Leitsatz (redaktionell)

Inlandsinternierung - Ersatzzeit?

Im Anschluß an frühere Entscheidungen des BSG (Urt vom 1974-03-15 - 11 RA 109/73 und vom 1974-12-05 - 11 RA 59/74) hat auch der 1. Senat für die Zeit der Inlandsinternierung eine Ersatzzeit nach RVO § 1251 Abs 1 Nr 1 verneint. Die Kriegsgefangenschaft ist mit der formellen Entlassung beendet, so daß der hieran anschließende weitere - berechtigte oder unberechtigte - Gewahrsam keinen Ersatzzeittatbestand darstellt. Eine extensive Gesetzesauslegung sei hier nach der Absicht des Gesetzgebers nicht angezeigt.

 

Normenkette

RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09; AVG § 28 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 17. Dezember 1974 aufgehoben, soweit die Beklagte verpflichtet worden ist, bei der Berechnung des Altersruhegeldes des Klägers eine Ersatzzeit vom 10. April bis 2. August 1946 anzurechnen. Insoweit wird die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 22. Mai 1974 zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger ein höheres Altersruhegeld unter zusätzlicher Berücksichtigung der Zeit vom 10. April bis 2. August 1946 als Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) zusteht.

Der im April 1909 geborene Kläger war im zweiten Weltkrieg Soldat in einem Nachrichtenregiment und verrichtete zuletzt Dienst auf einer Funkstelle in der Nähe H. Nach seinen Angaben wurden dort auch geheimdienstliche Funktionen wahrgenommen. Bei Kriegsende setzte er sich von seiner Truppeneinheit nach H ab. Als er im August 1945 zum Nachweis seiner Entlassung aus der deutschen Wehrmacht den sogenannten D 2-Schein beantragte, wurde er von der englischen Besatzungsmacht in ein Internierungslager nach H gebracht. Nach dem ihm dort ausgehändigten Entlassungsschein erfolgte die Entlassung vom "Heer" am 9. April 1946. Anschließend wurde der Kläger jedoch noch bis zum 2. August 1946 von der Besatzungsmacht in dem Internierungslager festgehalten.

Die Beklagte gewährte dem Kläger vom 1. Januar 1973 an ein Altersruhegeld und berücksichtigte dabei als Ersatzzeit im Sinne des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG lediglich den von Mai 1940 bis Mai 1945 geleisteten Wehrdienst (Bescheid vom 28. März 1973).

Die Klage, mit welcher der Kläger auch die rentensteigernde Anrechnung der Zeit vom 21. August 1945 bis 2. August 1946 als Ersatzzeit begehrte, hatte vor dem Sozialgericht (SG) keinen Erfolg (Urteil vom 22. Mai 1974). Auf die Berufung des Klägers hob das Landessozialgericht (LSG) die erstinstanzliche Entscheidung auf und verpflichtete die Beklagte, in Abänderung des angefochtenen Rentenbescheides bei der Berechnung des Altersruhegeldes die beantragte Ersatzzeit in vollem Umfang anzurechnen. Zur Begründung stützte es sich im wesentlichen darauf, daß die Gefangennahme und die Überführung des Klägers in das Internierungslager im August 1945 auf seiner Zugehörigkeit zu einem militärischen Verband beruht habe. Dem stehe nicht entgegen, daß der Kläger sich damals bereits von seiner Truppeneinheit gelöst gehabt habe. Erst mit der Aushändigung des D 2-Scheins im Internierungslager durch die britische Besatzungsmacht sei der Kläger aus der - damals handlungsunfähigen - deutschen Wehrmacht entlassen worden. Aus dem Festhalten des Klägers im Internierungslager über den Zeitpunkt seiner förmlichen Entlassung aus dem deutschen Heer (9. April 1946) hinaus sei nicht zu folgern, daß politische Gründe den Ausschlag für seine weitere - allerdings kurzfristige - Internierung gegeben hätten. Diese könne im Hinblick auf das der Siegermacht obliegende Gebot der Freilassung und Heimschaffung von Kriegsgefangenen nach Beendigung der Feindseligkeiten völkerrechtlich fragwürdig sein. Indessen berühre eine mögliche Verletzung der völkerrechtlich gebotenen Behandlung der Kriegsgefangenen nicht den Status als Kriegsgefangener (Urteil vom 17. Dezember 1974).

Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG durch das Berufungsgericht, soweit im angefochtenen Urteil auch die Zeit vom 10. April bis 2. August 1946 als anrechenbare Ersatzzeit bejaht worden ist.

Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit sie verurteilt worden ist, bei der Berechnung des Altersruhegeldes eine Ersatzzeit vom 10. April bis 2. August 1946 anzurechnen; insoweit beantragt sie außerdem, die Berufung gegen das Urteil des SG Hamburg vom 22. Mai 1974 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die durch Zulassung statthafte Revision ist begründet.

Da im Hinblick auf den eingeschränkten Revisionsantrag der Revisionsklägerin die Voraussetzungen für die Anrechnung der Zeit vom 21. August 1945 bis 9. April 1946 als Ersatzzeit wegen Kriegsgefangenschaft im Sinne von § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG nicht mehr streitig sind, ist nur noch darüber zu entscheiden, ob auch der anschließende Zeitraum bis zum 2. August 1946 beim Altersruhegeld des Klägers als Ersatzzeit berücksichtigt werden muß. Insoweit ist das LSG zutreffend davon ausgegangen, daß eine rentensteigernde Anrechnung dieser Zeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 2 AVG ausscheidet, weil der Kläger nicht Heimkehrer im Sinne des § 1 des Heimkehrergesetzes (HkG) ist. Der Rechtsauffassung des LSG, daß der Kläger in der noch streitigen Zeit weiterhin in Kriegsgefangenschaft gewesen und deshalb auch für sie eine Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG zu bejahen sei, kann indes unter Beachtung der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht gefolgt werden.

Die Kriegsgefangenschaft des Klägers war bereits mit seiner formellen Entlassung am 9. April 1946 beendet. Daran ändert nichts, daß er nicht sofort freigelassen, sondern unmittelbar im Anschluß an die Entlassung als Kriegsgefangener durch die damalige britische Besatzungsmacht weiterhin in Gewahrsam gehalten wurde (ebenso übereinstimmend BSG-Urteile vom 15.3.1974 - 11 RA 109/73 - und 5.12.1974 - 11 RA 59/74 - jeweils mit weiteren Nachweisen). Die Ansicht des Berufungsgerichts, es habe sich bei dieser anschließenden Internierung nicht um einen sogenannten automatischen Arrest gehandelt, weil für sie politische Gründe nicht den Ausschlag gegeben hätten, kann nicht - wie dies das LSG tut - damit belegt werden, daß die Gefangennahme und die sofortige Überführung des Klägers in das Internierungslager Neuengamme auf seiner Zugehörigkeit zu einem militärischen Verband beruhte. Denn diese Argumentation spricht lediglich für eine Kriegsgefangenschaft bis zur formellen Entlassung am 9. April 1946 und damit für eine Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG, über die im vorliegenden Rechtsstreit nicht mehr zu entscheiden ist. Für die - allein noch streitige - Zeit der Internierung im Anschluß an die Entlassung steht der Annahme eines automatischen Arrestes auch nicht - wie das LSG meint - entgegen, daß der Kläger nach einer Auskunft des Dokument Center Berlin in keiner Weise politisch belastet war. Auch ein zu Unrecht erfolgter automatischer Arrest kann nämlich nicht als Fortsetzung der Kriegsgefangenschaft angesehen werden (ebenso BSG-Urteil vom 5.12.1974 aaO und Urteil des erkennenden Senats vom 22.11.1974 - 1 RA 85/74).

Aber selbst wenn die Zeit der sich an die förmliche Entlassung aus dem deutschen Heer anschließenden Internierung entsprechend den Ausführungen des LSG völkerrechtlich noch als Kriegsgefangenschaft aufzufassen wäre, hätte das nicht zur Folge, daß diese Zeit auch als Kriegsgefangenschaft im Sinne des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG zu werten ist. Das Berufungsgericht übersieht in diesem Zusammenhang, daß der Gesetzgeber bei der Ersatzzeitenregelung in dieser Vorschrift den völkerrechtlichen Begriff der Kriegsgefangenschaft nicht uneingeschränkt zugrunde zu legen brauchte (vgl. BSG-Urteile vom 15.3. und 5.12.1974 aaO unter Hinweis auf BSG in SozR Nr. 70 zu § 1251 RVO). Wie der erkennende Senat im Urteil vom 22. November 1974 aaO anhand der historischen Entwicklung des näheren aufgezeigt hat, war der Ausschluß der Zeiten der Inlandsinternierung von der Anrechenbarkeit als Ersatzzeit in § 28 Abs. 1 Nr. 2 AVG vom Gesetzgeber beabsichtigt ohne Rücksicht darauf, ob die Internierung im Einzelfall berechtigt gewesen war oder nicht. Dieser bewußte Ausschluß würde aber umgangen, wenn man die Inlandsinternierung im Anschluß an eine formell beendete Kriegsgefangenschaft in der vom Berufungsgericht vorgenommenen extensiven Gesetzesauslegung der Ersatzzeitenregelung in § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG zuordnen wollte.

Die Kostenentscheidung beruht - unter Berücksichtigung des von der Revisionsklägerin eingeschränkten Revisionsbegehrens - auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1647412

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