Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachentrichtung von Rentenversicherungsbeiträgen
Leitsatz (amtlich)
Zu den Selbständigen im Sinne von AnVNG Art 2 § 50 gehören auch die vertriebenen selbständigen Handwerker; sie sind daher - unter den Voraussetzungen dieser Vorschrift - berechtigt, Beiträge jedenfalls für die Zeit vor der Einführung der Handwerkerversorgung (1939-01-01) zurück bis 1924 nachzuentrichten.
Leitsatz (redaktionell)
1. Das Nachentrichtungsrecht aus AnVNG Art 2 § 50 will früheren Selbständigen, die durch ihre Vertreibung ihre selbständige Existenz und die darin begründete wirtschaftliche Sicherung verloren haben, eine nachzuentrichten, um sich dadurch eine neue Alters- und
2. Die Vorschrift verstößt nicht gegen das Grundgesetz, insbesondere nicht gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung.
Normenkette
AnVNG Art. 2 § 50 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 52 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; HwAVG § 1 Abs. 1 S. 3; GG Art. 3 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 13. Oktober 1959 wird aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 24. Juli 1958 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Von Rechts wegen!
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, ob das Recht der vertriebenen oder evakuierten Selbständigen zur Nachentrichtung von Beiträgen auch selbständigen Handwerkern zusteht, die unmittelbar vor ihrer Vertreibung, Flucht oder Evakuierung pflichtversichert waren (Art. 2 § 50 des "Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Angestellten" vom 23. Februar 1957 - AnVNG -).
Der - 1896 geborene - Kläger war seit 1923 in Danzig als Schneidermeister selbständig tätig, ohne sich in der Folgezeit freiwillig in der Rentenversicherung zu versichern. Im April 1939 wurde er pflichtversichert, und zwar zunächst auf Grund einer Danziger Regelung nach reichsrechtlichem Vorbild und von 1940 an auf Grund des "Gesetzes über die Altersversorgung für das Deutsche Handwerk" - HVG - (vgl. Erlaß des Reichsarbeitsministers vom 10. Oktober 1940, AN 1940, 380). Er gehört zu den Vertriebenen im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes. Nach seiner Vertreibung aus Danzig war er zunächst in Dänemark interniert. Ende 1948 kam er in das Gebiet der heutigen Bundesrepublik. Seit 1949 arbeitete er wieder als selbständiger Schneider und entrichtete erneut Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung der Angestellten.
1957 beantragte der Kläger, gestützt auf Art. 2 § 50 AnVNG, ihm die Nachentrichtung von Beiträgen für die Zeit von 1924 bis 1939 zu gestatten. Die Beklagte lehnte diesen Antrag ab; der Widerspruch blieb erfolglos. Das Sozialgericht (SG) Freiburg stellte dagegen fest, daß der Kläger zur Nachentrichtung von Beiträgen im Rahmen dieser Vorschrift berechtigt sei, weil sie ohne Einschränkung von Selbständigen spreche, für Handwerker keine Ausnahme vorsehe und somit auch den Kläger begünstige (Urteil vom 24. Juli 1958). Auf die Berufung der Beklagten hin hob das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg dieses Urteil jedoch wieder auf und wies die Klage ab. Art. 2 § 50 AnVNG betreffe nur solche Selbständigen, die - anders wie der Kläger - unmittelbar vor ihrer Vertreibung oder Evakuierung nicht versichert gewesen seien. Die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 13. Oktober 1959).
Der Kläger legte gegen das ihm am 9. November 1959 zugestellte Urteil des LSG am 5. Dezember 1959 Revision ein und begründete sie gleichzeitig mit der Rüge, das Berufungsgericht habe die Vorschriften in Art. 2 § 50 AnVNG unrichtig ausgelegt. Er beantragte sinngemäß, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragte, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Vertriebene, die vor ihrer Vertreibung als Selbständige erwerbstätig waren und binnen zwei Jahren nach der Vertreibung oder nach der Beendigung einer als Ersatzzeit anzuerkennenden Zeit der Vertreibung oder Flucht eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen haben, können Beiträge zur Rentenversicherung für die Zeit vor der Vollendung des 65. Lebensjahres bis zum 1. Januar 1924 zurück nachentrichten, auch wenn der Versicherungsfall bereits eingetreten ist (Art. 2 § 50 Abs. 1 AnVNG). Der Wortlaut dieser Vorschrift umfaßt alle Vertriebenen, die in ihrer früheren Heimat als Selbständige erwerbstätig waren, also auch die selbständigen Handwerker. Eine Beschränkung nur auf solche Selbständige, die unmittelbar vor ihrer Vertreibung nicht versichert waren, findet in dieser Wortfassung keinen Ausdruck. Eine solche Einengung läßt sich auch nicht daraus entnehmen, daß das Gesetz vom "aufnehmen" und nicht vom "wiederaufnehmen" einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit spricht. Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch schließt das Aufnehmen einer Beschäftigung das Wiederaufnehmen nicht aus. Auch nach dem Sinn und Zweck dieser Regelung erscheint es richtig, den vertriebenen selbständigen Handwerkern, die einen Teil der vertriebenen Selbständigen bilden, die besondere Nachentrichtungsmöglichkeit zu gewähren und sie ihnen nicht durch eine einengende Auslegung zu nehmen. Das Nachentrichtungsrecht aus Art. 2 § 50 AnVNG will früheren Selbständigen, die durch die Vertreibung ihre selbständige Existenz und die darin begründete wirtschaftliche Sicherung verloren haben, eine Gelegenheit bieten, Beiträge zur Rentenversicherung nachzuentrichten, um sich dadurch eine neue Alters- und Hinterbliebenenversorgung zu verschaffen. Damit die Rentenversorgung tatsächlich auch auskömmlich werden kann, läßt das Gesetz die Nachentrichtung von Beiträgen für einen langen Zeitraum, nämlich für über zwei Jahrzehnte, zu. Der frühere Selbständige ist damit in der Lage, die beitragsfreie Zeit, die durch seine damalige Versicherungsfreiheit entstanden ist, von 1924 an mit Beiträgen aufzufüllen. Er kann also noch den Schutz der Rentenversicherung, den er früher nicht brauchte, nachträglich herstellen, und zwar wert- und umfangmäßig bis zurück zum Schluß der Inflation. Eine Möglichkeit der Beitragsnachentrichtung gleichen Umfangs braucht auch der selbständige Handwerker. Seine soziale Situation unterscheidet sich für die Zeit von der Inflation bis zur Einführung der Handwerkerversorgung im Jahre 1939 nicht von der der übrigen Selbständigen. Wie diese war er damals wirtschaftlich - durch seinen Handwerksbetrieb - geschützt und deshalb versicherungsfrei. Durch die Vertreibung hat er mit seinem Gewerbe auch die wirtschaftliche Sicherheit eingebüßt und ist nunmehr - schon jetzt oder später - allein auf die Rente angewiesen. Ihm muß deshalb auch die Rechtswohltat zustehen, die beitragsfreie Zeit mit Beiträgen nachträglich überbrücken zu dürfen. Es wäre nicht verständlich, den selbständigen Handwerkern wegen der verhältnismäßig kurzen Zeit der Pflichtversicherung vor ihrer Vertreibung das Recht zur Beitragsnachentrichtung für den weit längeren Zeitraum, der vor dieser Versicherungszeit liegt, abzusprechen. Es ist vielmehr sinnvoll, bei der Anwendung des Art. 2 § 50 Abs. 1 AnVNG nicht zwischen Selbständigen, die nicht versicherungspflichtig waren, und versicherungspflichtigen Selbständigen zu unterscheiden (ebenso: Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung 6.Aufl. S. 628 o; Brockhoff, Gesamtkommentar zur Reichsversicherungsordnung, Art. 2 § 52 ArVNG Anm. 3). Das von der Beklagten angestrebte Ergebnis würde die Handwerker, die, wie die Einführung der Handwerkerversorgung zeigt, als besonders schutzwürdig angesehen werden, gegenüber anderen Selbständigen benachteiligen. Dafür bietet das Gesetz keinen Anhalt.
Die gegenteilige Lösung der Streitfrage kann auch nicht aus der Entstehungsgeschichte des Art. 2 § 50 Abs. 1 AnVNG hergeleitet werden. Ursprünglich sollte eine Vorschrift ähnlichen Inhalts dem § 1418 der Reichsversicherungsordnung in einem eigenen Absatz angefügt werden. In der Begründung dazu - nicht aber einmal in dem damals vorgesehenen Gesetzestext selbst - war ausgeführt, daß durch diese Regelung Vertriebene begünstigt werden sollten, die erst nach der Vertreibung versicherungspflichtig geworden seien (Bundestagsdrucksache, 2.Wahlperiode, Nr. 2437; vgl. Ludwig, Die Praxis, S. 481, 482). Es läßt sich nicht erkennen, ob bei dieser Formulierung überhaupt an die versicherungspflichtigen Selbständigen gedacht worden ist oder ob nur der Regelfall angesprochen werden sollte. Aber selbst wenn hieraus Schlüsse auf den mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers gezogen werden könnten, so wäre dies bei der Übereinstimmung von Wortlaut und Sinngehalt des Gesetzes ohne Bedeutung. Das - vielleicht - anders gerichtete Wollen des Gesetzgebers hat jedenfalls keinen entsprechenden Ausdruck im Gesetz gefunden (ebenso: Brockhoff aaO) Ebensowenig bieten die Sonderregelungen, die das AnVNG für Handwerker enthält (Art. 2 § 52), einen Grund, diesen Personenkreis von den Vergünstigungen des Art. 2 § 50 AnVNG auszuschließen. Dies wäre naheliegend, wenn der im Entwurf zum Neuregelungsgesetz geplante Art. 3 § 20 (Bundestagsdrucksache aaO) Gesetz geworden wäre. Hierin war sinngemäß vorgesehen, daß die selbständigen Handwerker von der Rentenneuordnung im wesentlichen zunächst nicht erfaßt werden sollten. Eine entsprechende Vorschrift ist aber nicht beschlossen worden. Vielmehr gebietet § 1 Abs. 1 Satz 3 HVG ausdrücklich die Anwendung sämtlicher Regelungen, die auch sonst für die Angestelltenversicherung maßgebend sind. Art. 2 § 52 AnVNG läßt keinen Schluß dahin zu, daß für die selbständigen Handwerker nur die Berechnungsvorschriften des Neuregelungsgesetzes zur Anwendung kommen sollen; er stellt lediglich zur Vermeidung von Zweifeln klar, was sich schon aus § 1 Abs. 1 HVG in Verbindung mit Art. 3 § 1 AnVNG ergibt (ebenso: Jantz/Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, S. 462).
Den nach dem HVG Versicherten war allerdings schon durch dieses Gesetz selbst die Möglichkeit gegeben, Beiträge nachzuentrichten und dadurch eine angemessene Versorgung zu erzielen (§ 10 HVG). Aber auch dies rechtfertigt nicht, den Vertriebenen unter ihnen eine nochmalige Möglichkeit der Nachentrichtung von Beiträgen zu versagen. Weil die selbständigen Handwerker in ihren Gewerbebetrieben die Grundlage für ihre wirtschaftliche Sicherung sehen konnten, brauchten sie es nicht für ratsam zu halten, damals schon Beiträge nachzuentrichten. Wie die übrigen früheren Selbständigen sollen sie sich nach der Festigung und einer gewissen Übersehbarkeit der Verhältnisse erneut für oder gegen eine Beitragsnachentrichtung entscheiden können.
Der Senat ist der Ansicht, daß Art. 2 § 50 Abs. 1 AnVNG in der Auslegung, die ihm durch diese Entscheidung gegeben wird, keine höherrangige Normen des Grundgesetzes verletzt, insbesondere nicht den Grundsatz der Gleichbehandlung. Die Vorschrift gehört in den Bereich der Vertriebenenfürsorge und berücksichtigt die besonderen Verhältnisse dieses Personenkreises (Bundestagsdrucksache aaO); sie geht mit Recht davon aus, daß es Differenzierungen in der Hilfe für Vertriebene und Evakuierte einerseits und geschädigte Einheimische andererseits geben darf. Insoweit bestehen auch seitens der Beteiligten keine Bedenken. Die Beklagte meint nun aber, entweder dürften nur diejenigen vertriebenen Selbständigen begünstigt werden, die überhaupt keinen Schutz aus der Rentenversicherung hatten, oder es müßte allen Vertriebenen gestattet werden, beitragsfreie Zeiten nachträglich mit Beiträgen zu belegen. Dabei übersieht die Beklagte jedoch, daß es bei den angesprochenen Personengruppen Unterschiede in den tatsächlichen Lebensverhältnissen gibt, die auch Unterschiede in der rechtlichen Behandlung nach sich ziehen dürfen und die die getroffene Regelung berechtigt erscheinen lassen. Wer durch die Kriegsauswirkungen seine Selbständigkeit verloren hat, bleibt auch dann schutzbedürftig, wenn er zeitweise versicherungspflichtig war; der selbständig geführte Betrieb stellte eine - alleinige oder zusätzliche - Sicherung dar, auf die nach der Vertreibung nicht mehr zurückgegriffen werden kann. Wer dagegen aus anderen Gründen versicherungsfrei war, hat keinen eigenen Betrieb eingebüßt und braucht deshalb nicht in der gleichen Art und Weise entschädigt oder begünstig zu werden wie ein ehemals selbständig Erwerbstätiger. Er wird im wesentlichen über die sonstigen Kriegsfolgegesetze, insbesondere über den Lastenausgleich, seine Entschädigung finden, während es für den verlorenen Wert des selbständigen Wirkungskreises keinen Ausgleich gibt; lediglich der Verlust des Betriebsvermögens begründet einen Ausgleichsanspruch. Der vertriebene Selbständige ist nicht nur geschädigt, sondern auch gezwungen, sich anstelle der verlorenen Selbständigen-Existenz eine neue Lebensgrundlage außerhalb seines bisherigen heimatlichen Wirkungsbereichs zu schaffen. Die Verhältnisse liegen bei ihm also anders. Deshalb ist es keine ungleiche Behandlung gleicher Tatbestände, wenn nicht alle Vertriebenen, wohl aber auch die vertriebenen selbständigen Handwerker das erweiterte Nachentrichtungsrecht erhalten.
Der Kläger gehört somit zu den Personen, denen das Recht zur Nachentrichtung von Beiträgen nach Art. 2 § 50 Abs. 1 AnVNG zusteht. Weil auch die sonstigen Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllt sind, erweist sich die Entscheidung des SG als richtig. Sie war daher wiederherzustellen (§§ 170 Abs. 2, 193 Sozialgerichtsgesetz).
Nach Art. 2 § 50 AnVNG dürfen Beiträge nur in den Beitragsklassen des neuen Rechts nachentrichtet werden. Die Vorschrift besagt aber nichts darüber, wie diese Beiträge bei der Rentenfestsetzung zu behandeln sind, ob sie insbesondere zu einer Erhöhung bereits laufender Renten führen können. Darauf einzugehen ist jedoch im Rahmen dieses Rechtsstreits nicht erforderlich, weil dieser lediglich um die Nachentrichtung von Beiträgen und nicht um die Rentenberechnung geführt wird. Etwaige rechtliche Schwierigkeiten bei der - späteren - Rentenberechnung vermögen nicht, das den Selbständigen durch das Gesetz eingeräumte Recht, Beiträge nachzuentrichten, einzuschränken.
Der Kläger hat die Nachentrichtung von Beiträge nur für die Zeit seiner Versicherungsfreiheit von 1924 bis 1939 beantragt. Der Senat braucht deshalb im vorliegenden Fall nicht zu entscheiden, ob vertriebene Handwerker, die früher im Geltungsbereich des HVG gewohnt haben, nach Art. 2 § 50 AnVNG auch Beiträge für Zeiten von 1939 an nachentrichten dürfen. Mit dem sozialen Zweck dieser Vorschrift, nämlich kriegsbedingte Nachteile in der Sozialversicherung auszugleichen, dürfte das wohl nicht vereinbar sein.
Fundstellen