Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausgleich von Minderverdienst bei Verfolgten nur bis 8.5.1945
Leitsatz (amtlich)
1. Auch im Rahmen von WGSVG § 14 Abs 1 (und Abs 2) sind "Verfolgungsgründe" nur diejenigen des BEG § 1, also "Gründe politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus, der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung" (WGSVG § 1 Abs 2 Buchst b); die Folgen von Verfolgungen sind keine "Verfolgungsgründe" iS des Gesetzes.
2. WGSVG § 14 Abs 1 S 2 ist nicht auf Zeiten nach dem 1945-05-08 anzuwenden.
Leitsatz (redaktionell)
Hat ein Verfolgter, der vor der Verfolgung eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt hat, aus Verfolgungsgründen für eine spätere rentenversicherungspflichtige Beschäftigung ein geringeres Arbeitsentgelt erhalten, als er bei Zugrundelegung der vorher ausgeübten rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung ohne Verfolgung erhalten hätte, so sind die Zeiten dieses Minderverdienstes nach WGSVG § 14 Abs 1 S 2 auszugleichen. Ein Ausgleich kann längstens bis zum 8.5.1945 erfolgen, da nur bis zu diesem Zeitpunkt für den Minderverdienst konkrete Verfolgungsgründe maßgebend sein können. Die nach dem Zusammenbruch am 8.5.1945 liegenden Zeiten eines Minderverdienstes werden von WGSVG § 14 Abs 1 S 2 daher nicht erfaßt.
Normenkette
WGSVG § 1 Abs. 2 Buchst. b Fassung: 1970-12-22, § 14 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1970-12-22, Abs. 2 Fassung: 1970-12-22; BEG § 1
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. Dezember 1975 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der 1907 geborene Kläger, ein anerkannter Verfolgter, hat 1925 die Gesellenprüfung als Modellschreiner abgelegt. Seit 1926 arbeitete er nacheinander als Zimmermann, Einschaler und Tiefbauarbeiter; ab 1930 war er arbeitslos. Von Februar 1934 bis Oktober 1938 befand er sich wegen illegaler Tätigkeit für die KPD im Zuchthaus bzw. in KZ-Haft. Nach seiner Entlassung war er als Schreiner tätig; ab Mitte 1943 gehörte er bis gegen Ende des Krieges einer militärischen Bewährungseinheit an. Seit Februar 1946 war er bis zum Verbot der KPD hauptamtlicher Funktionär dieser Partei, danach wurde er im August 1956 arbeitslos. Im April 1957 nahm er eine Tätigkeit als Werkstattschreiber, ab Januar 1960 eine als Lohnbuchhalter auf; seit Dezember 1972 bezieht er von der Beklagten Altersruhegeld. Für den Schaden im beruflichen Fortkommen bis Ende 1950 sprach ihm das Oberlandesgericht Düsseldorf eine Kapitalentschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) zu.
Der Kläger will höheres Altersruhegeld mit der Begründung haben, die Beklagte sei bei der Berechnung für die Zeit vom 1. Februar 1946 bis zum 31. Dezember 1960 zu Unrecht von seinem tatsächlichen Arbeitsentgelt ausgegangen; sie habe auch insofern nach § 14 Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) eine Vergleichsberechnung durchzuführen; dabei sei die Leistungsgruppe 3 für männliche Angestellte der Anlage 1 zu § 22 des Fremdrentengesetzes (FRG) zugrunde zu legen. Ohne die verfolgungsbedingte Berufsentfremdung und die Folgen einer während der Zugehörigkeit zu der Bewährungseinheit erlittenen Handverletzung hätte er nämlich weiter als Modellschreiner (oder in einem vergleichbaren Handwerkerberuf) arbeiten und sich qualifizieren können; erst ab 1961 habe er als Lohnbuchhalter ein entsprechendes Einkommen erzielt.
