Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeldanspruch. Verfügbarkeit. Vermittelbarkeit bei Beschränkung auf Halbtagsbeschäftigung wegen Kinderbetreuung. Üblichkeit der Halbtagsarbeit auf dem Arbeitsmarkt des Bezirks
Orientierungssatz
Bei der Anwendung des § 76 Abs 1 Nr 3 AVAVG kommt es nicht darauf an, ob auf dem Arbeitsmarkt des Bezirks unterhalb der Vollarbeitszeit liegende Beschäftigungsverhältnisse üblich sind. Dadurch, dass in § 76 Abs 1 Nr 3 AVAVG die Geringfügigkeitsgrenze des § 66 AVAVG erwähnt ist, fällt die Normaldauer der Arbeitszeit hier nicht unter die üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes.
Normenkette
AVAVG §§ 36, 76 Abs. 1 Nr. 3, § 66
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 26.04.1961) |
SG Ulm (Urteil vom 26.07.1960) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 26. April 1961 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Die 1911 geborene Klägerin war von 1951 bis Ende August 1959 teils ganz- teils halbtags als Arbeitnehmerin tätig. Am 3. Sept. 1959 meldete sie sich arbeitslos und erklärte, wegen der Betreuung ihres neunjährigen Kindes könne sie nur etwa fünf bis sechs Stunden täglich arbeiten. Daraufhin versagte ihr das Arbeitsamt mit Bescheid vom 18. Sept. 1959 das Arbeitslosengeld (Alg), weil sie der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung stehe. In ihrem Widerspruch erklärte die Klägerin, sie habe schon jahrelang halbtags gearbeitet und inzwischen wieder eine Halbtagsbeschäftigung angenommen. Der Widerspruch wurde zurückgewiesen, weil halbtägige Büroarbeit nicht üblich und die Klägerin deshalb nicht in ausreichendem Maße verfügbar sei.
Das Sozialgericht (SG) verurteilte die Beklagte, der Klägerin einen neuen Bescheid über die Gewährung von Alg zu erteilen. Es war der Ansicht, daß Halbtagsbeschäftigungen in Heidenheim und Umgebung als den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes entsprechend angesehen werden müßten. Die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung der Beklagten wies das Landessozialgericht (LSG) zurück. Es war der Ansicht, daß der Klägerin die Vorschrift des § 76 Abs. 1 Nr. 3 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) zugute komme. Denn hinsichtlich der Dauer der Arbeitszeit enthalte § 76 Abs. 1 Nr. 3 AVAVG eine Ausnahmeregelung zu Gunsten der Personen, die infolge gewisser Umstände, insbesondere tatsächlicher oder rechtlicher Bindungen, keine volle Beschäftigung annehmen könnten. Solche Personen müßten nur in der Lage sein, eine Tätigkeit von mehr als geringfügigem Umfang auszuüben. Diese Auslegung ergebe sich aus dem Wortlaut, für sie spreche auch die Vorgeschichte; der Gesetzgeber habe bewußt die Regelung des § 87 a Abs. 2 AVAVG aF übernehmen wollen. Das LSG ließ die Revision zu.
Die Beklagte legte gegen das ihr am 23. Juni 1961 zugestellte Urteil am 20. Juli 1961 Revision ein und begründete sie am 23. August 1961. Sie trägt vor, das LSG habe gegen § 136 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verstoßen, weil es in den Urteilsgründen auf die Begründung eines anderen Urteils Bezug genommen habe. Das LSG habe auch die §§ 76 Abs. 1 Nr. 3, 36 AVAVG fehlerhaft ausgelegt. Es sei nicht möglich, in § 76 Abs. 1 AVAVG eine negative Voraussetzung aus dem zusammenhängenden Satz zu isolieren und, wenn diese Voraussetzung nicht erfüllt sei, daraus zu folgern, daß der Arbeitslose ungeachtet der fehlenden übrigen Verfügbarkeitsvoraussetzungen verfügbar sei. Nach dem Satzaufbau und der Gliederung des Absatzes bezögen sich die Nummern 1, 2 und 3 jeweils auf eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes. Es sei nicht statthaft, die üblichen Bedingungen verschieden auszulegen, je nachdem ob sie in Verbindung zu Nr. 2 oder zu Nr.3 gebracht würden. Der Gesetzgeber habe die Nrn. 2 und 3, obwohl dies nicht notwendig gewesen sei, eingefügt, weil er auf die Fälle der Hinderung eines Arbeitslosen, Vollarbeit unter den üblichen Bedingungen zu leisten, habe eingehen wollen. Ein besonderer Sinn könne für Nr. 3 nur darin gesehen werden, daß die nach Nr. 3 durch sonstige Umstände an der Ausübung von Vollarbeit gehinderten Personen trotz dieser objektiven Einschränkung nur verfügbar seien, wenn Teilzeitarbeit den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes entspreche, wogegen die in Nr. 1 geforderte ernstliche Bereitschaft nicht auf Teilzeitarbeit beschränkt werden könne, auch wenn diese auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in nennenswertem Umfange ausgeübt werde. Als verfügbar könne deshalb ein Arbeitsloser, bei dem die Voraussetzungen der Nr. 3 vorlägen, nur angesehen werden, wenn Teilzeitarbeit auf dem für ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarkt üblich sei. Nur diese Auslegung stehe in Einklang mit § 36 AVAVG. Für die Meinung, daß Nr. 3 die Privilegierung einer bestimmten Gruppe, insbesondere der Frauen, beabsichtige, finde sich ... weder in der Entstehungsgeschichte noch an anderer Stelle des AVAVG eine Stütze.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG Baden-Württemberg vom 26. April 1961 und des SG Ulm vom 26. Juli 1960 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II.
Die durch die Zulassung statthafte, auch form- und fristgerecht eingelegte Revision ist nicht begründet.
Bei einer zulässigen Revision hat das Bundessozialgericht (BSG) von Amts wegen zu prüfen, ob die Berufung statthaft war (vgl. BSG 2, 225; 3, 126). Die Klägerin hatte in der Klageschrift beantragt, ihr Alg vom 1. bis 22. September 1959 zu gewähren. In der mündlichen Verhandlung hatte sie erklärt, sie stehe seit dem 22. Sept. 1959 wieder in einem festen Arbeitsverhältnis. Sie hatte beantragt, die Beklagte zu verpflichten, ihr einen neuen Bescheid über die Gewährung von Alg vom 7. September 1959 an zu erteilen. Wenn dieser Antrag auch nicht ausdrücklich auf die Dauer der Arbeitslosigkeit eingeschränkt ist, so ergibt sich doch aus den gesamten Umständen, daß die Klägerin Alg nur während ihrer Arbeitslosigkeit begehrte. Die Berufung war daher nach § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG ausgeschlossen. Weil das SG sie nicht zugelassen hat, ist sie nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird (§ 150 Nr. 2 SGG). Die Beklagte hat, wie das LSG im einzelnen näher ausführt, mit Recht einen solchen Mangel des Verfahrens gerügt: Das SG wäre von seinem Rechtsstandpunkt aus verpflichtet gewesen zu klären, ob im September 1959 im Bezirk Heidenheim Halbtagsarbeit üblich war; dabei hätte es sich nicht auf die vorgelegten Stellenangebote stützen dürfen, weil aus ihnen nicht zu ersehen war, daß die Halbtagsbeschäftigung über eine Häufung von Ausnahmefällen hinaus eine ständige Übung geworden war. Des weiteren ist auch ein Verstoß gegen § 128 SGG anzunehmen, da die vorgelegten Stellenanzeigen sich nicht auf den streitigen Zeitraum, sondern auf einen späteren erstreckt haben; das SG durfte aus ihnen nicht entnehmen, daß auch bereits im September 1959 eine Halbtagsbeschäftigung eine Arbeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes darstellte. Die Berufung war daher zulässig.
Die Beklagte rügt zunächst Verletzung des § 136 SGG, weil das LSG in der Begründung auf die Entscheidungsgründe einer anderen Sache verwiesen habe. Mit diesem Vorbringen kann die Beklagte jedoch nicht gehört werden, weil sich aus dem Gesamtinhalt des Urteils die Rechtsauffassung des LSG ergibt, so daß das BSG in der Lage ist, das Urteil vollständig nachzuprüfen.
Nach § 76 Abs. 1 Nr. 3 AVAVG steht der Arbeitsvermittlung zur Verfügung, wer nicht durch sonstige Umstände, insbesondere tatsächliche oder rechtliche Bindungen, gesetzliche Beschäftigungsverbote oder behördliche Anordnungen, die eine Beschäftigung von mehr als geringfügigem Umfang (§ 66) ausschließen, gehindert ist, eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben, und nach der im Arbeitsleben herrschenden Verkehrsauffassung für eine Vermittlung als Arbeitnehmer in Betracht kommt. Wie der erkennende Senat in seinem Urteil 7 RAr 60/61 vom gleichen Tage des näheren ausgeführt hat - darauf wird verwiesen -, kommt es bei Anwendung der Nr. 3 nicht darauf an, ob auf dem Arbeitsmarkt des Bezirks unterhalb der Vollarbeitszeit liegende Beschäftigungsverhältnisse üblich sind. Dadurch, daß in Nr. 3 die Geringfügigkeitsgrenze des § 66 erwähnt ist, fällt die Normaldauer der Arbeitszeit hier nicht unter die üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes. Andernfalls wäre die Einfügung der Nr. 3 in das Gesetz nicht nur sinnwidrig, sondern auch überflüssig, da eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen ohnehin zur Verfügbarkeit führt, also auch Halbtagsarbeit, wenn sie üblich ist. Die Sonderregelung der Nr. 3 erklärt sich aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift - schon früher (§ 87 a Abs. 2 AVAVG aF) war dieser Personenkreis begünstigt - sowie aus der besonderen Schutzbedürftigkeit dieser Personen.
Da die übrigen Voraussetzungen des Alg-Anspruchs der Klägerin gegeben sind - insoweit herrscht zwischen den Beteiligten kein Streit -, hat das LSG die Beklagte zu Recht zur Zahlung von Alg verurteilt. Ihre Revision muß daher zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen