Leitsatz (amtlich)
Der Aufenthalt der Berechtigten außerhalb des Geltungsbereichs der RVO steht der Zahlung der Witwenrentenabfindung entgegen, sofern nicht übernationales Recht oder zwischenstaatliche Abkommen diese zulassen.
Normenkette
RVO § 1315 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1960-02-25, § 1317 Fassung: 1960-02-25, § 1302 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 12. Mai 1964 wird aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Beklagte lehnt es ab, der Klägerin die Witwenrentenabfindung (§ 1302 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) ins Ausland zu zahlen.
Die Klägerin hatte aus der Arbeiterrentenversicherung ihres ersten - verschollenen-Ehemannes Witwenrente bezogen. Im November 1961 heiratete sie in den USA zum zweiten Mal. Sie hält sich seitdem in Nordamerika auf.
Sie hat Klage erhoben mit dem Antrag, den ablehnenden Bescheid der Beklagten vom 26. April 1963 aufzuheben und diese zur Zahlung der Abfindung zu verurteilen. Das Sozialgericht (SG) Würzburg hat mit Urteil vom 12. Mai 1964 der Klage stattgegeben. Es hat die Zahlungspflicht der Beklagten daraus hergeleitet, daß die Witwenrente beim Aufenthalt der Berechtigten im Ausland nicht ruhen würde und daß für die Abfindung nichts anderes gelten könne, weil sie nur die Nachwirkung "der bisher bezogenen Rente" sei (§ 1302 Abs. 1 RVO).
Das SG hat die Berufung zugelassen. Die Beklagte hat unter Übergehung dieses Rechtsmittels mit Einwilligung der Klägerin unmittelbar Revision eingelegt und beantragt, das erstinstanzliche Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie erblickt in den §§ 1315 bis 1323 a RVO eine abschließende Regelung über die Zahlung von Leistungen beim Aufenthalt außerhalb des Geltungsbereichs der RVO. Über die Rentenabfindungen sei in diesen Vorschriften nichts gesagt; diese nähmen aber nicht allgemein am rechtlichen Schicksal der ihnen entsprechenden Renten teil, sondern würden in den Rentenversicherungen gesondert als Regelleistungen behandelt (§ 1235 Nr. 3 RVO); sie dürften ohne besondere gesetzliche Ermächtigung nicht ins Ausland bewirkt werden. Das ergebe auch der Umkehrschluß aus § 1323 a RVO; dort habe der Gesetzgeber eine Sonderregelung für Beitragserstattungen getroffen und dadurch zum Ausdruck gebracht, daß ohne eine solche Sonderbestimmung der Auslandsaufenthalt einer Leistung entgegenstehe.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Sprungrevision ist zulässig und begründet.
Die Klägerin verlangt ohne Erfolg die Abfindung der Witwenrente, weil sie sich freiwillig gewöhnlich außerhalb des Geltungsbereichs der RVO aufhält (vgl. §§ 1315 Abs. 1 Nr. 1, 1317 RVO). Diese Rechtsfolge ergibt sich aus dem Grundsatz, der für die Gewährung von Geldleistungen ins Ausland maßgeblich ist. Danach ruht unter den angeführten Voraussetzungen die Leistung, soweit nicht das Gesetz etwas anderes anordnet (vgl. Jantz in Maunz/Schraft, Die Sozialversicherung der Gegenwart, Bd. 3, S. 28; ferner: § 625 RVO nF). Dieser Grundsatz folgt aus dem Territorialprinzip, wonach sich die Sozialversicherungsgesetze im allgemeinen nur auf das Inland beziehen (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung Bd. 1, S. 293; Plöger/Wortmann, Deutsche Sozialversicherungsabkommen mit ausländischen Staaten, Allgemeiner Teil, S. 89). Aus dem - dem Gesamtinhalt des Gesetzes abzuleitenden - Gedanken heraus, daß Leistungen der Rentenversicherung regelmäßig nur im deutschen Rechtsanwendungsgebiet zu erbringen sind, müssen die §§ 1315 bis 1323 a RVO verstanden werden. Diese Vorschriften behandeln - vereinfachend ausgedrückt und von hier nicht interessierenden Weiterungen abgesehen - die Ausnahmen von der Regel. Solche Ausnahmen sieht das Gesetz vornehmlich für Renten und Beitragserstattungen, nicht dagegen allgemein für sonstige Leistungen vor, also auch nicht für Rentenabfindungen (BSG 22, 263; aA Komm. des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger, 6. Aufl., Vorbemerkung 3 vor § 1315 RVO).
Für diese Grundeinstellung des Gesetzes ist bestimmend, daß sich der Gesetzgeber die Entschließung darüber vorbehalten wollte, ob und unter welchen Voraussetzungen Leistungsansprüche außerhalb des Landes wohnender Berechtigter zu erfüllen sind (vgl. § 1316 RVO). Eine solche Entscheidung kann Gegenstand einer völkerrechtlichen Vereinbarung oder Norm oder ein späterer Gesetzgebungs- oder Regierungsakt sein. Demgemäß wird denn auch der Grundsatz, daß die Zahlungspflicht an den Landesgrenzen endet, in zwischenstaatlichen Verträgen häufig - aber beachtlicherweise nicht immer - ausdrücklich umgekehrt. So "gilt" beispielsweise nach Art. 3 Abs. 4 des deutsch-niederländischen Sozialversicherungsabkommens (BGBl II 1951 S. 222) bei Anwendung sozialversicherungsrechtlicher Vorschriften "über die Abfindung von Ansprüchen oder die Gewährung anderer einmaliger Leistungen ... der Aufenthalt im Gebiet des anderen Staates für die deutschen und niederländischen Staatsangehörigen nicht als Aufenthalt im Ausland".
Für das Gegenteil des hier verwerteten Grundsatzes spricht nicht die dem Unterabschnitt D des Zweiten Abschnitts des 4. Buchs der RVO gegebene Überschrift. An dieser Stelle ist zwar von der Zahlung von "Leistungen" beim Aufenthalt außerhalb des Geltungsbereichs der RVO die Rede. Man könnte geneigt sein, anzunehmen, in diesem Gesetzesabschnitt seien die Tatbestände aufgeführt, bei deren Verwirklichung Leistungen trotz des an sich zu erfüllenden Anspruchs nicht oder nur unter bestimmten Voraussetzungen zu erbringen seien. Mit einer solchen Interpretation würde die Bedeutung einer Überschrift jedoch überbewertet. Abschnittsüberschriften sollen den Überblick über die Gesetzesanordnungen erleichtern. Sie mögen mitunter ein Fingerzeig für die Vorstellungen des Gesetzgebers sein, einen selbständigen Norminhalt haben sie aber nicht. Hier kann die Überschrift zwanglos dahin erklärt werden, daß der Gesetzgeber daran dachte, die Ermächtigungen zu Zahlungen ins Ausland später zu erweitern, und daß er deshalb dem Gesetzesteil, den er für solche Rechtsetzungsakte zur Verfügung hält, eine umfassendere Überschrift gab.
Der erkennende Senat meint, für seine Rechtsauffassung auch eine Stütze in einem gesetzgeberischen Vorgang aus jüngerer Zeit zu haben. Durch das Rentenversicherungs-Änderungsgesetz (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 ist in die RVO der § 1323 a eingefügt worden.
Mit dieser Vorschrift wurde die Erstattung von Beiträgen ins Ausland erlaubt. Bis dahin war die Erstattung - dem oben erörterten Grundsatz gemäß - als unzulässig angesehen worden (vgl. Begründung des Regierungsentwurfs - Bundestagsdrucks. IV 2572 - zu Art. 1 § 1 Nr. 19). Die Wortfassung des § 1323 a RVO ist bezeichnend für die Vorstellung des Gesetzgebers. Ausgehend von dem Gedanken der generellen Leistungsschranke, die es zu überwinden galt, heißt es: "Der Beitragserstattung ... steht nicht entgegen, daß sich der Berechtigte im Ausland aufhält".
Die für die Beitragserstattung zugelassene Durchbrechung des allgemeinen Prinzips fehlt für Witwenrentenabfindungen. Das ist nicht unbeabsichtigt; denn während der Gesetzesberatungen, die zu § 1323 a RVO führten, ist im Bundestagsausschuß für Sozialpolitik auch über die Möglichkeit, die Witwenrentenabfindungen ins Ausland zu zahlen, gesprochen und dabei sogar die bisher unterschiedliche Praxis der Versicherungsträger erörtert worden. Gleichwohl hat der Gesetzgeber eine Klarstellung seines Willens nicht für geboten erachtet. Das versteht der erkennende Senat dahin, daß der Gesetzgeber annahm, durch die Einfügung des § 1323 a in die RVO werde der Ausnahmecharakter dieses Rechtssatzes und die enumerative Gesetzesgestaltung in diesem Gesetzesabschnitt hinreichend deutlich werden.
Eine Parallele zu dem Grundsatz der Nichterfüllung von Ansprüchen aus der Rentenversicherung beim Auslandsaufenthalt findet sich in § 159 des Bundesbeamtengesetzes. Danach ruhen beamtenrechtliche Versorgungsansprüche aus dem gleichen Grunde. Allerdings kann die oberste Dienstbehörde Ausnahmen zulassen. Dieser Vorbehalt der Privilegierung vom generellen Ausschuß der Anspruchsbefriedigung ähnelt der entsprechenden Regelung im Rentenversicherungsrecht (vgl. § 1316 RVO). Mögen auch die gesetzgeberischen Motive für den Vorbehalt im einen und anderen Falle unterschiedlich sein, so tritt doch in diesen Regelungen die Tendenz zutage, sich der Zahlungsfreigabe - im Einzelfalle oder für eine Gruppe von Fällen - nicht völlig zu begeben, sie vielmehr der Exekutivspitze zu übertragen.
Die Voraussetzungen, unter denen Renten - abweichend von dem allgemeinen Prinzip - in ein Gebiet transferiert werden, in dem die RVO nicht gilt (vgl. vorzugsweise die §§ 1318 bis 1321 RVO), können nicht ohne weiteres auf Rentenabfindungen übertragen werden. Abfindungsansprüche setzen zwar den Bestand des Rentenrechts oder wenigstens eines realisierbaren Rentenanspruchs voraus; erstere werden also von den letzteren abgeleitet (vgl. BSG SozR Nr. 1 zu § 83 RKG). Deshalb mag es naheliegend erscheinen, von der Rechtsähnlichkeit der für beide geltenden Normen zu sprechen. Das Gesetz zählt jedoch in dem Katalog der Regelleistungen die Rentenabfindungen selbständig und gesondert neben den Renten und anderen Leistungen auf (§ 1235 Nr. 3 RVO). Die äußere Verwandtschaft in der Rechtsnatur zwischen Renten und ihren Abfindungen rechtfertigt allein keine analoge Anwendung der §§ 1318 ff. RVO. Die Rente dient der Unterhaltsbefriedigung im Interesse des einzelnen; mit der Abfindung verfolgt der Gesetzgeber dagegen vornehmlich ein allgemeines sozialethisches Ziel. Die für Renten bestehenden Vorschriften der §§ 1315 ff RVO können deshalb nur in den in ihnen unmittelbar angeführten Fällen Platz greifen.
Ebenso verbietet sich die Parallele zwischen dem Fall der Rentenabfindung und der Beitragserstattung ins Ausland (§ 1323 a RVO). Eine Gleichsetzung dieser beiden Ansprüche scheitert an der Verschiedenheit der ihnen zugrunde liegenden Interessenlagen. Dieser Unterschied besteht ua darin, daß Beitragserstattungen weitere Ansprüche aufgrund zurückliegender Versicherungszeiten definitiv ausschließen (§ 1303 Abs. 7 RVO), während Witwenrentenabfindungen den Versicherungsträger nicht für alle Zukunft aus seiner Leistungspflicht endgültig entlassen. (§ 1291 Abs. 2 RVO).
Für das hier gefundene Ergebnis ist nicht erheblich, ob die Klägerin Deutsche geblieben ist oder ob sie - woran man denken könnte - die Staatsangehörigkeit der USA erworben hat. Die Vorinstanz hat dazu keine Feststellungen getroffen; sie ist allem Anschein nach davon ausgegangen, daß die Klägerin ihre deutsche Nationalität beibehalten hat. Das entspricht der Rechtslage, die sich nach dem heutigen Staatsangehörigkeitsrecht - ohne Hinzutreten weiterer Gegebenheiten - von selbst versteht. Denn wenn auch der zweite Ehemann der Klägerin Ausländer, namentlich Amerikaner gewesen sein sollte, so beeinträchtigte die zweite Heirat im Jahre 1961 nach dem zu dieser Zeit geltenden Recht nicht mehr von selbst die deutsche Staatsangehörigkeit der Klägerin. Im übrigen wäre die Klägerin als Staatsbürgerin der USA einer Inländerin gleichgestellt (Art. IV Nr. 2, XXV Abs. 1 des Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika, BGBl. II 1956 S. 487). Als Amerikanerin hätte sie beim Auslandsaufenthalt keine Leistungen zu beanspruchen, die im gleichen Falle auch einer Inländerin nicht zu erbringen sind (BSG SozR Nr. 2 zu § 1318 RVO).
Nach allem ist der Anspruch der Klägerin auf Zahlung der Witwenrentenabfindung unbegründet. Das angefochtene Urteil war nicht aufrechtzuerhalten, die Klage vielmehr abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1, 4 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 2380130 |
BSGE, 227 |