Leitsatz (redaktionell)

Der Versorgungsberechtigte, der seine Mitwirkungspflicht an einer erschöpfenden Sachaufklärung nicht voll erfüllt, kann sich gegenüber dem Rückforderungsanspruch nach KOV-VfG § 47 Abs 2 nicht auf Verwirkung berufen.

 

Normenkette

KOVVfG § 47 Abs. 2 Fassung: 1955-05-02, § 16 Abs. 2 Fassung: 1955-05-02; BGB § 242

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 29. Januar 1964 und das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 23. Februar 1960 abgeändert.

Die Klage gegen den Neufeststellungsbescheid des Versorgungsamts ... S vom 7. November 1958 in der Fassung des Widerspruchsbescheids des Landesversorgungsamts Baden-Württemberg vom 6. März 1959 wird in vollem Umfange abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Klägerin bezog eine monatliche Witwenrente (Grund- und Ausgleichsrente) von 160,- DM vom 1. Mai 1957 an (Bescheid vom 8. Juli 1957). Sie teilte am 14. Oktober 1957 dem Versorgungsamt mit, daß ihr die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) in Berlin eine "Neufestsetzung ihrer Witwenrente ab 1. November 1957 angekündigt habe". Mit Neufeststellungsbescheid vom 7. November 1958 setzte das Versorgungsamt die Versorgungsrente neu auf 93,- DM (70,- DM Grundrente und 23,- DM Teilausgleichsrente) fest, indem es 97,- DM sonstiges Einkommen (66,90 DM Witwenrente aus der Angestelltenversicherung und 45,51 DM Leistung der österreichischen Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten = 112,41 DM abzüglich 15,- DM Freibetrag und abgerundet auf volle DM = 97,- DM) zur Kürzung der Ausgleichsrente von 120,- DM auf 23,- DM heranzog. Bereits mit der Benachrichtigung vom 23. Juli 1958 hatte es der Klägerin eine "vorläufige" Änderung der Versorgungsbezüge in diesem Ausmaß mitgeteilt. Das Versorgungsamt forderte den überzahlten Betrag zurück. Dieser berechnete sich auf 2.807,- DM. Der Widerspruch der Klägerin hatte keinen Erfolg, auf ihre Klage verurteilte das Sozialgericht (SG) Stuttgart mit Urteil vom 23. Februar 1960 den Beklagten, auf die Rückforderung für die Zeit vom 1. November 1957 bis 31. August 1958 zu verzichten. Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung des Beklagten im Ergebnis zurück. Streitgegenstand sei ein überzahlter Rentenbetrag von monatlich 67,- DM für die Zeit vom 1. November 1957 bis zum 31. August 1958 (10 Monate) = 670,- DM. Die Klägerin habe seit Zustellung des Bescheides der BfA vom 30. September 1957 (5. Oktober 1957) gewußt, daß sich ihr Einkommen aus der Angestelltenversicherung vom 1. November 1957 an erhöhen werde. Sie sei daher seit Oktober 1957 bösgläubig im Sinne des § 47 Abs. 2 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) gewesen. Der Beklagte habe aber nicht innerhalb von sechs Monaten, die als angemessene Frist zu gelten hätten, die Neufeststellung der Versorgungsrente bewirkt, sondern erst neuneinhalb Monate später, nämlich Ende Juli 1958. Dieses lange Schweigen des Beklagten habe nicht die Klägerin zu vertreten, wenn auch das Antwortschreiben der BfA vom 18. Dezember 1957 dem Versorgungsamt S erst in Abschrift am 16. Oktober 1958 zur Kenntnis kam. Die Klägerin habe daher nicht mehr mit der Rückforderung rechnen müssen. Sie sei somit entgegen dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 18. Dezember 1958 (BSG 9, 47) von der Verpflichtung befreit, den für die Zeit vom 1. November 1957 bis 31. August 1958 überzahlten Betrag als fremdes Geld für das Versorgungsamt bereitzuhalten. Die nachträglich wieder gutgläubig gewordene Rentenberechtigte habe daher für die ganze Vergangenheit keine Rückzahlungspflicht mehr. Auch aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten bestehe kein Rückforderungsanspruch (§ 47 Abs. 2 Halbs. 2 VerwVG).

Mit der zugelassenen Revision rügt der Beklagte Verletzung des § 47 Abs. 2 VerwVG. Die Entscheidung des LSG widerspreche der bereits angeführten Entscheidung in BSG 9, 47 und dem Urteil in BSG 21, 27. Es komme allein auf die Bösgläubigkeit des Empfängers im Zeitpunkt des Empfangs der jeweiligen monatlichen Rente an, so daß schon begrifflich eine spätere Gutgläubigkeit nicht mehr angenommen werden könne. Nachdem die Bösgläubigkeit im angefochtenen Urteil vom November 1957 an festgestellt worden sei, könne nur beantragt werden,

das angefochtene Urteil und das Urteil der ersten Instanz aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid des Versorgungsamts S vom 7. November 1958 in der Fassung des Widerspruchsbescheids des Landesversorgungsamts Baden-Württemberg in vollem Umfange abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision des Beklagten kostenpflichtig zurückzuweisen, vorsorglich zur Entscheidung der Rechtsfrage den Großen Senat anzurufen.

Die Klägerin habe mit dem Schreiben vom 10. Oktober 1957 ihrer Anzeigepflicht wegen der Änderung ihrer Sozialrentenbezüge genügt. Der Beklagte habe nach der Formblattauskunft vom 17. Juli 1958 über die Einkommenshöhe bis zum Erlaß des angefochtenen Bescheides vom 7. November 1958 gezögert. Damit habe er bei der Klägerin den Eindruck entstehen lassen, daß die Änderung ihrer Sozialbezüge keine Änderung der Versorgungsrente zur Folge habe. Die Verwirkung sei eine auf Treu und Glauben (§ 242 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -) beruhende verfahrensrechtliche Schutzbestimmung; es könne nur eine Höchstwartezeit von sechs Monaten zugebilligt werden. Die Rückforderung sei also durch verspätete Rechtsausübung verwirkt, sie sei mithin rechtsmißbräuchlich.

Die Revision des Beklagten ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); sie ist form- und fristgerecht eingelegt und mithin zulässig (§ 164 Abs. 1 SGG). Sie ist auch begründet.

Streitig ist, ob der Beklagte befugt ist, eine auf Grund der Neufeststellung überzahlte Leistung in Höhe von 670,- DM aus der Zeit von 1957/58 vom Versorgungsempfänger zurückzufordern. Der Rechtsstreit hängt mithin von der Auslegung des § 47 Abs. 2 VerwVG wesentlich ab.

Nach § 47 Abs. 2 VerwVG kann der zu Unrecht gezahlte Betrag nur zurückgefordert werden, wenn der Empfänger wußte oder wissen mußte, daß ihm die gezahlten Versorgungsbezüge im Zeitpunkt der Zahlung nicht oder nicht in der bisherigen Höhe zustanden. Die Neufassung vom 27. Juni 1960 (BGBl I 453) hat in diesem Punkt keine sachliche Änderung gebracht. Der Sinn der Rückforderungsvorschrift ist, daß der schlechtgläubige Leistungsempfänger nicht geschützt wird und daß er daher auch die Vorteile der in der Vergangenheit erlangten (überzahlten) Bezüge nicht behalten darf. Der schlechte Glaube richtet sich hierbei nach dem Zeitpunkt der Zahlung der einzelnen Versorgungsbezüge (BSG 13, 56). Wie schon in den angeführten Entscheidungen ausgesprochen ist, kann die einmal gegebene Schlechtgläubigkeit sich zu einem späteren Zeitpunkt schon begrifflich nicht in eine Gutgläubigkeit verwandeln. Der Klägerin ist einzuräumen, daß alle Ansprüche öffentlicher Rechtsträger - ebenso wie im bürgerlichen Recht - ihre Grenze in dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben (§ 242 BGB) und dem daraus entwickelten Rechtsinstitut der Verwirkung finden. Denn ein Anspruch kann durch lange Nichtausübung des Rechts verwirkt werden, so daß sein Geltendmachen eine unzulässige Rechtsausübung wird. So hat das BSG in BSG 9, 53 ausgesprochen, daß der Rentenempfänger damit rechnen darf, daß die Versorgungsbehörde ihrer Verpflichtung zur Neufeststellung gewisse Zeit nach der Einkommensmeldung nachkomme. Diese Entscheidung des BSG hat die "gewisse Zeit" im Hinblick auf § 88 Abs. 1 SGG auf sechs Monate begrenzt und die unzulässige Rechtsausübung für die Zeit nach Ablauf der sechs Monate angenommen. Der 10. Senat hat mit den Urteilen in BSG 21, 27 sowie vom 24. August 1965 - 10/11 RV 752/63 - ausgesprochen, daß ein Zeitablauf von mehr als vier Jahren seit Kenntnis der Einkommenserhöhung des Rentenberechtigten die Ausübung des Rückforderungsanspruchs unzulässig mache. Er hat für die Bemessung der Frist Anhaltspunkte in der Verjährungsfrist von vier Jahren im § 197 BGB gesehen (ebenso schon BSG 19, 88). Bei der Bemessung der Frist, nach deren Ablauf die Rückforderung unzulässige Rechtsausübung ist, kommt es mithin auf die Umstände des einzelnen Falles an. Aus Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) folgt, daß sich ein Bürger, der vom Staat ein soziales und gerechtes Verhalten erwartet und erwarten darf, sich auch dementsprechend dem Staat gegenüber verhält. Der Bürger, der von einer Verwaltung wiederkehrende Leistungen erhält, muß seine Pflicht, Änderungen wesentlicher Umstände anzuzeigen, ernst nehmen und voll erfüllen (s. BSG 11, 44, 49). Vorliegend hat die Klägerin entgegen ihrer Verpflichtung, an einer erschöpfenden Sachaufklärung mitzuwirken, nur teilweise ihr Wissen um die Einkommenserhöhung dem Beklagten bekanntgegeben und auch nur in so unbestimmter Andeutung, daß die Versorgungsbehörde nur auf Grund weiterer Ermittlungen erkennen konnte, ob und inwieweit sich die Versorgungsbezüge der Klägerin geändert haben. Die Klägerin hat somit gegen ihre Pflicht, an der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken, verstoßen. Diesen Mangel hat sie erst wieder mit der ordnungsgemäßen Ausfüllung des Erhebungsbogens am 15. Juli 1958 behoben. Von diesem Zeitpunkt aber bis zum Neufeststellungs- und Rückforderungsbescheid vom 7. November 1958 ist keinesfalls eine so erhebliche Zeitspanne verstrichen, daß hieraus eine Unzulässigkeit der Rechtsausübung abgeleitet werden könnte, mag man auch sonst eine Verwirkung schon vor Ablauf der regelmäßigen Verjährungsfrist anerkennen. Die Versorgungsbehörde hat mithin ihren Anspruch auf Rückforderung des überzahlten Betrages von 670,- DM noch nicht durch ihr mehrmonatiges Schweigen verwirkt, zumal sie erst das sonstige Einkommen der Klägerin aus zwei sich häufig ändernden Sozialrenten, aus der Angestelltenversicherung und aus der österreichischen Pensionsversicherung, ermitteln mußte. Denn der Beklagte konnte nicht schon auf Grund der Angaben der Klägerin im Fragebogen vom 15. Juli 1958 endgültig entscheiden. Um nichts zu versäumen, hat die Versorgungsverwaltung ohnehin der Klägerin mit Benachrichtigung vom 23. Juli 1958 über die zu erwartende Kürzung der Rente unterrichtet. Unter diesen Umständen war ihr zuzumuten, den Neufeststellungsbescheid vom 7. November 1958 abzuwarten. Das haben die Vorinstanzen, indem sie sowohl die Sorgfaltspflicht der Verwaltung überspannten, als auch die Mitwirkungspflicht der Klägerin an einer erschöpfenden Sachaufklärung unbeachtet ließen, nicht ausreichend berücksichtigt. Das LSG hat mithin das der Verwaltung im § 47 Abs. 2 VerwVG gegebene Recht auf Rückforderung zu Unrecht gemäß § 242 BGB eingeschränkt. Wegen dieser Gesetzesverletzung waren daher die angefochtenen Urteile der Vorinstanzen abzuändern. Da allein die Rechtsfrage in Auslegung und Anwendung des § 47 VerwVG und die Reichweite des § 242 BGB streitig war, konnte der Senat über den Rechtsstreit selbst entscheiden (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG). Wegen des begründeten Rückforderungsanspruches des Beklagten war daher die Klage gegen den Bescheid des VersorgA I Stuttgart vom 7. November 1958 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 6. März 1959 in vollem Umfange abzuweisen (§ 47 Abs. 2 VerwVG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380474

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