Das Sozialgericht (SG) und das Landessozialgericht (LSG) haben die Klage abgewiesen (Urteile vom 16. April 1975 und 12. Dezember 1975). Das LSG hat ausgeführt: Ob die Nichtwiederaufnahme der Tätigkeit im erlernten Beruf verfolgungsbedingt gewesen sei (vom SG verneint), könne dahinstehen; § 14 Abs. 1 Satz 2 WGSVG komme deshalb nicht zur Anwendung, weil er keine nach dem 8. Mai 1945 liegenden Tatbestände erfasse. Hierüber gebe der Gesetzeswortlaut zwar keinen sicheren Aufschluß. Daß nur ein durch Verfolgungsgründe im Sinne von § 1 BEG während der eigentlichen Verfolgungszeit unmittelbar hervorgerufener Minderverdienst zu berücksichtigen sei, folge jedoch aus der Systematik des Gesetzes. § 14 Abs. 1 Satz 2 WGSVG stehe nämlich in engem Zusammenhang mit den in § 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 geregelten Fallgruppen; für diese seien Zeiten nach dem Zusammenbruch aber nicht denkbar. Die Entstehungsgeschichte des WGSVG bestätige das Ergebnis: § 14 Abs. 1 sei an die Stelle des § 4 Abs. 5 des Gesetzes über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung (NVG) vom 22. August 1949 getreten; mit der Neuregelung sei lediglich eine Anpassung an das seit 1957 geltende Rentenrecht erfolgt; der zu entschädigende Zeitraum sei nicht geändert worden.
Mit der - zugelassenen - Revision beantragt der Kläger,
die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 7. Januar 1974 zu verurteilen, für die Zeit vom 1. Februar 1946 bis zum 31. Dezember 1960 eine Vergleichsberechnung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 WGSVG durchzuführen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Zur Begründung rügt er die Verletzung des § 14 Abs. 1 Satz 2 WGSVG. Da hiermit der Verlust an Rentenanwartschaft aufgrund eines verfolgungsbedingten Minderverdienstes ausgeglichen werden solle, sei auch ein über die Zeit der Verfolgung noch fortbestehender Minderverdienst als Folgeschaden einzubeziehen. Der Wortlaut des § 14 WGSVG enthalte im Gegensatz zu § 28 Abs. 1 Nr. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG - (idF des WGSV-Änderungsgesetzes vom 22. Dezember 1970 - WGSVÄndG -) keine zeitliche Beschränkung; sie ergebe sich auch nicht aus den vom LSG angestellten rechtssystematischen Erwägungen. Im übrigen habe das Bundessozialgericht (BSG) die Wiedergutmachung eines verfolgungsbedingten Minderverdienstes nach dem 8. Mai 1945 nicht schlechthin ausgeschlossen; vielmehr habe es den ursächlichen Zusammenhang der Verfolgung mit dem Rentenschaden verlangt.
Die Beklagte beantragt,
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die Revision zurückzuweisen. |
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Das LSG hat zutreffend entschieden, daß dem Kläger ein höheres Altersruhegeld nicht zusteht.
Der Kläger kann die begehrte Vergleichsberechnung schon deshalb nicht verlangen, weil die tatbestandlichen Voraussetzungen des (allein in Betracht kommenden) § 14 Abs. 1 Satz 2 WGSVG nicht erfüllt sind. Danach muß ein Verfolgter, der vor der Verfolgung eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt hat, aus Verfolgungsgründen für eine - spätere - rentenversicherungspflichtige Beschäftigung ein geringeres Arbeitsentgelt erhalten haben, als er bei Zugrundelegung der vorher ausgeübten rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung ohne Verfolgung erhalten hätte. Dieser Tatbestand ist bei den in der Zeit vom 1. Februar 1946 bis zum 31. Dezember 1960 ausgeübten Beschäftigungen nicht gegeben.
Es bestehen schon Zweifel, ob der in diesen Zeiten (außer in der zwischenzeitlichen Arbeitslosigkeit) erzielte Verdienst mit einem Verdienst verglichen werden darf, den der Kläger vor der politischen Haft als Modellschreiner erzielt hatte oder bei weiterer Ausübung dieses Berufes erzielt hätte. Denn nach den für den Senat nach § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bindenden Feststellungen des LSG war der Kläger vor Beginn dieser Verfolgung (Zuchthaus, KZ-Haft) arbeitslos; davor hatte er rückwärts gesehen als Tiefbauarbeiter, Einschaler und Zimmermann gearbeitet; in seinem erlernten Beruf war er seit 1926 nicht mehr tätig gewesen. Hiernach müßte der Minderverdienst wohl durch Vergleich mit dem Entgelt eines Tiefbauarbeiters ermittelt werden. Diese Frage kann jedoch letzten Endes unbeantwortet bleiben.
Nach den weiteren Feststellungen des LSG ist der Kläger Mitte 1943 zu einer Bewährungseinheit der Wehrmacht eingezogen worden. Damit begann eine zweite Verfolgung für ihn, da die Zugehörigkeit zu einer derartigen Einheit der Freiheitsentziehung gemäß § 43 BEG gleichgeachtet wird (Blessing-Ehrig-Wilden, Komm. zum BEG, 3. Aufl., 1970, Anm. 27 zu § 43). Deswegen wäre für den Vergleich des ab Februar 1946 bis Ende 1960 erzielten Verdienstes möglicherweise auch auf das Arbeitseinkommen abzuheben, das der Kläger vor dieser Verfolgung als Schreiner gehabt hat oder bei weiterer Ausübung dieses Berufs hätte erzielen können; dabei dürfte nicht übersehen werden, daß die Beklagte im angefochtenen Bescheid eben diese Beschäftigungszeit als Schreiner als eine Zeit des Minderverdienstes "nach § 14 Abs. 1 WGSVG" gewertet hat. Auch auf diese Frage braucht der Senat indessen nicht näher einzugehen.
Denn die Vornahme der begehrten Vergleichsberechnung scheitert jedenfalls daran, daß der Kläger seine Tätigkeit als hauptamtlicher Funktionär der KPD bzw. als Werkstattschreiber und Lohnbuchhalter nicht aus Verfolgungsgründen im Sinne des WGSVG aufgenommen und nicht aus solchen Gründen dort "geringeres Arbeitsentgelt" erhalten hat. Was als Verfolgungsgründe im Sinne des § 14 Abs. 1 Satz 2 WGSVG zu gelten hat, ist aus § 1 Abs. 2 Buchst. b WGSVG zu entnehmen; danach sind es (nur) diejenigen des § 1 BEG, somit "Gründe politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus", "Gründe der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung". Daß ein solcher in § 1 BEG normierter Verfolgungsgrund zur Aufnahme der Nachkriegsbeschäftigungen und zu Minderverdiensten in diesen Beschäftigungen Anlaß gegeben hat, ist weder vom LSG festgestellt noch vom Kläger behauptet worden; es ist nach dem Sachverhalt auch schlechthin unmöglich. Der Kläger macht allenfalls Folgen von Verfolgungen (Berufsentfremdung, Handverletzung) dafür verantwortlich; dies sind jedoch keine "Verfolgungsgründe" im Sinne des Gesetzes. Der festgestellte Sachverhalt läßt somit schon nach der Wortinterpretation der Vorschriften den Schluß zu, daß der Tatbestand des § 14 Abs. 1 Satz 2 WGSVG nicht erfüllt ist.
Davon abgesehen ist § 14 Abs. 1 Satz 2, wie sich aus der Entstehungsgeschichte ergibt, auf Tatbestände, die nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft eingetreten sind, überhaupt nicht anzuwenden. Insoweit folgt der Senat der Auffassung des LSG. Der jetzige § 14 (= § 13 des Entwurfs der Bundesregierung, BR-Drucks. 73/70, Begründung S. 11) ist an die Stelle des § 4 Abs. 5 NVG getreten (SozR 5070 § 14 Nr. 1). Hierbei hat § 14 Abs. 1 Satz 2 WGSVG die alte Regelung voll übernommen; § 14 Abs. 1 Satz 1 hat den Verfolgten, der vor der Verfolgung (noch) nicht rentenversicherungspflichtig beschäftigt war, gesondert erfaßt, § 14 Abs. 2 die bisherige Regelung auf denjenigen Verfolgten ausgedehnt, der nach verfolgungsbedingtem Verlust seiner Stellung erneut oder erstmalig eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit gefunden hatte, für den aber keine Beiträge abgeführt worden sind (BT-Drucks. VI/715, Begründung S. 11). Zu § 4 Abs. 5 NVG hatte das BSG mehrfach entschieden, daß nach dem Zusammenbruch liegende Zeiten der Minderentlohnung nicht mehr als Entschädigungszeiten in der Rentenversicherung angerechnet werden könnten (Urteil des 1. Senats vom 16. September 1960 - 1 RA 74/59 in BSGE 13, 65 = SozR Nr. 3 zur Kriegsdienst-Verordnung = (in voller Fassung) Breithaupt 1961, 38, 39; Urteil des 11. Senats vom 17. März 1970 - 11 RA 136/66, S. 11 ff). Hierbei hatte der 1. Senat sich auf seine Entscheidung in BSGE 10, 173 bezogen, in der er nach Mai 1945 liegende Zeiten der Arbeitslosigkeit nicht mehr im Sinne von § 3 Abs. 1 NVG als "durch die erzwungene Aufgabe des Arbeitsverhältnisses" hervorgerufen hielt. Bei der Neuschaffung des Gesetzes war dem Gesetzgeber diese Rechtsprechung bekannt (BT-Drucks. VI/715, Begründung S. 12 unter b). Gleichwohl hat er in § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG idF des WGSVÄndG nur die Ersatzzeiten wegen Arbeitslosigkeit bis zum 31. Dezember 1946 verlängert, um den Verfolgten zu helfen, "die auch nach Kriegsende noch arbeitslos waren, ohne daß eine Freiheitsentziehung vorausgegangen ist" (BT-Drucks. aaO). § 4 Abs. 5 NVG ist dagegen unter Wahrung des Prinzips der individuellen Entschädigung (nur) ersetzt worden durch die Regelung des § 14 Abs. 1 (ursprünglich § 13 Abs. 1) WGSVG, "die dem System und der Rentenformel des neuen Rentenrechts entspricht" (BT-Drucks. V/4383, Begründung S. 8; BR-Drucks. 73/70, Begründung S. 8 unter b); eine materiell-rechtliche Änderung ist im übrigen nicht erfolgt, insbesondere kein über den 8. Mai 1945 hinausreichender Entschädigungszeitraum geschaffen worden. Hiernach hat es der Gesetzgeber bewußt bei der bisherigen zeitlichen Grenze belassen; eine durch Analogie zu schließende Lücke im Gesetz liegt nicht vor.
Das Ergebnis entspricht dem Sinn des Wiedergutmachungsrechts in der Sozialversicherung als Sondergebiet des allgemeinen Entschädigungsrechts. Soweit Schäden im beruflichen Fortkommen oder am Körper über den 8. Mai 1945 hinaus weiterwirken, werden sie nämlich durch das BEG aufgefangen (§§ 22 ff, 64 ff, 87 ff, 75 BEG). Danach wird für Schäden im Beruf Kapitalentschädigung bis zur Erlangung der ausreichenden Lebensgrundlage geleistet (beim Kläger bis Ende 1950) und dabei gesetzlich vermutet, daß sie nicht vor dem 1. Januar 1947 vorhanden war; verfolgungsbedingte Körperschäden werden zeitlich unbegrenzt berentet.
Nach alledem ist die Revision zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen