ob dem Kläger Ansprüche gegen die Beklagte nach Art. II § 51 AnVNG zustehen. Der Bescheid vom 6. Juli 1956 kann insoweit eine Regelung nicht enthalten, weil dieser Bescheid vor dem Inkrafttreten des AnVNG (1. Januar 1957 ergangen ist.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen