Entscheidungsstichwort (Thema)
Tanklastzug. Transportfahrt. Beifahrertätigkeit. Sonnenbad. gemischte Tätigkeit. selbstgeschaffene Gefahr. Erhöhung der Betriebsgefahr durch eigenwirtschaftliches Verhalten
Leitsatz (amtlich)
Bei einer gemischten Tätigkeit entfällt der Schutz der Unfallversicherung, wenn die privaten Zwecken dienende Verrichtung eine selbstgeschaffene Gefahr enthält, die im Rechtssinne allein Unfallursache ist (Fortführung von BSG vom 29.4.1982 2 RU 10/81 = SozR 2200 § 548 Nr 60).
Orientierungssatz
1. Verfolgt der Versicherte bei seiner Tätigkeit neben betrieblichen auch private Interessen, wie dies bei gemischten Tätigkeiten der Fall ist und liegen in einem so gelagerten Fall der selbstgeschaffenen Gefahr betriebsfremde Motive zugrunde, so ist entsprechend der für die gesetzliche Unfallversicherung maßgebenden Kausalitätslehre entscheidend, ob die versicherte Tätigkeit gleichwohl eine wesentliche Bedingung des Unfalls gebildet hat oder ob die selbstgeschaffene Gefahr in so hohem Grad unvernünftig war und zu einer solchen besonderen Gefährdung geführt hat, daß die versicherte Tätigkeit nicht mehr als wesentliche Bedingung für den Unfall anzusehen ist (vgl BSG vom 29.4.1982 2 RU 10/81 = SozR 2200 § 548 Nr 60).
2. Zur Frage, ob durch das Verhalten des Beifahrers eines Tanklastzuges, der sich während der Fahrt auf dem Laufsteg des Tankaufliegers gesonnt hat, die betriebsbedingten Umstände durch die selbstgeschaffene Gefahr so weit zurückgedrängt wurden, daß sie keine wesentliche Bedingung mehr für den Unfall bildeten.
Normenkette
RVO § 548 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Streitig ist der Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung.
P -J D (D.), der Ehemann der Klägerin und Vater der Beigeladenen zu 1) und 2), stürzte am 16. Juli 1981 gegen 20.15 Uhr vom Auflieger eines Tanklastzuges auf die Autobahn und zog sich dabei tödliche Verletzungen zu. An diesem Tage befand er sich im Auftrage seiner Beschäftigungsfirma mit seinem Fahrerkollegen R S (S.) auf einer Transportfahrt in Italien. In der Nähe von Venedig übernahm S. das Steuer des Tanklastzuges, weil D. angetrunken wirkte. Während S. auf einer Autobahnstation bei Verona telefonierte, kletterte D. auf den Laufsteg des Tankaufliegers und legte sich dort - nur mit einer kurzen Hose bekleidet - auf seinen Schlafsack, um sich zu sonnen. Trotz wiederholter Aufforderung durch S., vom Laufsteg herunterzukommen, bestand D. darauf, während der Weiterfahrt oben zu bleiben. S. setzte die Fahrt fort und hielt noch dreimal an, um D. - vergeblich - zum Einsteigen ins Fahrerhaus zu bewegen. Auf der Autobahn A 4 Bergamo-Mailand kam es zu dem tödlichen Sturz. Das Landgericht Mailand verurteilte S. am 3. März 1983 rechtskräftig zu einer Gefängnisstrafe von acht Monaten mit Bewährung, weil dieser den Tod des D. fahrlässig herbeigeführt habe. Angesichts der Vorhersehbarkeit des eingetretenen Ereignisses hätte S. die Fahrt unter den gegebenen Umständen nicht fortsetzen dürfen. Auch habe die Auswertung des Fahrtenschreibers ergeben, daß S. auf der Autobahn mit einer Geschwindigkeit von 110 km/h gefahren sei. Sicherlich habe die überhöhte Geschwindigkeit dazu beigetragen, daß D. das Gleichgewicht verloren habe.
Mit Bescheiden vom 25. November 1983 lehnte es die Beklagte ab, der Klägerin und den Beigeladenen Hinterbliebenenleistungen zu gewähren, weil der Zusammenhang zwischen dem Unfall und der versicherten Tätigkeit unter dem Gesichtspunkt der selbstgeschaffenen Gefahr aufgehoben gewesen sei.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenleistungen zu gewähren; D. habe sich zwar vernunftwidrig verhalten, doch habe im Hinblick auf die überhöhte Geschwindigkeit des Tanklastzuges eine betriebsbedingte wesentliche Mitverursachung vorgelegen (Urteil vom 18. Juni 1984).
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten mit Urteil vom 20. Oktober 1987 zurückgewiesen. In seinen Gründen hat es ausgeführt, D. habe am 16. Juli 1981 einen Arbeitsunfall erlitten, obwohl das Sonnen während der Fahrt in keinem Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gestanden, sondern nach Beweggrund und Zweck ein privates, betriebsfremdes Verhalten dargestellt habe. Da der Verstorbene zugleich aber auch die Transportfahrt habe fortsetzen und damit betrieblichen Interessen habe dienen wollen, habe er sich nicht von der versicherten Tätigkeit gelöst. Auch der Umstand, daß D. aus betriebsfremden Motiven in hohem Maße vernunftwidrig gehandelt habe (selbstgeschaffene Gefahr), stehe dem Anspruch der Klägerin nicht entgegen; denn der Mitwirkung des Tanklastzuges als Betriebseinrichtung und dem fahrlässigen Verhalten des Arbeitskollegen S. kämen für den Eintritt des Erfolges so überragende Bedeutung zu, daß sie für den Eintritt des Unfalles und seiner Folgen die wesentliche Bedingung dargestellt hätten. Der Alkoholisierung des D. komme keine entscheidende Bedeutung zu, weil weder eine Blutalkoholkonzentration festgestellt worden sei, noch Anhaltspunkte dafür vorlägen, daß D. infolge Alkoholgenusses zu keiner dem Unternehmen förderlichen Arbeit mehr fähig gewesen sei. Dasselbe gelte für die vom Arbeitgeber vermutete Selbsttötungsabsicht, für die keine konkreten Anhaltspunkte vorlägen.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte eine Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das LSG habe nicht präzise festgestellt, auf welche Weise D. letztlich verunglückt sei (§ 103 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Die Annahme, D. sei durch die bei hohen Geschwindigkeiten auftretende Sogwirkung hochgewirbelt worden, hätte durch gutachterliche Feststellungen erhärtet werden müssen. Insbesondere der Umstand, daß D. sich auf der linken oberen Seite des Tankaufliegers gesonnt habe, seine Leiche aber am rechten Fahrbahnrand gefunden worden sei, lege die Vermutung nahe, daß der Sturz nicht auf den Fahrtwind, sondern auf ein übermütiges Verhalten des D. zurückzuführen sei. Insoweit habe das LSG auch gegen die Denkgesetze verstoßen (§ 128 Abs 1 SGG). Unabhängig hiervon habe das LSG aber § 548 Abs 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) verletzt; denn D. habe den Unfall nicht bei einer versicherten Tätigkeit, sondern beim Sonnenbaden, einer dem privaten Lebensbereich zuzuordnenden Tätigkeit, erlitten. Dem stehe nicht entgegen, daß D. zugleich auch die betriebliche Fahrt fortgesetzt habe. Die gegenteilige Ansicht des LSG gehe stillschweigend von einem Betriebsbann aus, der in der gesetzlichen Unfallversicherung gerade nicht anerkannt werde. Zumindest aber sei der Versicherungsschutz im vorliegenden Fall aus dem Gesichtspunkt der selbstgeschaffenen Gefahr zu verneinen. D. habe sich bei seinem in hohem Maße unvernünftigen Verhalten ausschließlich von betriebsfremden Motiven leiten lassen. Dies sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) der entscheidende Gesichtspunkt für die rechtliche Bewertung, daß der Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gelöst sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 20. Oktober 1987 sowie das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 18. Juni 1984 aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beigeladenen haben sich nicht geäußert und keine Anträge gestellt.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet, weil D. am 16. Juli 1981 keinen Arbeitsunfall erlitten hat. Der Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Hinterbliebenenleistungen (§ 589 Abs 1 RVO) ist deshalb nicht begründet.
Arbeitsunfall ist nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Als die den Versicherungsschutz begründende Tätigkeit kommt im vorliegenden Fall allein die Transportfahrt in Betracht, die D. im Rahmen seines Arbeitsverhältnisses am 16. Juli 1981 unternahm (§ 539 Abs 1 Satz 1 RVO). "Bei" einer versicherten Tätigkeit erleidet ein Versicherter einen Unfall aber nur, wenn zwischen dem Unfall und der versicherten Tätigkeit ein ursächlicher Zusammenhang iS der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätslehre besteht. Daran fehlt es im vorliegenden Fall, weil die versicherte Tätigkeit weder die alleinige, noch - unter mehreren Bedingungen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne - eine wesentliche Bedingung im Rechtssinne darstellte.
Nach den das Revisionsgericht bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) hat sich der Unfall lediglich während der Betriebsfahrt, unmittelbar aber beim Sonnenbaden ereignet. Das Sonnen auf dem Laufsteg des Tankauflegers hat betriebsfremden, persönlichen Zwecken gedient und konnte deshalb für sich betrachtet keinen Versicherungsschutz begründen. Der vorliegende Fall ist jedoch dadurch gekennzeichnet, daß D. zugleich auch betriebliche Belange wahrnahm, indem er die Fahrt im Rahmen seines Auftrages fortsetzte. Zutreffend hat das LSG insoweit erkannt, daß das eigenwirtschaftliche Verhalten des D. nicht isoliert betrachtet werden darf, sondern im Zusammenhang mit seiner betrieblichen Verrichtung gesehen werden muß. Berücksichtigt man hierbei insbesondere die Eigenart der Beifahrertätigkeit, so hatte der Versicherte anders als in dem von der Revision zitierten "Tiefladerurteil" (BSG-Urteil vom 31. März 1965 - 2 RU 200/64 -, BG 65, 273) seine Betriebstätigkeit nicht abgebrochen - in jenem Fall begab sich der Versicherte auf den offenen, fahrenden Tieflader, um von dort aus seinen Heimweg anzutreten -, sondern er verblieb vielmehr auf dem Tankzug, um seine Beifahrerfunktion jedenfalls in Bezug auf das Erreichen des Zielortes zu erfüllen. Dies bedeutet jedoch nicht, daß D. "bei" einem versicherten Bereitschaftsdienst (vgl hierzu BSGE 50, 100, 104 = SozR 2200 § 548 Nr 50; § 539 Nr 67 = SGb 1981, 70 mit Anm von Wickenhagen) verunglückt ist. Sofern das LSG diese Auffassung vertreten haben soll, ist ihr nicht beizutreten. Auszugehen ist vielmehr von einer sogenannten gemischten Tätigkeit, die nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen vorliegt, wenn sich eine Verrichtung nicht eindeutig in zwei Teile zerlegen läßt und sowohl privaten - unversicherten - als auch betrieblichen Interessen dient (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 480q ff). Für die Annahme von Versicherungsschutz ist es insoweit nicht erforderlich, daß die Tätigkeit betrieblichen Zwecken überwiegend gedient hat (vgl BSGE 3, 240, 245; 20, 215, 217; Urteil vom 19. Oktober 1981 - 8/8a RU 72/80 - = Lauterbach-Kartei § 548 Abs 1 Satz 1 Nr 11117; Brackmann aaO S 480r mwN); ausreichend ist eine wesentliche Betriebsbezogenheit, die hier zu bejahen ist, weil D. seine Beifahrertätigkeit nicht aufgegeben hatte.
Der Versicherungsschutz ist im vorliegenden Fall aber unter dem Gesichtspunkt der sogenannten selbstgeschaffenen Gefahr zu verneinen. Diesen Aspekt hat auch das LSG nicht übersehen; es hat jedoch das vernunftwidrige und gefährliche Verhalten des D. hinsichtlich seiner Bedeutung für das Zustandekommen des Unfalls unrichtig bewertet. Richtig ist zwar, daß das BSG den Begriff der selbstgeschaffenen Gefahr eng auslegt und ihn nur mit größter Vorsicht handhabt (vgl BSGE 6, 164, 169; 11, 156, 157; 14, 64, 67 = SozR Nr 37 zu § 542 RVO aF; 30, 14 = SozR Nr 5 zu § 550 RVO; 37, 38, 40 = SozR Nr 46 zu § 539 RVO; 42, 129, 133 = SozR 2200 § 548 Nr 22; BSG SozR aaO Nrn 26, 35 und 60; Brackmann aaO S 484h mwN). Es hat in seinem Urteil vom 29. April 1982 (SozR 2200 § 548 Nr 60) noch einmal dargelegt, daß selbst ein in hohem Maße unvernünftiges Verhalten den Kausalzusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall nicht ausschließt, wenn der Versicherte ausschließlich betriebsbedingte Zwecke verfolgt; denn der Gesetzgeber hat den Begriff des Arbeitsunfalls in § 548 Abs 1 Satz 1 RVO unabhängig vom Verschulden des Versicherten festgelegt (vgl auch § 553 RVO). Daraus folgt jedoch, daß die selbstgeschaffene Gefahr Bedeutung gewinnt, wenn der Versicherte bei seiner Tätigkeit neben betrieblichen auch private Interessen verfolgt, wie dies bei gemischten Tätigkeiten der Fall ist (vgl hierzu Brackmann aaO S 484k). Liegen in einem so gelagerten Fall der selbstgeschaffenen Gefahr betriebsfremde Motive zugrunde, so ist entsprechend der für die gesetzliche Unfallversicherung maßgebenden Kausalitätslehre entscheidend, ob die versicherte Tätigkeit gleichwohl eine wesentliche Bedingung des Unfalls gebildet hat oder ob die selbstgeschaffene Gefahr in so hohem Grad unvernünftig war und zu einer solchen besonderen Gefährdung geführt hat, daß die versicherte Tätigkeit nicht mehr als wesentliche Bedingung für den Unfall anzusehen ist (vgl BSG SozR 2200 § 548 Nr 60; Brackmann aaO). Bei dieser rechtlichen Wertung gelangt der Senat - im Gegensatz zum LSG - zu dem Ergebnis, daß die betriebsbedingten Umstände durch die selbstgeschaffene Gefahr so weit zurückgedrängt wurden, daß sie keine wesentliche Bedingung mehr für den Unfall bildeten. D. wollte sich während der Weiterfahrt sonnen, so daß für seinen Aufenthalt auf dem Laufsteg des Tankaufliegers ausschließlich betriebsfremde Motive maßgebend waren. Sein Verhalten war auch in so hohem Maße vernunftwidrig und gefährlich, daß er mit einem Sturz während der Fahrt rechnen mußte. Darin stimmen die Vorinstanzen und die Beteiligten ebenso überein, wie in der Ansicht, daß der gefährliche Aufenthaltsort für den Eintritt des Erfolges ursächlich war. Nicht gefolgt werden kann den Vorinstanzen dagegen insoweit, als sie in der Mitwirkung der betrieblichen Umstände, insbesondere in der von dem mit überhöhter Geschwindigkeit fahrenden Tanklastzug ausgehenden Gefahr, ebenfalls eine wesentliche Bedeutung für die Herbeiführung des Unfalls erkennen. Diese Ursachen erlangten nämlich erst "durch" das leichtsinnige Verhalten des D. eine erhöhte Gefährlichkeit. Im Rahmen der Prüfung, ob der selbstgeschaffene Gefahrenkreis noch wesentlich der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist, kann aber nur von der gewöhnlichen Betriebsgefahr ausgegangen werden, hier also von der für die Insassen eines Tanklastzuges bestehenden Unfallgefahr im Straßenverkehr. Diese ist mit der aus dem eigenwirtschaftlichen Verhalten resultierenden Gefahr zu vergleichen. Der Vergleich führt im vorliegenden Fall dazu, die selbstgeschaffene Gefahr als die einzige Ursache im Rechtssinne zu bewerten. Die gegenteilige Ansicht des LSG beinhaltet im Ergebnis eine Umkehrung des Kausalzusammenhanges, indem es die erhöhte Betriebsgefahr als maßgebend ansieht, die D. erst durch sein gravierend gefährliches Verhalten geschaffen hat. Ein solcher Schluß ist umso weniger berechtigt, als D. nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG zum Unfallzeitpunkt - trotz des vorangegangenen Alkoholgenusses - noch zu zweckgerichtetem Handeln fähig war. Aus diesem Grunde bedurfte es auch keiner weiteren Auseinandersetzung mit den von der Revision geltend gemachten Verfahrensrügen. Die Revision war vielmehr schon aufgrund der unangegriffenen Feststellungen des LSG begründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen