Entscheidungsstichwort (Thema)
absoluter Revisionsgrund iS von § 551 Nr 5 ZPO. nicht ordnungsgemäße Ladung. Verletzung rechtlichen Gehörs. Aufhebung der Beiladung. revisionsgerichtliche Überprüfung
Leitsatz (amtlich)
1. Ein Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung, in der ein Beteiligter mangels ordnungsgemäßer Ladung nicht erschienen und auch nicht vertreten war, beruht auf einem von Amts wegen zu berücksichtigenden Verfahrensmangel.
2. Der Beigeladene wird in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, wenn trotz Kenntnis von der nicht ordnungsgemäßen Ladung in seiner Abwesenheit mündlich verhandelt und vor Urteilserlaß ein Beschluß über die Aufhebung seiner Beiladung verkündet wird.
Orientierungssatz
Die Aufhebung einer Beiladung ist nicht "unanfechtbar" iS von § 548 Halbs 2 iVm § 75 Abs 3 S 3 SGG, weil diese Regelung nur die Unanfechtbarkeit des Beiladungsbeschlusses bestimmt. Deshalb gilt in diesem Fall (ebenso wie für die Ablehnung der Wiedereinsetzung; vgl BSG vom 14.1.1958 - 11/8 RV 97/57 = BSGE 6, 256, 262) der allgemeine Grundsatz des § 548 Halbs 1 ZPO, daß Entscheidungen, die dem Endurteil vorausgegangen sind, der Beurteilung des Revisionsgerichts unterliegen.
Normenkette
SGG §§ 62, 202, 75 Abs. 1-2, 3 Sätze 1, 3; ZPO § 548 Hs. 2; ZPO § 548 Hs. 1; SGG § 63 Abs. 1-2; VwZG § 9 Abs. 1; ZPO § 551 Nr. 5
Verfahrensgang
SG Lübeck (Entscheidung vom 20.08.1990; Aktenzeichen S 7 Kr 67/89) |
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 30.07.1991; Aktenzeichen L 1 Kr 48/90) |
Tatbestand
Streitig ist, ob ein Erstattungsanspruch verspätet geltend gemacht und deshalb ausgeschlossen ist.
Der Beigeladene wurde vom 27. August bis 12. September 1986 und vom 19. September bis 13. November 1986 stationär behandelt; die angefallenen Kosten glichen der örtliche Träger der Sozialhilfe, die Klägerin, und der durch sie vertretene überörtliche Träger, der Sozialminister des Landes Schleswig-Holstein, Amt für Wohlfahrt und Sozialhilfe, am 7. November 1986 und am 26. Februar 1987 aus. Nachdem die Klägerin erfahren hatte, daß dem Beigeladenen rückwirkend aufgrund gerichtlichen Vergleichs Arbeitslosenhilfe für die Zeit vom 23. September 1985 bis zum 30. September 1986 bewilligt worden war, machte sie am 27. Februar 1989 bei der beklagten AOK erfolglos einen Erstattungsanspruch geltend.
Das Sozialgericht (SG) hat mit Beschluß vom 4. Januar 1990 gem § 75 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) den Versicherten zum Verfahren beigeladen und mit Urteil vom 20. August 1990 die Klage abgewiesen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 30. Juli 1991 über die Berufung gegen das Urteil des SG, in dem der Beigeladene weder vertreten noch anwesend gewesen ist, zunächst festgestellt, daß die Postzustellungsurkunde über die Zustellung der Terminsmitteilung an den Beigeladenen nicht zu den Gerichtsakten gelangt sei und hat danach "die möglichen Konsequenzen erörtert" (Sitzungsniederschrift vom gleichen Tag). Es hat sodann die mündliche Verhandlung durchgeführt, nach deren Wiedereröffnung in Abwesenheit der Beteiligten durch verkündeten Beschluß die Beiladung des Versicherten aufgehoben und die Beklagte unter Aufhebung der vorinstanzlichen Entscheidung verurteilt, an die Klägerin 10.213,15 DM zu zahlen (Urteil vom 30. Juli 1991).
Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt die unrichtige Anwendung des § 111 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB X).
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 30. Juli 1991 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 20. August 1990 zurückzuweisen,
hilfsweise, das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet.
Das Verfahren des LSG leidet an einem wesentlichen Mangel, den das Revisionsgericht von Amts wegen zu beachten hat. Der Beigeladene war im Termin zur mündlichen Verhandlung am 30. Juli 1991 nicht iS des § 202 SGG iVm § 551 Nr 5 der Zivilprozeßordnung (ZPO) nach Vorschrift der Gesetze vertreten. Diese Regelung erfaßt auch die nicht ordnungsgemäße oder fehlende Ladung, wenn dadurch der Beteiligte weder selbst noch durch einen Bevollmächtigten an der mündlichen Verhandlung teilnehmen konnte (stRspr; vgl BSG SozSich 1984, 289; 1987, 156; BVerwGE 66, 311; BVerwG Buchholz 310 § 133 VwGO Nrn 89, 96, 103; BFHE 125, 28 mwN; vgl auch Walchshöfer in Münchener Komm ZPO, § 551 Rz 14; Albers in Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 51. Aufl, § 551 Rz 12 mwN).
Der Beigeladene ist zu dem vom Berufungsgericht auf den 30. Juli 1991 anberaumten Termin nicht ordnungsgemäß geladen worden. Für die Ladung, die nach § 63 Abs 1 SGG zuzustellen ist, hat das LSG die Zustellung durch die Post mittels Zustellungsurkunde gewählt (§ 63 Abs 2 SGG iVm §§ 2, 3 des Verwaltungszustellungsgesetzes ≪VwZG≫), bei der der Postbedienstete die Zustellung in bestimmter Form beurkundet (§ 3 Abs 3 VwZG iVm §§ 180 bis 186 und 195 Abs 2 ZPO). Es ist nicht nachgewiesen, daß diese Ladung dem Beigeladenen formgerecht zugestellt oder zugegangen ist (vgl § 9 Abs 1 VwZG). Denn die Postzustellungsurkunde über die Ladung vom 16. Juli 1991 ist nicht zu den Gerichtsakten gelangt und nicht auffindbar, so daß nicht nachgeprüft werden kann, ob die Beurkundung überhaupt erfolgt ist oder ob sie wesentliche Mängel aufweist, die die Unwirksamkeit der Zustellung zur Folge haben (vgl BGH VersR 1961, 511 bei fehlender Unterschrift; OLG Düsseldorf MDR 1984, 76 bei fehlendem Geschäftszeiten; BVerwG Buchholz 303 § 195 ZPO Nr 3 bei nicht vermerkter Ersatzzustellung). Eine telefonische Anfrage durch die Geschäftsstelle des LSG bei der Postanstalt nach dem Verbleib der Postzustellungsurkunde hat ergeben, daß keine Eintragungen bezüglich der Niederlegung erfolgt sind. Andere Beweismittel zum notwendigen Inhalt der in Verlust geratenen Urkunde sind weder dargetan noch ersichtlich. Ebensowenig liegen Anhaltspunkte dafür vor, daß der Beigeladene die Ladung tatsächlich erhalten hat. Nach der beim früheren Pfleger des Beigeladenen eingeholten Auskunft soll sich dieser seinerzeit irgendwo im Süden aufgehalten haben. War mithin nicht festgestellt, daß die Ladung des Berufungsgerichts formgerecht zugestellt oder dem Beigeladenen sonst zugegangen ist, war das LSG gehindert, die Instanz durch Urteil nach mündlicher Verhandlung vom 30. Juli 1991 zu beenden. Es mußte vielmehr von sich aus und ohne ausdrücklichen Antrag den Rechtsstreit vertagen (BSG SozR 3-1500 § 110 Nr 3). Die Durchführung der mündlichen Verhandlung trotz Kenntnis von der nicht ordnungsgemäßen Ladung eines Beteiligten stellt einen Verfahrensmangel dar, der die Wirksamkeit des Verfahrens als Ganzes berührt und daher vom Bundessozialgericht (BSG) von Amts wegen zu berücksichtigen ist (vgl BSGE 67, 190, 191 = SozR 3-2200 § 1248 Nr 2 mwN; BSG SozR 3-1500 § 110 Nr 3).
