Entscheidungsstichwort (Thema)

Sachaufklärungspflicht des Gerichts. Kolbenschlag auf den Kopf. Brückensymptom. Sachaufklärung. traumatische Hirnschädigung. Nachweis eines schädigenden Ereignisses

 

Orientierungssatz

Zur Frage des Umfangs der Sachaufklärungspflicht, wenn eine Hirndauerschädigung als Folge eines in der Kriegsgefangenschaft erlittenen Kolbenschlags auf den Kopf behauptet wird.

 

Normenkette

BVG § 1 Abs 3 S 1; SGG § 103

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 14.10.1986; Aktenzeichen L 4 V 108/85)

SG Trier (Entscheidung vom 25.07.1985; Aktenzeichen S 4 V 49/84)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt, abweichend von früheren Entscheidungen (Urteil des Versorgungsgerichts Trier vom 13. Oktober 1953, Umanerkennungs-Bescheid vom 23. Januar 1954 und Bescheid vom 5. Mai 1959), eine Zugunstenentscheidung über einen Versorgungsanspruch nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen der Folgen eines Kolbenschlages, den er nach seinen Angaben in der Kriegsgefangenschaft über den Kopf bekam. Seine Klage gegen die Ablehnung dieses Anspruchs (Bescheid vom 3. April 1984) sowie außerdem einer Neufeststellung wegen Verschlimmerung (Bescheid vom 4. April 1984), einer Höherbewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) wegen besonderen beruflichen Betroffenseins (Bescheid vom 2. April 1984) sowie eines Berufsschadensausgleichs (Bescheid vom 5. April 1984) ist ohne Erfolg geblieben (Urteile des Sozialgerichts vom 25. Juli 1985 und des Landessozialgerichts -LSG- vom 14. Oktober 1986). Das LSG hat bezüglich des Hauptanspruchs einen Kolbenschlag gegen den Kopf nicht als erwiesen angesehen, außerdem für den Fall, daß er unterstellt werde, eine traumatische Hirnschädigung ebenfalls nicht.

Der Kläger rügt mit seiner - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen - Revision eine Verletzung des § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Über seine Behauptung, sein rechter Arm und sein rechtes Bein seien - als Folge eines Kolbenschlages auf den Kopf - unmittelbar nach der Heimkehr gelähmt gewesen, hätten gemäß seinem schriftlichen Vorbringen B. G. und R. A. als Zeugen gehört werden müssen. Falls durch diese Beweiserhebung erwiesen worden wäre, daß der Kläger gleich nach der Kriegsgefangenschaft rechtsseitig gelähmt war, hätte der Sachverständige Prof. Dr. S. abweichend von seinem Gutachten, auf dem das Berufungsurteil beruht, annehmen können, daß diese Lähmung schon 1945 und nicht erst seit dem 1949 erlittenen Schlaganfall aufgetreten war, und Folgen eines Hirntraumas feststellen können. Auch die jetzige Ehefrau des Klägers könne die behauptete Tatsache bekunden.

Der Kläger beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Beweiserhebung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Hilfsweise schließt er sich dem Antrag des Klägers an.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist insoweit begründet, als das Berufungsurteil bezüglich der umstrittenen Versorgung wegen der Folgen eines in der Kriegsgefangenschaft erlittenen Kolbenschlages auf den Kopf aufzuheben ist. Insoweit ist der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Für eine Entscheidung über einen Versorgungsanspruch wegen der bezeichneten Hirnverletzungsfolgen fehlen ausreichende tatsächliche Feststellungen. Wie der Kläger formgerecht gerügt hat, beruht das Urteil des LSG auf einer Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG). Dem Gericht mußte es sich aufdrängen, die beiden schriftlich benannten Zeugen, die sich in einer eidesstattlichen Erklärung ohne gezielte gerichtliche Befragung geäußert hatten, über die Behauptung des Klägers zu hören, sein rechter Arm und sein rechtes Bein seien schon 1945 nach der Heimkehr aus der Kriegsgefangenschaft gelähmt gewesen. Diese zeitnahe Gesundheitsstörung könnte auf ein in der Gefangenschaft erlittenes Hirntrauma durch einen Kolbenschlag über den Kopf schließen lassen und ein Brückensymptom für eine Hirndauerschädigung bilden. Möglicherweise hätte Prof. Dr. S., falls er nicht bloß von dem behaupteten Kolbenschlag, sondern auch von einer bereits 1945 aufgetretenen Lähmung hätte ausgehen müssen, in seinem Gutachten eine Hirnschädigung mit bleibenden Folgen angenommen. In der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 20. April 1953 ist immerhin eine Hirnschädigung mit dauernden Auswirkungen als wahrscheinliche Folge einer Gewalteinwirkung auf den Kopf in der Kriegsgefangenschaft unter der Voraussetzung beurteilt worden, daß die Behauptungen des Klägers als wahr unterstellt werden. Prof. Dr. S. hat aber seinem Gutachten die Annahme zugrunde gelegt, daß vor dem Schlaganfall von 1949 beim Kläger keine auf das Gehirn zu beziehenden krankhaften Befunde neurologisch-psychiatrischer Art, insbesondere eine Halbseitensymptomatik, festgestellt worden seien. Das Fehlen eines Traumas vor 1949 war ein wesentliches Glied in den Kausalerwägungen des Sachverständigen. Dem stände das Auftreten einer rechtsseitigen Lähmung im Jahr 1945 entgegen. Eine medizinische Beweiswürdigung, die auf einer rechtsseitigen Lähmung schon seit 1945 aufbaut, könnte außerdem zusammen mit den Angaben des Klägers (§ 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung idF vom 6. Mai 1976 -BGBl I 1169-/18. August 1980 -BGBl I 1469-) auf eine Kolbenschlagverletzung in der Kriegsgefangenschaft als schädigendes Ereignis, das erwiesen sein müßte, schließen lassen (Urteil des Senats vom 8. Oktober 1987 - 9a RV 52/86 -). Über diesen Schädigungsvorgang und über den unmittelbar anschließenden Gesundheitszustand des Klägers könnten im übrigen Erkenntnisse aus den Krankenblättern über eine Lazarettbehandlung während der Kriegsgefangenschaft, die mittlerweile - im Unterschied zu 1953 - verfügbar sein werden, zu gewinnen sein.

Die Sachaufklärung über den Beginn der rechtsseitigen Lähmungen obliegt dem Gericht, nicht dem Sachverständigen. Das LSG hätte von der gebotenen Beweiserhebung nur dann absehen dürfen, wenn es die zu beweisende Tatsache als erwiesen angesehen hätte oder wenn diese nicht rechtserheblich wäre. Beides traf nicht zu. Für den umstrittenen, durch einen Zugunstenbescheid nach § 44 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - zuzuerkennenden Anspruch auf Versorgung wegen Hirnverletzungsfolgen ist rechtserheblich, ob der Kläger an Hirnstörungen infolge der behaupteten Schädigung durch die Kriegsgefangenschaft (§ 1 Abs 1 und 2 Buchstabe b, Abs 3 Satz 1 BVG) leidet. Falls das LSG aufgrund der noch vorzunehmenden Beweiserhebung zu dem Ergebnis gelangt, daß beim Kläger Hirnverletzungsfolgen bestehen, könnte eine schädigungsbedingte MdE festzustellen sein, die für einen Rentenanspruch genügt (§ 30 Abs 1, § 31 Abs 1 und 2 BVG). Außerdem könnte, ungeachtet der bereits rechtskräftig gewordenen Entscheidungen, die MdE wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins höher zu bewerten sein (§ 30 Abs 2 BVG) und schließlich ein Berufsschadensausgleich dem Kläger zustehen (§ 30 Abs 3 ff BVG).

Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657729

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