Leitsatz (redaktionell)
Verpflichtungsklage auf RVO § 1300 gestützt - SGG § 79 Nr 2:
1. Für eine auf RVO § 1300 gestützte Verpflichtungsklage ist ein Vorverfahren nach SGG § 79 Nr 2 zu fordern.
2. In der Klage kann zugleich ein Widerspruch liegen.
Normenkette
RVO § 1300 Fassung: 1957-02-23; SGG § 79 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, Nr. 1 Fassung: 1953-09-03, § 54 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 7. Juni 1962 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin als geschiedene Frau Anspruch auf Hinterbliebenenrente hat.
Die Ehe der Klägerin mit dem Versicherten wurde 1949 aus beiderseitigem Verschulden geschieden. Dieser heiratete im Mai 1957 wieder und starb im Juli des selben Jahres. Die Klägerin verdiente nach der Scheidung ihren Lebensunterhalt selbst; ihr und den zwei aus der Ehe hervorgegangenen damals noch minderjährigen Kindern stellte der Versicherte in seinem Behelfsheim Wohnraum zur Verfügung.
Im Juli 1957 beantragte die Klägerin Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres geschiedenen Ehemannes. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 4. März 1958 diesen Antrag ab, weil die Voraussetzungen für die Gewährung einer solchen Rente (§ 1265 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) nicht erfüllt seien, denn der Versicherte habe nach der Scheidung nichts mehr zum Unterhalt der Klägerin beigetragen. Die hiergegen erhobene Klage nahm die Klägerin zurück.
Am 5. September 1958 begehrte die Klägerin bei der Beklagten eine nochmalige Prüfung ihres Rentenantrages. Sie legte eine gutachtliche Äußerung der Stadt Augsburg vom 14. August 1958 vor; danach haben die überlassenen Wohnräume einen Mietwert von monatlich 34,35 DM. Die Beklagte berief sich in einem Schreiben vom 12. September 1958 an die Klägerin auf den bindend gewordenen Bescheid vom 4. März 1958. Mit Eingaben vom 2. März und 15. April 1959 wiederholte die Klägerin ihr Begehren auf Überprüfung ihres Rentenantrages. Die Beklagte teilte daraufhin am 28. April 1959 der Klägerin nochmals mit, durch die Rücknahme der früheren Klage sei das Verfahren abgeschlossen.
Hiergegen hat die Klägerin Klage erhoben; das Sozialgericht (SG) hat sie abgewiesen, das Landessozialgericht (LSG) die Berufung zurückgewiesen. Es hat dazu ausgeführt, der Bescheid vom 28. April 1959 betreffe keine im Ermessen des Versicherungsträgers stehende Leistung, sondern die Hinterbliebenenrente nach § 1265 RVO, also eine Leistung, auf die ein Rechtsanspruch bestehe. Der Versicherungsträger sei nach § 1300 RVO verpflichtet, den früheren Bescheid zu überprüfen, wenn der Versicherte es begehre oder wenn der Versicherungsträger auf andere Weise hierzu veranlaßt werde. Das Ergebnis seiner tatsächlichen und rechtlichen Würdigung könne entweder die Überzeugung sein, daß eine Leistung zu Unrecht abgelehnt worden sei oder daß ein Anspruch in Übereinstimmung mit dem bindenden ablehnenden Bescheid nicht bestehe. Für ein Ermessen lasse diese Rechtsanwendung keinen Raum. Ein Vorverfahren habe daher nach § 79 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht stattzufinden. Ein Vorverfahren sei aber im vorliegenden Fall auch nicht durch § 79 Nr. 2 SGG geboten, weil die Klägerin nicht die Verurteilung der Beklagten zum Erlaß eines bisher abgelehnten Verwaltungsakts begehre. Vielmehr habe die Beklagte einen Bescheid erteilt, in dem sie unter Hinweis auf ihren früheren Bescheid ausführe, daß sie keine für die Klägerin günstigere Entscheidung treffen, also die begehrte Leistung nicht gewähren könne. § 79 Nr. 2 SGG sei nicht anzuwenden, wenn der Versicherungsträger die Bewilligung einer Leistung ablehne und der Versicherte daraufhin die Leistungsklage erhebe. Im übrigen habe das SG den ablehnenden Bescheid der Beklagten auch zu Recht bestätigt, denn die Voraussetzungen des § 1265 RVO seien bei der Klägerin nicht erfüllt.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Mit der Revision beantragt die Klägerin,
1. das angefochtene Urteil aufzuheben;
2. die Beklagte zur Vornahme des von ihr abgelehnten Verwaltungsakts (im Vorverfahren nachprüfbarer Neufeststellungsbescheid) zu verurteilen,
hilfsweise:
die Beklagte zur Zahlung der von der Klägerin begehrten Hinterbliebenenrente zu verurteilen;
3. der Beklagten die Kosten des Revisionsverfahrens aufzuerlegen.
