Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstufung eines "leitenden Angestellten" unter 45 Jahre alt
Leitsatz (redaktionell)
Zur Frage der Zuordnung der Leistungsgruppe B1 für Beitragszeiten, die Angestellte in akademischen Berufen vor dem 45. Lebensjahr zurückgelegt haben.
Normenkette
FRG § 22 Anl 1 Buchst. b
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 26.01.1976; Aktenzeichen L 6 An 1084/74) |
SG Kassel (Entscheidung vom 04.10.1974; Aktenzeichen S 2 An 218/72) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 29. Januar 1976 aufgehoben, soweit es die Einstufung des Klägers in die Leistungsgruppe B 1 der Anlage 1 zu § 22 des Fremdrentengesetzes für die Zeit vom 1. Januar 1946 bis 30. Juni 1948 betrifft. Der Rechtsstreit wird insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Unter den Beteiligten ist - noch - streitig, ob der im Mai 1907 geborene Kläger für die Zeit vom 1. Januar 1946 bis 30. Juni 1948 in die Leistungsgruppe B 1 oder B 2 der Anlage 1 zu § 22 des Fremdrentengesetzes (FRG) einzustufen ist. Der Kläger, von Beruf Diplom-Ingenieur, war damals als Chef-Ingenieur und stellvertretender Betriebsleiter bei der B GmbH in C beschäftigt, die seinerzeit 1200 bis 2000 Beschäftigte sowie einen Jahresumsatz von 40 bis 100 Millionen Reichsmark hatte. Im Versichertenausweis ist er als Prokurist und Abteilungsleiter bezeichnet.
Die Beklagte hat bei der Berechnung des Altersruhegeldes die Tätigkeit nach der Leistungsgruppe 2 bewertet. Die Klage auf Höherstufung hatte in den Vorinstanzen Erfolg. Nach der Ansicht des Landessozialgerichts (LSG) hat sich die Einstufung in die Leistungsgruppe 1 am Begriff des leitenden Angestellten im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes zu orientieren. Danach sei - auch bei einem Wirtschaftsunternehmen im Gebiet der späteren DDR - weniger die Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit des Angestellten, sondern der unternehmerische Aufgabenbereich entscheidend. Auch die Größe des Unternehmens sei von Bedeutung. Hiernach aber sei der Kläger leitender Angestellter gewesen. Er habe als Leiter der zentralen Ingenieur-Abteilung die Verantwortung für die Planung und Durchführung aller Investitionsvorhaben, die Energiewirtschaft und die technische Einsatzfähigkeit aller Betriebsanlagen getragen; als Vertreter des Werksleiters habe er über diese Tätigkeit hinaus noch unternehmerisch geplant und gehandelt und selbständig über Einstellung und Entlassung von Mitarbeitern entscheiden können. Angesichts dieser die Einstufung in B 1 rechtfertigenden primär maßgeblichen Funktion komme es nicht darauf an, daß der Kläger damals noch nicht 45 Jahre alt gewesen sei. Das Lebensalter sei allenfalls dann von Bedeutung, wenn besondere Kenntnisse und Erfahrungen gefordert würden.
Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,
die vorinstanzlichen Urteile insoweit abzuändern und die Klage abzuweisen, als sie verurteilt wurde, bei der Berechnung des Altersruhegeldes für die Zeit vom 1. Januar 1946 bis 30. Juni 1948 die Leistungsgruppe B 1 zugrunde zu legen.
Sie rügt eine Verletzung des § 22 FRG. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) werde das Maß der für die Einstufung in die Leistungsgruppe 1 erforderlichen beruflichen Erfahrung auch von Akademikern im allgemeinen nicht vor der Vollendung des 45. Lebensjahres erreicht. Eine Ausnahme von diesem Regelfall sei für die noch zu beurteilende Tätigkeit des Klägers vor dem 1. Juli 1948 - ab diesem Zeitpunkt sei er technischer Direktor gewesen - nicht gerechtfertigt, weil sie sich bis dahin aus den allgemeinen Positionen von Berufskollegen nicht deutlich herausgehoben habe.
Der Kläger beantragt die Zurückweisung der Revision.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist insofern begründet, als der Rechtsstreit im angefochtenen Teil an das LSG zurückverwiesen werden muß; seine Entscheidung läßt sich auf die bisher getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht stützen.
Nach der Definition der Leistungsgruppe B 1 gehören zu ihr "Angestellte in leitender Stellung mit Aufsichts- und Dispositionsbefugnis". Zu diesem Begriff hat das BSG bereits in mehreren Entscheidungen Stellung genommen. Die grundlegende Entscheidung war das Urteil vom 24. November 1965 (BSGE 24, 113, 115). Es hat alle wesentlichen Begriffsmerkmale erläutert (vgl. ferner SozR Nr. 3 zu § 22 FRG und 5050 § 22 Nr. 1 und Nr. 2). Das LSG hat diese Rechtsprechung weder erwähnt noch sich mit ihr auseinandergesetzt. Von ihr abzuweichen, sieht der Senat keinen Anlaß; auch die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung legt den Begriff des leitenden Angestellten im übrigen von der jeweiligen Rechtsvorschrift und deren Sinn und Zweck her aus (Müller, BABl 1976, 436f).
Die Einreihung in die Leistungsgruppe B 1 erfordert demnach, daß der Angestellte unternehmerische Funktionen jedenfalls in einem wesentlichen Teilbereich des Unternehmens selbständig und selbstverantwortlich wahrnimmt und daß sich Tätigkeit und Befugnisse in einem Rahmen von erheblicher wirtschaftlicher Bedeutung abspielen (BSGE 24, 115). Dies ist auf aufgrund des vom LSG festgestellten Sachverhalts zu bejahen, auch wenn eine Angabe über die Zahl der dem Kläger unterstellten Beschäftigten fehlt (vgl. BSGE 24, 116 oben). Stellung und Aufgabenbereich würden dabei entgegen der Auffassung der Revision selbst dann nicht entscheidend gemindert, wenn der Kläger zu Neueinstellungen die Zustimmung des Betriebsrates benötigt hätte.
Diese Feststellungen zur Funktion rechtfertigen - was das LSG verkannt hat - indessen für sich allein noch nicht die Einstufung in die Leistungsgruppe B 1. Im Urteil vom 24. November 1965 (BSGE 24, 115) wurde bereits darauf hingewiesen, daß (und warum) die Definition nicht erschöpfend ist, vielmehr noch besondere Erfahrungen in dem dem Angestellten übertragenen Tätigkeitsbereich voraussetzt; diese Angestellten müßten in der Regel im Alter der unteren Altersgrenze von 45 Jahren der Leistungsgruppe B 2 nahekommen oder eine besondere Ausbildung für ihre Tätigkeit erworben haben (vgl. dazu überdies Müller aaO zu § 5 Betriebsverfassungsgesetz: Aufgabenübertragung im Hinblick auf besondere Erfahrungen und Kenntnisse, wobei akademisches Studium weder erforderlich noch genügend). Die spätere Rechtsprechung hat dieses Erfordernis noch betont und präzisiert. Erforderlich ist danach neben der ausgeübten Funktion ein hohes Maß an beruflichen Erfahrungen über die für die Leistungsgruppe B 2 verlangten "besonderen Erfahrungen" hinaus. Diese notwendige berufliche Erfahrung wird auch von einem Versicherten mit abgeschlossener Hochschulausbildung im allgemeinen nicht vor der Vollendung des 45. Lebensjahres erreicht, es sei denn, er hatte zuvor schon berufliche Positionen inne, die ihn aus den allgemeinen Positionen seiner Berufskollegen deutlich herausgehoben haben; das muß objektiv feststellbar und evident sein. Die spätere Rechtsprechung ist zwar vornehmlich uz Angestellten des öffentlichen Dienstes entwickelt worden; sie gilt jedoch ihrem wesentlichen Kern nach auch für Angestellte in Industrie und Handel, wobei es letztlich auf die persönlichen Verhältnisse im Einzelfall ankommen wird.
Das LSG hat über das Maß beruflicher Erfahrungen des Klägers in der streitigen Zeit keine, jedenfalls keine ausreichenden Feststellungen getroffen. Daß der Kläger zuvor schon berufliche Positionen inne hatte, die sich deutlich von Positionen seiner Berufskollegen heraushoben, ist nicht festgestellt, erst recht nicht evident. Zu Beginn der streitigen Zeit war der Kläger erst 38, an ihrem Ende 41 Jahre alt. In den Akten ist zwar wiederholt die Rede davon, der Kläger habe den Posten des Chef-Ingenieurs bereits im Jahre 1941 übernommen; festgestellt ist das indessen nicht und zudem von der Beklagten bestritten worden. Sollte es freilich zutreffen, daß der Kläger die 1946 bis 1948 ausgeübte Funktion zuvor schon fünf Jahre wahrgenommen hat und, wie behauptet, schon seit 1941 einschlägige Erfahrungen, auf denen er 1946 aufbauen konnte, hat sammeln können, dann hätte er über das hier erforderliche Maß beruflicher Erfahrungen verfügt. Da das LSG insoweit keine ausreichenden Feststellungen getroffen hat, die dem Revisionsgericht eine abschließende Entscheidung ermöglichen, bleibt nur übrig, dem LSG Gelegenheit zu geben, die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nachzuholen. Es war deshalb wie geschehen zu entscheiden.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen