Entscheidungsstichwort (Thema)

Bindung der Wehrbereichsverwaltung an Entscheidung des Versorgungsamtes Wegeunfall. Unterbrechung des Heimweges wegen Hilfeleistung bei Verkehrsunfall. Fortsetzung des Wegeunfallschutzes nach Beendigung der Unterbrechung. Fahrtunterbrechung durch Unfallhilfe

 

Orientierungssatz

1. Die Entscheidung des Versorgungsamtes über eine Wehrdienstbeschädigung iS des § 81 SVG und über den ursächlichen Zusammenhang von Gesundheitsstörungen mit einem Tatbestand des § 81 SVG ist auch für den Anspruch auf Ausgleich nach § 85 SVG verbindlich, über den die Wehrbereichsverwaltung zu befinden hat.

2. Ein Soldat, der auf dem Wege vom Dienstort zur ständigen Familienwohnung die Fahrt unterbricht, um an einer Unfallstelle Hilfe zu leisten und anschließend bis zum Eintreffen der Polizei wartet, um sich als Zeuge zu melden, steht bei Wiederaufnahme des Heimweges unter Versorgungsschutz.

 

Normenkette

SVG § 81 Abs 4 S 1 Nr 2, § 81 Abs 4 S 3, § 85 Abs 1, § 88 Abs 1 S 1, § 88 Abs 3 S 1, § 81 Abs 4 S 1 Nr 4

 

Verfahrensgang

SG Detmold (Entscheidung vom 21.10.1982; Aktenzeichen S 18 V 217/80)

 

Tatbestand

Der Kläger fuhr am 29. April 1977 mit seinem Personenkraftwagen (Pkw) von der Kaserne in Münster, wo er Wehrdienst leistete, zu seiner ständigen Familienwohnung bei seinen Eltern in Bochum. In der Gegend von Lüdinghausen beobachtete er auf der Bundesstraße, wie vor ihm ein Pkw, der einem verkehrswidrig fahrenden Zweiradfahrer ausweichen mußte, verunglückte. Der Kläger hielt an, um Hilfe zu leisten, half beim Räumen der Unfallstelle und wartete anschließend das Eintreffen der Polizei ab, um sich als Zeuge zu melden. Nach der Aufnahme seiner Personalien wollte er zu seinem Fahrzeug zurückkehren, das auf der anderen Straßenseite parkte. Beim Überqueren der Straße wurde er von einem vorbeifahrenden Wagen erfaßt und verletzt. Für die Zeit nach dem Wehrdienst - ab 1. Januar 1978 - gewährte ihm die Versorgungsverwaltung Versorgung nach dem Soldatenversorgungsgesetz (SVG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG); es anerkannte Schädigungsfolgen an der rechten Schulter und am rechten Bein und setzte die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) anfangs mit 40 vH, ab Mai 1978 mit 30 vH fest (Bescheid vom 12. Januar 1979). Die Wehrbereichsverwaltung, die eine Berichtigung dieser Entscheidung nicht erreichte, lehnte einen Anspruch nach § 85 SVG bis zum Ende des Wehrdienstes ab, weil die Hilfe, die der Kläger geleistet habe, nicht vom Versorgungsschutz des § 81 SVG erfaßt werde (Bescheid vom 18. Juni 1980).

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger einen Ausgleich nach § 85 SVG zu gewähren (Urteil vom 21. Oktober 1982). Das Gericht hat einen Unfall auf dem Heimweg zur Familienwohnung angenommen. Dieser Weg sei durch die Hilfeleistung und Zeugentätigkeit nicht unterbrochen worden. Der äußere Zusammenhang mit der Heimfahrt sei erhalten geblieben, und der Kläger habe sich aufgrund der Belehrungen über sein außerdienstliches Verhalten nach § 17 Soldatengesetz (SoldG) zur Hilfe verpflichtet gehalten. Selbst wenn die Fahrt unterbrochen worden wäre, hätte der Versorgungsschutz auf dem Weg über die Straße ebenso fortbestanden, wie wenn ein Fußgänger auf einem geschützten Weg die Straßenseite wechselt.

Die Beklagte rügt mit ihrer - vom SG zugelassenen - Sprungrevision eine Verletzung der §§ 81 und 85 SVG und des § 539 Reichsversicherungsordnung (RVO). An die zusprechende Entscheidung der Versorgungsverwaltung sei sie nicht gebunden, weil diese rechtswidrig sei. Die Hilfeleistung des Klägers sei nicht dem Wehrdienst zuzurechnen. Vielmehr habe der Kläger eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit verrichtet, die allenfalls unfallversicherungsrechtlich geschützt sei. Die Heimfahrt sei auch bei einer fünfundzwanzigminütigen Dauer nicht geringfügig unterbrochen worden.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger und der Beigeladene zu 1) beantragen, die Revision zurückzuweisen.

Das Land als Träger der Versorgungsverwaltung hat keinen Antrag gestellt.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten hat keinen Erfolg.

Dem Kläger ist ebenso ein Ausgleich nach § 85 Abs 1 und 4 Satz 1 und 3 SVG idF vom 18. Februar 1977 (BGBl I 337) für die Dauer des Wehrdienstes zu gewähren, wie er bereits Versorgung für die anschließende Zeit erhält.

Das Versorgungsamt hat über eine Wehrdienstbeschädigung (WDB) iS des § 81 SVG und über den ursächlichen Zusammenhang von Gesundheitsstörungen mit einem Tatbestand des § 81 SVG positiv entschieden und dem Kläger für die Zeit nach dem Wehrdienst Versorgung gemäß § 80 Satz 1 SVG iVm dem BVG zuerkannt (§ 88 Abs 1 Satz 2 SVG). Diese Entscheidung ist auch für den Anspruch auf Ausgleich nach § 85 SVG verbindlich, über den die Wehrbereichsverwaltung zu befinden hat (§ 88 Abs 1 Satz 1 SVG).

Diese Bindung wird gesetzlich erst durch § 88 Abs 3 Satz 1 SVG idF des Art 1 Nr 33 Buchstabe b des 7. Änderungsgesetzes vom 7. Juli 1980 (BGBl I 851) vorgeschrieben (vgl dazu Urteil des erkennenden Senats vom 28. März 1984 - 9a RV 42/82 -). Diese Bestimmung, die am 1. Januar 1981 in Kraft getreten ist (Art 10 Abs 2 Nr 1), erfaßt den Sachverhalt dieses Falles aus dem Jahre 1977 nicht. Aber diese Regelung ordnet ausdrücklich, was zuvor schon kraft eines allgemeinen Grundsatzes für Verwaltungsakte galt, die zur Regelung eines Sachverhalts von mehreren Behörden erlassen werden.

Von 1977 bis 1979 erzeugte eine solche Bindung bereits ein - hier fehlendes - rechtskräftiges sozialgerichtliches Urteil, das wegen einer Versorgung nach dem Wehrdienst ergangen war (§ 88 Abs 5 Satz 2 Nr 3 Halbsatz 2 iVm Halbsatz 1 SVG idF vom 18. Februar 1977). Für Verwaltungsentscheidungen war dies zwar weder in den Verwaltungsvorschriften zu den §§ 80 bis 84 und 88 SVG noch in den Richtlinien zum SVG idF vom 10. Mai 1973 (Beilage 20/73 zum BAnZ Nr 121 vom 4. Juli 1973, S 3 und 24), vorgeschrieben, wohl aber in Nr 20 Satz 1 des Gemeinsamen Erlasses des Bundesministers der Verteidigung und des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung vom 8. März 1976 (VMBl 1976, 114). Der 10. Senat des Bundessozialgerichts (BSG), der nicht mehr für solche Streitsachen zuständig ist, hat allein aus dieser verwaltungsinternen Regelung eine Bindungswirkung im Außenverhältnis zum Versorgungsberechtigten kraft einer Selbstbindung der Verwaltung abgeleitet (BSG SozR 3100 § 62 Nr 9). Diesem Ergebnis ist zuzustimmen.

Die Bundesverwaltung, hier als Einheit verstanden (Art 84 Abs 1 und 2, Art 85 Abs 1 und 2, Art 87b Abs 1 Grundgesetz -GG-, § 88 Abs 1 und 2 SVG), legte mit dieser Anordnung ausdrücklich fest, was sich aus einem ungeschriebenen, in Lehre und Rechtsprechung anerkannten Grundsatz des allgemeinen Verwaltungsrechts ergibt. Ein Verwaltungsakt hat demnach mit seiner Existenz als solcher, dh mit seiner Regelung eines verwaltungsrechtlichen Verhältnisses (BSGE 9, 80, 83 = SozR Nr 17 zu § 55 SGG; jetzt § 31 Satz 1 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - -SGB X-), eine Drittwirkung, die sogenannte Tatbestandswirkung, dh er bindet auch eine andere Behörde, für deren Beziehung zum Betroffenen der Regelungsgehalt bedeutsam ist. Hier bezieht sich die Tatbestandswirkung auf die Anerkennung von Schädigungsfolgen iS der §§ 80 und 81 SVG (BSG SozR Nr 84 zu § 1 BVG; BSGE 27, 22 = SozR Nr 59 zu § 77 SGG; BSGE 34, 289, 291 = SozR Nr 13 zu § 19 BVG; Urteil des erkennenden Senats vom 1. März 1984 - 9a RVg 1/82 -). Dies ist von der Wehrbereichsverwaltung nicht allein als eine Entscheidung mit Wirkung für einen Anspruch nach dem Wehrdienst zu respektieren (Ipsen, Verwaltung 1984, 169, 176 f), sondern vermag darüber hinaus wegen der gemeinsamen Anspruchsvoraussetzung dieser anderen Verwaltungsbehörde zu verbieten, über Leistungen für die Dauer des Wehrdienstes (§ 85 BVG) abweichend zu entscheiden und die geltend gemachten Gesundheitsstörungen nicht als Folgen einer WDB iS des § 81 SVG anzuerkennen. Die Entscheidungen der beiden Behörden decken sich inhaltlich, was für eine Tatbestandswirkung der hier in Betracht kommenden Art erforderlich ist (BSG SozR 3870 § 3 Nr 7). Eine solche Bindung mag grundsätzlich nicht zwischen zwei Behörden eintreten, die aufgrund desselben Tatbestandes über verschiedene Rechtsfolgen zu befinden haben (BSGE 52, 168, 173 f = SozR 3870 § 3 Nr 13). So ist es hier aber nicht. Die im gegenwärtigen Fall eintretende Wirkung der Entscheidung über einen Versorgungstatbestand bezieht sich auf die gleiche Rechtsfolge für einen früheren Zeitraum, was für eine andere Verwaltung zuständig ist. Darüber hinaus stimmte sie mit der damals bestehenden Regelung überein, daß sie bereits Urteilen zukam. Sie wird benötigt durch die umfassendere gesetzliche Anordnung, die nunmehr gilt. Der begünstigte Bürger mußte bereits damals darauf vertrauen können, daß über denselben Versorgungsfall für einen vorausgegangenen Zeitraum nicht anders entschieden werde. Wenn wegen der bundesstaatlichen Verfassung über die Versorgung für WDB-Folgen innerhalb der Dienstzeit eine Bundesbehörde, über dieselbe für die Zeit nach dem Dienst eine Landesbehörde zu entscheiden hat, dann ist das kein hinreichender Grund dafür, ausnahmsweise von der dargelegten Tatbestandswirkung abzuweichen, die vernünftigerweise grundsätzlich geboten ist.

Die Tatbestandswirkung tritt selbst dann ein, wenn der Verwaltungsakt rechtswidrig ist, es sei denn, daß er wegen grober Fehlerhaftigkeit nichtig ist (Kopp, Verwaltungsverfahrensgesetz, 3. Aufl 1983, Vorbem 25 bis 27 vor § 35 mN; Erichsen/Martens in: Erichsen/Martens -Hg-, Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Aufl 1983, S 59, 203; ergänzend: BSGE 37, 135, 136 = SozR 2200 § 250 Nr 1; BVerwGE 60, 111, 117). Die Entscheidung des Versorgungsamtes ist aber nicht grob fehlerhaft, sondern gerade rechtmäßig.

Ob die Schädigung schon deshalb als wehrdiensteigentümlich iS der 3. Alternative des § 81 Abs 1 SVG zu bewerten ist, weil der Kläger sich für verpflichtet hielt, als Soldat bei Verkehrsunfällen zu helfen und sich als Zeugen zur Verfügung zu stellen (§ 17 Abs 2 Satz 2 SoldG (idF vom 19. August 1975 - BGBl I 2273 -/24. August 1976 - BGBl I 2485 -; BVerwGE 46, 41, 43 f), kann dahingestellt bleiben.

Jedenfalls hat der Kläger einen Unfall während der Ausübung seines Wehrdienstes erlitten (2. Alternative in § 81 Abs 1 BVG).

Die Familienheimfahrt, auf der er sich befand, bevor er den Unfall erlitt, dh der mit dem Wehrdienst zusammenhängende Weg von der Dienststelle zu seiner auswärtigen Familienwohnung, gilt nach § 81 Abs 4 Satz 1 Nr 2 iVm Satz 3 SVG 1977 als Wehrdienst. Diese fiktive Dienstausübung ist allerdings auf das Zurücklegen des Weges beschränkt, mithin auf die Fortbewegung in Richtung auf das Ziel der Familienwohnung (Urteil des erkennenden Senats vom 20. April 1983 - 9a RV 30/82 -; BSG SozR Nr 5 zu § 543 RVO aF; SozR 2200 § 550 Nrn 24 und 27) und umfaßte daher nicht die Hilfe an der Unfallstelle, die das Weiterfahren verhinderte; anders mag es beim Freiräumen des Weges sein (BSGE 50, 80, 81 f = SozR 3200 § 81 Nr 13). Dennoch war der Kläger nach Zurechnungsmaßstäben, die für die gesetzliche Unfallversicherung und für das Versorgungsrecht grundsätzlich einheitlich gelten (BSGE 28, 190, 193 f = SozR Nr 6 zu § 4 BVG; BSGE 33, 239, 242 f = SozR Nr 2 zu § 81 SVG 1964; SozR 3200 § 81 Nr 17; BVBl 1971, 107; BSGE 50, 81), im Zusammenhang mit der Fahrtunterbrechung bei seinem Unfall versorgungsrechtlich geschützt.

Eine unerhebliche, geringfügige, unbedeutende Unterbrechung (tatsächlicher Art), die dem Zurücklegen des Weges noch zugeordnet wird (BSGE 22, 7, 9 = SozR Nr 53 zu § 543 RVO aF; BSGE 43, 113, 115, 117 = SozR 2200 § 550 Nr 26; SozR Nrn 5 und 28 zu § 543 RVO aF; Nr 31 zu § 548 RVO; Nr 16 zu § 550 RVO; 2200 § 539 Nrn 21 und 27; USK 77220), scheidet hier wohl aus, weil der Kläger zu lange an der Unfallstelle verweilt haben wird. Andererseits dauerte die Verrichtung nicht so lange, daß eine "Lösung" von der Familienheimfahrt angenommen werden müßte (vgl BSG SozR 2200 § 550 Nrn 6, 12, 27, 42). Aber nach der rechtserheblichen "Unterbrechung", von der hier demnach auszugehen ist, wurde der Versorgungsschutz mit der Wiederaufnahme des Heimweges fortgesetzt. Diese begann bereits mit dem Verlassen des anderen Gefahrenbereichs und war jedenfalls schon in Gang, als der Kläger beim Überschreiten der Straße in Richtung auf sein abgestelltes Fahrzeug angefahren wurde (BSGE 41, 141, 144 = SozR 2200 § 548 Nr 13; BSGE 49, 16, 18 = SozR 2200 § 550 Nr 41; SozR Nrn 5 und 50 zu § 543 RVO aF; SozR 2200 § 550 Nrn 27, 44 und 57; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Teil II, S 487d/e; anders bei längerem Rückweg: BSG SozR 2200 § 550 Nr 6). Für das Sichfortbewegen auf dem Heimweg ist die Benutzung des Straßenraumes wesentlich; dabei ist nicht zwischen Fußgänger und Kraftfahrer zu unterscheiden (BSGE 20, 219, 221 f = SozR Nr 49 zu § 543 RVO aF; SozR Nr 28 zu § 543 RVO aF; BSG 31. Januar 1984 - 2 RU 83/82 - = BAGUV RdSchr 17/84).

Die Wehrbereichsverwaltung durfte mithin den Anspruch des Klägers nicht ablehnen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656007

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