Leitsatz (amtlich)

Gleichstellung freiwilliger Beiträge bei Anwendung des AVG § 28 Abs 2 S 2 Buchst c mit Pflichtbeiträgen - keine Gleichbehandlung von Ersatz- und Ausfallzeiten:

Die Anrechnung von Ersatzzeiten auf Grund von AVG § 28 Abs 2 S 2 Buchst c setzt außer der dort verlangten Halbbelegung auch voraus, daß nach Ablauf der Dreijahresfrist eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen worden ist. Dieses Erfordernis ist nicht erfüllt, wenn der Versicherte nur freiwillige Beiträge entrichtet hat, auch wenn diese gemäß AnVNG Art 2 § 54a "bei Anwendung des AVG § 28 Abs 2 S 2 Bucht c" Pflichtbeiträgen gleichstehen.

 

Normenkette

AVG § 28 Abs. 2 S. 2 Buchst. c Fassung: 1972-10-16; RVO § 1251 Abs. 2 S. 2 Buchst. c Fassung: 1972-10-16; AnVNG Art. 2 § 54a Abs. 2 S. 1 Fassung: 1972-10-16

 

Tenor

Auf die Sprungrevision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 9. Oktober 1975 aufgehoben.

Die Klage gegen den Bescheid vom 4. Dezember 1974 wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin bezieht Witwenrente aus der Versicherung ihres im Juli 1973 verstorbenen Ehemannes. Dieser hatte keine Pflichtbeiträge, vielmehr nur freiwillige Beiträge für Zeiten nach 1946 - u.a. für Beschäftigungszeiten, in denen er wegen Überschreitens der Jahresarbeitsverdienstgrenze versicherungsfrei oder von der Angestelltenversicherungspflicht befreit war - entrichtet bzw. gemäß Art. 2 § 49 a Abs. 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) nachentrichtet.

Aufgrund dieser Beitragsleistung hat die Beklagte in ihrem Bescheid vom 4. Dezember 1974 zwar die von der Klägerin geltend gemachten Ausfallzeiten angerechnet, weil sie die erforderliche Halbbelegung für gegeben hielt; die außerdem begehrte Anrechnung von Ersatzzeiten vom 26. August 1939 bis 31. Dezember 1946 im Sinne von § 28 Abs. 1 Nrn. 1 und 6 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) hat die Beklagte dagegen mit der Begründung abgelehnt, die Voraussetzungen dafür seien nicht erfüllt.

Das Sozialgericht (SG) verurteilte die Beklagte zur Berücksichtigung auch der Ersatzzeiten. Der Gesetzgeber des Rentenreformgesetzes (RRG) habe mit der Ergänzung des § 28 Abs. 2 AVG um den Buchst. c die Anrechenbarkeit von Ersatz- und Ausfallzeiten in derselben Weise regeln, d.h. ausschließlich vom Vorliegen der Halbbelegung abhängig machen wollen. In diesem Falle habe es weder auf eine Vorversicherung noch auf wenigstens einen Anschlußbeitrag innerhalb bestimmter Frist ankommen sollen. Die Absicht der Gleichbehandlung sei auch aus Art. 2 § 54 a AnVNG zu folgern, wonach sowohl bei Anwendung des § 36 Abs. 3 als auch bei Anwendung des § 28 Abs. 2 Satz 2 Buchst. c AVG bestimmte freiwillige Beiträge den Pflichtbeiträgen gleichstünden; sie ergebe sich ferner aus den Materialien zum RRG. Schließlich enthalte weder das RRG noch das AnVNG Anhaltspunkte dafür, daß bei gleichen Tatbeständen Ausfallzeiten anrechenbar sein sollten, Ersatzzeiten aber nicht.

Die Kammer-Vorsitzende des SG hat nachträglich durch Beschluß die Revision nach §§ 161, 160 Abs. 2 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassen. Die Beklagte hat die Revision eingelegt; sie beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.

Sie rügt die Verletzung des § 28 Abs. 2 Satz 2 Buchst. c AVG. Diese Vorschrift verlange für die Anrechnung von Ersatzzeiten neben der Halbbelegung, daß für eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit nach der Ersatzzeit wenigstens ein Pflichtbeitrag entrichtet worden sei. Daran fehle es hier.

Die Klägerin beantragt,

die Zurückweisung der Revision.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist zulässig (vgl. SozR 1500 § 161 Nrn. 4 und 7) und begründet.

Die Voraussetzungen für die Anrechnung von Ersatzzeiten in § 28 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a u. b AVG sowie in Art. 2 § 9 a AnVNG sind unstreitig nicht erfüllt. Streit besteht allein darüber, ob die geltend gemachten Ersatzzeiten aufgrund des durch das RRG in das AVG eingefügten § 28 Abs. 2 Satz 2 Buchst. c anzurechnen sind. Nach dieser Vorschrift werden Ersatzzeiten ohne vorhergehende Versicherungszeiten angerechnet, wenn "eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit nach Ablauf der in den Buchstaben a und b genannten Frist von drei Jahren aufgenommen worden ist und die Zeit vom Kalendermonat des Eintritts in die Versicherung bis zum Kalendermonat, in dem der Versicherungsfall eingetreten ist, mindestens zur Hälfte ... mit Beiträgen für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit belegt ist ...". Entgegen der Auffassung des SG ist aber auch nach dieser Alternative die Anrechnung von Ersatzzeiten hier nicht möglich.

Die Beteiligten und das SG nehmen zwar an, daß die danach erforderliche Halbbelegung aufgrund des Art. 2 § 54 a AnVNG idF des RRG erfüllt ist. Nach dessen Absatz 1 stehen bei Versicherten, die - wie der Verstorbene - nur wegen Überschreitens der Jahresarbeitsverdienstgrenze versicherungsfrei gewesen sind oder (u.a.) aufgrund des Art. 2 § 1 AnVNG idF des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 von der Versicherungspflicht befreit worden sind, "bei Anwendung des § 36 Abs. 3 und des § 37 Abs. 1 AVG die nach Eintritt der Versicherungsfreiheit für die Zeit bis 31. Dezember 1967 entrichteten freiwilligen Beiträge den Pflichtbeiträgen gleich". Ebenso stehen nach dem folgenden Absatz 2 bei Versicherten, die (u.a.) aufgrund des Art. 2 § 1 AnVNG idF des RVÄndG von der Versicherungspflicht befreit worden sind, "bei Anwendung des § 28 Abs. 2 Buchst. c, § 36 Abs. 3 und des § 37 Abs. 1 AVG die für Zeiten vom 1. Januar 1968 an entrichteten freiwilligen Beiträge den Pflichtbeiträgen gleich", wenn sie in bestimmten Beitragsklassen entrichtet sind. Dabei wird allgemein angenommen, daß die Auslassung von § 28 Abs. 2 Satz 2 Buchst. c AVG im Anwendungsbereich der Gleichstellung in Art. 2 § 54 a Abs. 1 auf einem redaktionellen Versehen des Gesetzgebers beruht.

Der Senat kann dahingestellt lassen, ob der vom SG festgestellte Sachverhalt die Annahme der vorhandenen Halbbelegung rechtfertigt. Die Halbbelegung allein genügt zur Anwendung von § 28 Abs. 2 Satz 2 Buchst. c AVG nämlich noch nicht. Der klare Gesetzeswortlaut erfordert als weitere Bedingung (erste Bedingung im Gesetzestext), daß nach dem Ablauf der beschriebenen Dreijahresfrist eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen worden ist. Hieran fehlt es.

Auf dieses Erfordernis zu verzichten, lassen weder die Entstehungsgeschichte der Vorschrift noch die erkennbar gewordenen Absichten des Gesetzgebers zu. Dabei kann nicht auf den Entwurf der Bundesregierung (BT-Drucks. VI/2916) zurückgegriffen werden, der tatsächlich Ersatz- und Ausfallzeiten, allerdings erst bei Erreichen einer Dreiviertelbelegung, gleichermaßen anrechnen lassen wollte; denn die mit diesem Entwurf beabsichtigten Änderungen in § 28 Abs. 2 Buchst. d, § 36 Abs. 3 und 4, Art. 2 § 54 a AnVNG sind nicht Gesetz geworden. Das beschlossene Gesetz fußt vielmehr auf einem Entwurf der CDU/CSU-Fraktion (BT-Drucks. VI/2153); in der dort vorgesehenen Einfügung des § 28 Abs. 2 Satz 2 Buchst. c findet sich aber neben der Halbbelegung schon als weitere Bedingung, daß "eine versicherungspflichtige Tätigkeit nach Ablauf der ... Frist aufgenommen worden ist". Die Ausführungen zur Begründung (S. 2, 10, 17) lassen eindeutig erkennen, daß es sowohl bei den Ersatzzeiten als auch bei den Ausfallzeiten des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG künftig lediglich nicht mehr auf den "Pflichtanschlußbeitrag", d.h. auf einen "Pflichtbeitrag" innerhalb bestimmter Frist ankommen sollte; nicht dagegen sollte auf einen späteren "Pflichtbeitrag" überhaupt verzichtet werden; dementsprechend sollte in § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG aF auch allein die Frist von fünf Jahren für den nachfolgenden "Pflichtbeitrag" entfallen (das RRG hat dann allerdings das Erfordernis des späteren "Pflichtbeitrages" in § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG ganz gestrichen).

Nach dem festgestellten Sachverhalt hat der Versicherte nach dem Zurücklegen der Ersatzzeiten keine "versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit" aufgenommen. Dieses Tatbestandsmerkmal kann zwar an verschiedenen Gesetzesstellen einer unterschiedlichen Deutung fähig sein (vgl. SozR Nr. 24 und Nr. 27 zu § 1248 RVO); im Rahmen des § 28 Abs. 2 (Buchst. a und b) ist es indessen in ständiger Rechtsprechung (SozR Nrn. 6, 10 und 71 zu § 1251 RVO) stets dahin verstanden worden, daß die nach der Ersatzzeit aufgenommene Beschäftigung oder Tätigkeit im konkreten Falle (nicht nur an sich) versicherungspflichtig gewesen und daß sie außerdem mit einem Pflichtbeitrag belegt sein muß. Es ist kein Grund ersichtlich, den in § 28 Abs. 2 Satz 2 Buchst. c AVG verwendeten Begriff hiervon abweichend auszulegen; die Entstehungsgeschichte bietet keinen Anhalt dafür.

Eine im konkreten Falle für ihn versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit hat der Versicherte zu keiner Zeit, also auch nicht nach der Ersatzzeit, ausgeübt. Daran ändert nichts, daß von ihm entrichtete freiwillige Beiträge aufgrund des Art. 2 § 54 a AnVNG "bei Anwendung des § 28 Abs. 2 Satz 2 Buchst. c AVG" Pflichtbeiträgen gleichstehen. Damit wird allenfalls dem Erfordernis des Pflichtbeitrages Genüge getan; nicht aber wird damit auch das weitere Erfordernis der Aufnahme einer im konkreten Falle versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit erfüllt.

Entgegen der Auffassung des SG hat der Gesetzgeber des RRG Ersatz- und Ausfallzeiten bei Erfüllung der Halbbelegung somit nicht gleichbehandelt. Wenn nur gleichgestellte Beiträge entrichtet sind, sind zwar Ausfallzeiten, nicht aber Ersatzzeiten anrechenbar. Das mag nicht unbedingt einleuchten, insbesondere, weil die Anrechnung von Ersatzzeiten bei Erfüllung der Halbbelegung hiernach davon abhängt, daß der Versicherte irgendwann nach der Ersatzzeit - und sei es nur für sehr kurze Zeit - eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen hat. Bei anderer Auslegung wäre jedoch das Erfordernis der Aufnahme einer solchen Beschäftigung oder Tätigkeit in § 28 Abs. 2 Satz 2 Buchst. c AVG überflüssig und gegenstandslos. Hinzu kommt, daß sich dieses Erfordernis in ein immer wieder erkennbares gesetzgeberisches Bestreben einordnen läßt, Begünstigungen wie die Zuweisung von Ersatzzeiten vor allem den Pflichtversicherten zukommen zu lassen. Unter diesen Umständen ist auch eine Verletzung des Art. 3 des Grundgesetzes nicht erkennbar.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1649254

BSGE, 178

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