Sie rügt, das LSG habe verkannt, daß die Entscheidung eines Versicherungsträgers gemäß § 1300 RVO vor der Durchführung des gerichtlichen Verfahrens in einem Vorverfahren nach § 79 SGG nachzuprüfen sei. Außerdem stehe der Klägerin auch eine Rente nach § 1265 RVO zu, denn der geschiedene Ehemann der Klägerin habe ihr im letzten Jahr vor seinem Tode durch Zurverfügungstellung von Wohnraum Unterhalt geleistet.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für richtig.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Das LSG hat verkannt, daß die Klägerin - unbeschadet der Fassung ihrer Anträge - mit ihrer Klage "die Verurteilung der Beklagten zum Erlaß eines abgelehnten Verwaltungsakts" im Sinne der §§ 54 Abs. 1 Satz 1, 79 Nr. 2 SGG begehrt. Weil die Klägerin die Ansicht vertritt, in dem bindend gewordenen Bescheid vom 4. März 1958 sei nicht berücksichtigt worden, daß ihr geschiedener Ehemann ihr im letzten Jahr vor seinem Tode durch die Bereitstellung von Wohnraum mit einem Mietwert von monatlich rd. 34,- DM Unterhalt geleistet habe, erstrebt sie die Überprüfung ihres Rentenantrags. Darin haben die Vorinstanzen zu Recht einen Antrag auf Neufeststellung der Rente nach § 1300 RVO erblickt. Nach dieser Vorschrift hat ein Träger der Rentenversicherung die Rente "neu festzustellen", wenn er sich überzeugt, daß die Rente zu Unrecht abgelehnt worden ist. Die Beklagte hat eine solche Neufeststellung abgelehnt. Die Klägerin meint, die Beklagte habe dies zu Unrecht getan, denn durch den Nachweis einer Unterhaltsleistung in Form der Bereitstellung von Wohnraum seien die Voraussetzungen des § 1300 RVO erfüllt, unter denen die Beklagte nicht mehr an der Bindungswirkung des Bescheides vom 4. März 1958 festhalten dürfe, sondern die Rente "neu feststellen" müsse. In einem solchen Falle geht das Klagebegehren dahin, daß die Ablehnung der Neufeststellung als rechtswidrig aufgehoben und die Beklagte verpflichtet werde, einen "neuen", bisher "abgelehnten" Bescheid über die Gewährung der Rente zu erteilen. Dabei handelt es sich, wie das Bundessozialgericht (BSG) inzwischen entschieden hat (BSG 20, 199 = SozR SGG § 79 Da 3 Nr. 11), um die Zusammenfassung einer Aufhebungs- und Verpflichtungsklage im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG. Für eine auf § 1300 RVO gestützte Verpflichtungsklage ist § 79 Nr. 2 SGG anzuwenden, d. h. ein Vorverfahren zu fordern. Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an. Diese Rechtslage hat das LSG bei seiner Entscheidung verkannt; es hat auch übersehen, daß in der Klage zugleich ein Widerspruch liegt und daß deshalb die Widerspruchsfrist gewahrt ist (BSG aaO).
In Übereinstimmung mit der erwähnten Entscheidung des BSG ist auch für diesen Rechtsstreit zu unterstellen, daß die Klägerin, wenn ihr prozessuales Ziel nicht anders erreichbar ist, zunächst die Durchführung des Vorverfahrens will, um den Widerspruchsbescheid in die Klage mit einbeziehen zu können. Bei dieser Rechtslage ist den Beteiligten vor der Entscheidung über den Anspruch selbst noch Gelegenheit zu geben, das Vorverfahren zu Ende zu führen. Das LSG ist deshalb nicht einwandfrei verfahren, wenn es ohne Vorliegen eines Widerspruchsbescheides zur Sache entschieden hat. Es fehlte für diese Entscheidung an der nach § 79 Nr. 2 SGG vorgeschriebenen Sachurteilsvoraussetzung.
Aus diesem Grunde ist das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG an das LSG zurückzuverweisen. Das LSG wird den Beteiligten Gelegenheit geben müssen, das Vorverfahren abzuschließen. Bei seinem Urteil wird das LSG hinsichtlich der Würdigung des Widerspruchsbescheides die hierzu in der zitierten Entscheidung des BSG angestellten Erwägungen und hinsichtlich des von der Klägerin geltend gemachten Anspruchs auf Hinterbliebenenrente die Grundsätze des Urteils des erkennenden Senats vom 27. Oktober 1964 (BSG 22, 44 = SozR RVO § 1265 A a 24 Nr. 26) mit zu berücksichtigen haben.
Über die Kosten des Revisionsverfahrens ist im abschließenden Urteil mit zu entscheiden.
Fundstellen