Das Berufungsgericht konnte der nicht ordnungsgemäßen Ladung des Beigeladenen auch nicht dadurch ausweichen, daß es die Aufhebung seiner Beiladung beschloß und diesen Beschluß vor Urteilserlaß im Termin verkündete. Damit hat das LSG den Beigeladenen in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes ≪GG≫). Denn durch die Aufhebung der Beiladung entzieht das Gericht dem Beigeladenen eine eingeräumte prozessuale Rechtsposition (Recht auf Stellung von Anträgen und zur Einlegung von Rechtsmitteln, Recht auf Gehör) und greift damit in bestehende subjektive öffentliche Rechte des Beigeladenen ein (vgl VGH Freiburg DÖV 1955, 86, 87). Der Aufhebungsbeschluß als konstitutiver, den Status als Prozeßbeteiligter umgestaltender Akt kann deshalb nicht ohne Gewährung rechtlichen Gehörs ergehen. Wird er in der mündlichen Verhandlung verkündet, in der der Beigeladene infolge Ladungsmangels nicht anwesend und auch nicht vertreten ist, verletzt dies zugleich verfassungsrechtliche Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des fairen Verfahrens (vgl BVerfGE 54, 117, 126). Eine solche Verfahrensgestaltung ist offensichtlich unhaltbar, weil sie den Beteiligten zum bloßen Objekt des Verfahrens macht. Dabei ist es ohne Bedeutung, ob die Beiladung eine sog einfache oder notwendige war, ob sie zweckmäßig oder gar unzulässig war. Die in diesem Zusammenhang in den Gründen des Aufhebungsbeschlusses niedergelegten Erwägungen des Berufungsgerichts, die Aufrechterhaltung der - einfachen - Beiladung sei nicht zweckmäßig, weil sich der Beigeladene nicht um das Verfahren gekümmert habe, sind im übrigen schon deshalb nicht nachvollziehbar, weil die für diesen eingerichtete Gebrechlichkeitspflegschaft mit dem Wirkungskreis "Wahrnehmung der vermögensrechtlichen Angelegenheiten - Bestimmung des Aufenthalts" erst kurz zuvor, am 20. Juni 1991, aufgehoben worden war. Bei dieser Verfahrensgestaltung durch das LSG drängt sich vielmehr der Schluß auf, daß die Aufhebung der Beiladung insofern auf sachfremden Erwägungen beruhte, als sie die Möglichkeit eröffnen sollte, noch im selben Termin "durchentscheiden" zu können. Unter diesen besonderen Umständen läge der absolute Revisionsgrund iS von § 202 SGG iVm § 551 Nr 5 ZPO sogar dann vor, wenn der Aufhebungsbeschluß mit seiner Verkündung auch dem Beigeladenen gegenüber wirksam geworden wäre und dieser deshalb bei Urteilsverkündung nicht mehr Beteiligter gewesen wäre. Das war aber schon deshalb nicht der Fall, weil der Aufhebungsbeschluß weder in Anwesenheit des Beigeladenen verkündet noch ihm zugestellt worden ist.
Der Senat läßt offen, ob und unter welchen Voraussetzungen das LSG überhaupt berechtigt war, den Beiladungsbeschluß aufzuheben, oder ob es hieran durch § 202 SGG iVm § 512 ZPO gehindert war, weil Beiladungsbeschlüsse nach § 75 Abs 3 Satz 1 SGG unanfechtbar sind und damit grundsätzlich nicht der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegen (im einzelnen streitig; vgl Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl, § 75 Rz 16 mwN). Jedenfalls fehlt es an der nach § 75 Abs 3 Satz 1 SGG vorgeschriebenen Zustellung, die nicht nur für den Beiladungsbeschluß, sondern auch für den Beschluß über die Aufhebung der Beiladung erforderlich ist. Die Entlassung des Beigeladenen als Wirkung der Aufhebung eines Beiladungsbeschlusses tritt grundsätzlich erst mit der Zustellung des Aufhebungsbeschlusses ein (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, S 234y II). Die Frage, ob der Aufhebungsbeschluß ausnahmsweise bereits mit seiner Verkündung wirksam geworden wäre, wenn der Beigeladene wie die anderen Beteiligten in der mündlichen Verhandlung anwesend oder vertreten gewesen wäre (vgl dazu BFHE 148, 420, 421; Eyermann/Fröhler, VwGO, § 65 Rz 50, 54; Rohwer-Kahlmann, Komm zum SGG, § 75 Rz 117), bedarf hier keiner Entscheidung, weil dies weder für den Beigeladenen noch auch nur für die anderen Beteiligten zutrifft. Deshalb ist der Aufhebungsbeschluß vor Erlaß des angefochtenen Urteils nicht, jedenfalls nicht dem Beigeladenen gegenüber, wirksam geworden. Dem Revisionsgericht war es insoweit auch nicht durch § 202 SGG iVm § 548 ZPO verwehrt, die Aufhebung der Beiladung bzw ihre Wirksamkeit nachzuprüfen. Zwar unterliegen nach § 548 Halbsatz 2 ZPO der Beurteilung des Revisionsgerichts nicht diejenigen dem Endurteil vorausgegangenen Entscheidungen, die unanfechtbar sind. Die Aufhebung der Beiladung ist aber nicht "unanfechtbar" iS von § 548 Halbsatz 2 ZPO iVm § 75 Abs 3 Satz 3 SGG, weil diese Regelung nur die Unanfechtbarkeit des Beiladungsbeschlusses bestimmt. Deshalb gilt hier (ebenso wie für die Ablehnung der Wiedereinsetzung; vgl BSGE 6, 256, 262; Kummer, DAngVers 1991, 420 mwN) der allgemeine Grundsatz des § 548 Halbsatz 1 ZPO, daß Entscheidungen, die dem Endurteil vorausgegangen sind, der Beurteilung des Revisionsgerichts unterliegen (vgl Kummer aaO).
War mithin der Beigeladene sowohl vor als auch nach Verkündung des Aufhebungsbeschlusses Verfahrensbeteiligter und hat er infolge des Ladungsmangels weder selbst noch durch einen Vertreter an der mündlichen Verhandlung teilnehmen können, liegt darin ein wesentlicher Verfahrensmangel, der bei der hier zugelassenen Revision zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung an das LSG führt.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen