Leitsatz (amtlich)
Will eine Waise eine mehrmonatige Zeitspanne, die zwischen der Schulentlassung und dem absehbaren Beginn der Ausbildung für einen ernsthaft angestrebten Beruf (hier: Beamter des mittleren Dienstes) liegt, in sinnvoller Weise (hier: durch Tätigkeit in einer Verwaltung) überbrücken, wird sie daran jedoch durch Krankheit gehindert, so gehört diese Zeit mit zur Schul- oder Berufsausbildung (Weiterführung von BSG 1969-11-12 4 RJ 495/65 = SozR Nr 38 zu § 1267 RVO).
Normenkette
RVO § 1267 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 30. September 1968 wird aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 5. Oktober 1967 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Gründe
Der Rechtsstreit wird darüber geführt, ob dem im Jahre 1944 geborenen Kläger die - verlängerte - Waisenrente (§ 1267 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) aus der Rentenversicherung seines verstorbenen Vaters in der Zeit vom 1. April 1963 bis zum 29. Februar 1964 zusteht.
Bis März 1963 einschließlich (Schulentlassung) war dem Kläger die Waisenrente gewährt worden. Sie wurde ihm mit Wirkung vom 1. März 1964 an wieder bewilligt, weil er am 2. März 1964 unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Widerruf zum Dienstanwärter für die mittlere Beamtenlaufbahn bei der Stadt H ernannt worden war. Für die Zwischenzeit zahlte die Beklagte keine Rente. Mit seiner Klage auf Gewährung von Waisenrente auch für diese Zeit hatte der Kläger Erfolg (Urteil des Sozialgerichts - SG - vom 5. Oktober 1967). Die Berufung der Beklagten führte zur Aufhebung dieses Urteils und zur Abweisung der Klage durch das Landessozialgericht (LSG-Urteil vom 30. September 1968).
Das LSG hat die folgenden, nicht angegriffenen Feststellungen getroffen: Der alsbald nach der Schulentlassung bei der Stadtverwaltung H gestellte Antrag des Klägers auf Einstellung als Dienstanwärter wurde zunächst - am 18. April 1963 - abgelehnt, weil der Bedarf an Nachwuchskräften gedeckt war. Wenige Wochen später teilte man ihm auf seine Bemühungen hin jedoch mit, daß eine Bewerbung im Herbst aussichtsreich sei. Dementsprechend hat der Kläger gehandelt. Auf seinen erneuten Antrag hin kam es zur Einstellung am 2. März 1964, nachdem ihm bereits am 20. Dezember 1963 eine entsprechende Zusage erteilt worden war. In der Zwischenzeit übte er keine berufliche Tätigkeit aus. Seine Absicht, eine Verwaltungslehre zu beginnen, konnte er nicht verwirklichen, weil er während dieser Zeit wegen einer Bronchitis wiederholt - praktisch ununterbrochen - arbeitsunfähig war. Das Arbeitsamt hatte die Vermittlung einer Arbeits- oder Lehrstelle bis zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit zurückgestellt. - Das LSG hat sodann ausgeführt: Bei diesem Sachverhalt sei die verlängerte Waisenrente während der streitigen Zeitspanne zu Recht nicht gewährt worden. Der Kläger habe sich nicht in Schul- oder Berufsausbildung befunden. Der Gesetzgeber sei davon ausgegangen, daß die Ausbildung in der Regel mit der Vollendung des 18. Lebensjahres beendet sei. Bei der Vorschrift des § 1267 Satz 2 RVO handele es sich um eine Ausnahmevorschrift, sie sei eng auszulegen. Die Schulausbildung des Klägers sei im März 1963 beendet gewesen, die Berufsausbildung habe erst im März 1964 begonnen. Die dazwischenliegende Zeit werde von der genannten Vorschrift nicht erfaßt.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision des Klägers. Er rügt eine Verletzung des § 1267 RVO. Eine Unterbrechung seiner Ausbildung sei nicht eingetreten. Er habe sich sofort nach der Beendigung seiner Schulzeit ernsthaft um eine Ausbildung für den angestrebten Beruf - Beamter des mittleren Dienstes - bemüht. An der Aufnahme einer sinnvollen Beschäftigung in der Zeit zwischen Schulentlassung und - verzögerten - Einstellung als Dienstanwärter sei er durch seine Erkrankung gehindert worden. Dies könne ihm nicht zum Nachteil gereichen.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist begründet. Dem Kläger steht die Waisenrente auch für die Zeit von April 1963 bis Februar 1964 zu.
Nach § 1267 Satz 2 RVO wird die Waisenrente über die Vollendung des 18. Lebensjahres hinaus u. a. dann gewährt, wenn sich das Kind in Schul- oder Berufsausbildung befindet. Das Vorliegen dieser Voraussetzung bejaht der Senat für den Fall des Klägers. Der Senat hält die Erwägungen des LSG, die sich stark an den Wortlaut der gesetzlichen Vorschriften anlehnen, nicht für allein entscheidend. Wesentliche Veränderungen auf vielen für unsere Gesellschaftsordnung bedeutsamen Gebieten lassen eine großzügigere Auslegung geboten erscheinen. Berufsausbildung und -fortbildung müssen aus neuer Sicht gesehen werden. Die technische Entwicklung in Industrie, Handwerk und Verwaltung zwingt in praktisch allen Berufszweigen sowohl zum Erwerb einer möglichst breit angelegten beruflichen Grundlage, als auch zu einer Spezialisierung. Das macht es erforderlich, die Ausbildung nicht nur in Ausnahmefällen über die Vollendung des 18. Lebensjahres hinaus fortzusetzen, die weitergehende Ausbildung vielmehr zum Regelfall werden zu lassen. Daran hat sich die Auslegung derjenigen Vorschriften zu orientieren, die - wie § 1267 Satz 2 RVO - mit dieser Entwicklung gedanklich verknüpft sind. Wenn der ursprüngliche Ausnahmecharakter einer Norm infolge veränderter Lebensumstände verlorengegangen ist, so kann die Rechtsprechung dies nicht unbeachtet lassen. Davon hat sich der Senat bereits in einer früheren Entscheidung 1969 (SozR Nr. 38 zu § 1267 RVO) leiten lassen. In diesem Zusammenhang ist nun zu berücksichtigen, daß heute die Schulausbildung in vielen Fällen nicht mehr nahtlos in die Berufsausbildung übergeht, und zwar aus Gründen, die nicht vom Auszubildenden zu vertreten sind. So vergehen fast immer zwischen Abitur und Immatrikulation an einer Hochschule mehrere Monate. Die Zeit dieser Unterbrechung wird zu Recht von der Praxis in die der Schul- und Berufsausbildung einbezogen. Eine längere Zwangspause kann sich auch daraus ergeben, daß es für bestimmte Berufszweige an Ausbildungsstätten - z. B. für einen Bewerber um die Beamtenlaufbahn an einer geeigneten und sofort aufnahmebereiten Verwaltung - fehlt. Oft werden 6 oder gar 12 Monate vergehen, bis mit der beabsichtigten Ausbildung begonnen werden kann. Der Senat hält es nicht für vertretbar, dem Berechtigten der Waisenrente wegen zuzumuten, zwischenzeitlich einen anderen Beruf zu ergreifen oder eine Tätigkeit nur des Gelderwerbs wegen aufzunehmen. Es muß genügen, daß er die Pause - im Hinblick auf seinen erstrebten Beruf - sinnvoll nutzt oder daran unverschuldet - z. B. durch Krankheit - gehindert wird. Die altersmäßige Begrenzung der verlängerten Waisenrente - in der Regel längstens bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres - sorgt dafür, daß diese Leistung nicht in einer für die Versichertengemeinschaft untragbaren Weise in Anspruch genommen werden kann. Die Freiheit der Berufswahl aus dem Recht der Rentenversicherung her beeinflussen zu wollen, wird allenfalls dann zulässig sein, wenn die Verwirklichung der Berufswahl aussichtslos erscheint. Dies ist aber dann ausgeschlossen, wenn - wie hier - nach der Schulausbildung alsbald ernsthaft ein bestimmter Beruf angestrebt wird und begründete Aussicht besteht, in absehbarer Zeit mit der dafür erforderlichen Ausbildung beginnen zu können.
Diese Überlegungen führen unter Berücksichtigung der besonderen Gegebenheiten des zu entscheidenden Falles zu dem Ergebnis, daß eine im Rahmen des § 1267 Satz 2 RVO bedeutsame Unterbrechung der Schul- und Berufsausbildung nicht eingetreten ist. Der Kläger hat unmittelbar im Anschluß an seine Schulentlassung die Einstellung als Dienstanwärter für die mittlere Beamtenlaufbahn angestrebt. Aussicht auf Erfolg in absehbarer Zeit war diesem Bemühen nicht abzusprechen. Der ursprünglichen Ablehnung aus nicht in der Person des Klägers liegenden Gründen folgte alsbald die Ermunterung, die Bewerbung zu wiederholen. Sie führte bereits im Dezember 1963 zur Erteilung der Einstellungszusage. Hätte der Kläger - wie es sein Plan war - die Zwangspause durch eine - für sein Berufsziel zweckvolle - Tätigkeit in der Verwaltung überbrückt, so wäre schon nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) eine Unterbrechung in der Schul- oder Berufsausbildung nicht anzunehmen. An der Verwirklichung dieser seiner Absicht ist der Kläger durch seine Krankheit gehindert worden. Selbst eine mehrmonatige Krankheit ist aber nicht geeignet, eine im Rahmen des § 1267 Satz 2 RVO bedeutsame Unterbrechung der Ausbildung herbeizuführen. Zu diesem Ergebnis ist das BSG schon in seinem Urteil vom 4. Mai 1965 (SozR Nr. 16 zu § 1267 RVO) gelangt, obgleich sich diese Entscheidung noch verhältnismäßig eng an den Wortlaut des § 1267 Abs. 1 Satz 2 RVO anlehnt. Es ist ohne rechtliche Bedeutung, in welchem Stadium der Ausbildung die Krankheit eintritt, wenn sie nur die Waise an der Fortsetzung der Ausbildung - dazu gehört auch die Ausübung einer im Hinblick auf das Berufsziel sinnvollen Tätigkeit während einer Zwangspause - hindert.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen