Entscheidungsstichwort (Thema)

Wahrscheinlichkeit. Impfschaden. gerichtliche Tatsachenaufklärung vor Begutachtung

 

Orientierungssatz

1. Zur Beurteilung der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs im Impfschadensrecht (vgl BSG-Urteile vom 19.3.1986 9a RVi 2/84 = SozR 3850 § 51 Nr 9 und 9a RVi 4/84 = SozR 3850 § 51 Nr 10).

2. Das Tatsachengericht hat grundsätzlich die Tatsachen, von denen ein Sachverständiger bei der fachlichen Beurteilung aufgrund von Erfahrungen auszugehen hat, aufzuklären und über sie zu entscheiden (vgl BSG vom 19.3.1986 9a RVi 4/84 = SozR 3850 § 51 Nr 10). Hatte das Gericht in erster Linie zu prüfen, ob innerhalb der Inkubationszeit nach der nachgewiesenen Pockenschutzimpfung eine ungewöhnliche Impfreaktion in Form einer Encephalopathie aufgetreten ist, durfte es die endgültige Würdigung einschließlich derjenigen über die einzelnen tatsächlichen Glieder einer Beweiskette auf die Zeit nach der Erstattung des Gutachtens verlegen.

3. Wird von den Eltern eines im Alter von einem Jahr gegen Pocken geimpften Kindes erst zehn Jahre nach der Impfung wegen einer inzwischen vorliegenden geistigen Behinderung Antrag auf Anerkennung eines Impfschadens gestellt, so kann die für einen Versorgungsanspruch nach den §§ 51 und 52 BSeuchG notwendige Kausalität nur dann auf die Impfung zurückgeführt werden, wenn die positiven Gesichtspunkte für die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs überwiegen.

4. Hat bei der Sachaufklärung über die Kausalität zwischen einer Pockenschutzimpfung und geistigen Gesundheitsstörungen im Berufungsverfahren das LSG durch richterliche Vernehmung zwar den Vater des geimpften Kindes vernommen, nicht jedoch die Mutter, liegt keine Verletzung der Amtsaufklärungspflicht vor, wenn keine tatsächlichen Gesichtspunkte für eine gesonderte Beweiserhebung aufgezeigt wurden.

 

Normenkette

BSeuchG § 51 Abs 1 S 1, § 52 Abs 1 S 1, § 52 Abs 2 S 1; SGG §§ 103, 106, 128 Abs 1 S 1

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 30.10.1984; Aktenzeichen L 4 Vi 849/78)

SG Gießen (Entscheidung vom 27.06.1978; Aktenzeichen S 8 V 172/73)

 

Tatbestand

Die Klägerin wurde 1962 im Alter von einem Jahr und zwei Monaten gegen Pocken geimpft. Im März 1970 beantragte sie Versorgung nach den §§ 51 und 52 Bundesseuchengesetz (BSeuchG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen eines Impfschadens. Sie leidet an einer geistigen Behinderung (Idiotie) und an einer Anfallskrankheit. Der Antrag ist erfolglos geblieben (Bescheid vom 19. Oktober 1972, Widerspruchsbescheid vom 16. Oktober 1973, Urteile des Sozialgerichts vom 27. Juni 1978 und des Landessozialgerichts -LSG- vom 30. Oktober 1984). Das Berufungsgericht hält aufgrund verschiedener fachärztlicher Gutachten einen Ursachenzusammenhang zwischen den Behinderungen und der Pockenschutzimpfung nicht für wahrscheinlich. Die beiden Sachverständigen, die zu einem für die Klägerin günstigen Ergebnis gelangt seien, hätten eine schwere Erkrankung unmittelbar nach der Impfung angenommen, was nicht zutreffe. Innerhalb der Inkubationszeit sei bei der Klägerin keine postvaccinale Encephalopathie aufgetreten. Da die Klägerin jetzt an einer schweren Krankheit leide, müßten für eine Verursachung durch den Impfeingriff nach diesem schwere neurologische Ausfallerscheinungen beobachtet worden sein. Das sei nicht festzustellen.

Die Klägerin rügt mit der vom LSG zugelassenen Revision eine unzureichende gerichtliche Sachaufklärung über die anspruchsbegründenden Tatsachen und ein Überschreiten der Beweiswürdigungsgrenzen. Das Berufungsgericht hätte für die Gutachten festlegen müssen, von welchem Sachverhalt auszugehen sei. Außerdem sei das Gericht von Beweisgrundsätzen ausgegangen, die mit den §§ 51 und 52 BSeuchG nicht vereinbar seien. Die Wahrscheinlichkeit des Ur- sachenzusammenhanges sei nicht erst zu prüfen, wenn die Impfreaktion nachgewiesen sei. Schließlich habe das Gericht den Begriff "wahrscheinlich" verkannt; er stelle nur allergeringste Anforderungen im Sinne einer guten Möglichkeit an den Kausalzusammenhang.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Gericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin hat keinen Erfolg.

Das LSG hat nicht sämtliche tatsächliche Voraussetzungen für einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Pockenschutzimpfung und den schweren geistigen Gesundheitsstörungen der Klägerin als gegeben erachtet. Die dagegen erhobenen Verfahrensrügen greifen nicht durch, so daß von der für die Klägerin ungünstigen Tatsachenlage auszugehen ist (§ 163 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Diese schließt einen Versorgungsanspruch nach § 51 Abs 1 Satz 1 und § 52 Abs 1 Satz 1, Abs 2 Satz 1 BSeuchG aus.

Zutreffend verlangt die Klägerin von den Tatsacheninstanzen, daß sie selbst grundsätzlich die Tatsachen, von denen ein Sachverständiger bei der fachlichen Beurteilung aufgrund von Erfahrungen auszugehen hat, aufzuklären (§§ 103, 106 SGG) und über sie zu entscheiden haben (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG; zur Veröffentlichung bestimmtes Urteil des erkennenden Senats vom 19. März 1986 - 9a RVi 4/84 -). Diesen Grundsatz hat das LSG entgegen der Ansicht der Klägerin nicht verletzt. Das Berufungsgericht hatte von seiner in diesem Rechtsstreit maßgebenden, später noch zu erörternden Rechtsauffassung aus (BSGE 2, 84, 87) in erster Linie zu prüfen, ob innerhalb der Inkubationszeit nach der nachgewiesenen Pockenschutzimpfung eine ungewöhnliche Impfreaktion in Form einer Encephalopathie aufgetreten ist. Eine solche Erkrankung hätte das LSG nicht ohne Hilfe medizinischer Sachverständiger rückschauend selbst feststellen, sondern nur aufgrund medizinischer Erfahrung aus verschiedenen Anhaltspunkten schließen können. Dementsprechend hat das Gericht bei der Beweiswürdigung über diese Tatsache ua die fachlichen Beurteilungen von Sachverständigen verwertet. Die Richter hätten auch nicht in vollem Umfange für alle in Betracht kommenden Indiztatsachen bereits vor der Begutachtung festlegen müssen, welche sie als erwiesen ansehen. Im wesentlichen erfahren sie erst durch die medizinischen Beurteilungen, welche Tatsachen bedeutsam waren. In Fällen dieser Art darf ein Gericht die endgültige Würdigung einschließlich derjenigen über die einzelnen tatsächlichen Glieder einer Beweiskette auf die Zeit nach der Erstattung des Gutachtens verlegen. Das muß es sogar unter Umständen je nach der Sachlage. Daran hat sich das LSG gehalten. Wegen gewisser Unklarheiten hat es selbst abschließend den Vater der Klägerin zum Krankheitsverlauf unmittelbar nach der Impfung gehört; eine solche Sachaufklärung durch richterliche Vernehmung eines medizinischen Laien war möglich und sachdienlich. Was in den einzelnen Gutachten darüber vorausgesetzt worden war, ist in die endgültige Beweiswürdigung einbezogen worden.

Das Berufungsgericht hat auch nicht seine Amtsaufklärungspflicht dadurch verletzt, daß es die Mutter der Klägerin nicht über erste Krankheitssymptome nach der Impfung als Zeugin vernommen hat. Die Revision hat keine tatsächlichen Gesichtspunkte dafür aufgezeigt, daß diese Beweiserhebung über die Vernehmung des Vaters hinaus sich den Richtern hätte aufdrängen müssen.

In der Revisionsbegründung wird nicht in der nach § 164 Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Form schlüssig und substantiiert aufgezeigt, daß und inwiefern das Berufungsgericht bei der Gesamtwertung des Erkenntnismaterials, das für das Auftreten einer Encephalopathie bedeutsam sein kann, die gesetzlichen Grenzen seines Rechts zur freien richterlichen Beweiswürdigung (vgl dazu BSGE 2, 236, 237) verletzt haben soll. Von der Revision genannte Einzeltatsachen, die für die Bewertung von Belang sein sollen, hat das LSG berücksichtigt.

Wenn das Berufungsgericht nicht den zugunsten der Klägerin erstatteten Gutachten von Prof. Dr. S. vom 30. November 1977 und von Prof. Dr. H. vom 22. Januar 1980 gefolgt ist, dann hat es dies hinreichend damit begründet, die medizinische Kausalitätsbeurteilung in diesen Stellungnahmen beruhe teilweise auf nicht erwiesenen Voraussetzungen und einer der Sachverständigen sei von einer unrichtigen Rechtsauffassung über die erforderliche Kausalkette ausgegangen.

In sachlich-rechtlicher Hinsicht hat sich das LSG von einem zutreffenden Rechtsmaßstab für die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges im Sinne des § 51 Abs 1 Satz 1 iVm § 52 Abs 2 Satz 1 BSeuchG leiten lassen. Auch im Impfschadensrecht nach diesen Vorschriften ist ein - einfaches - Überwiegen der für eine Kausalität sprechenden Umstände ausreichend, jedoch auch notwendig (zur Veröffentlichung bestimmte Urteile des erkennenden Senats vom 19. März 1986 - 9a RVi 2/84 und 4/84 -). Dies hat das LSG beachtet. Es hat auch im Berufungsurteil zweimal die genannte Definition benutzt. Allerdings ist der jeweils zusätzliche Satz, es müsse "ein so hoher Grad von Wahrscheinlichkeit bestehen, daß darauf die Überzeugung von der Wahrheit gestützt" oder "vernünftigerweise die Überzeugung des Kausalzusammenhanges gegründet werden" könne, mißverständlich. Falls damit die an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit gemeint wäre, die statt einer vollen Gewißheit für den Nachweis einer Tatsache genügen kann (Urteil vom 19. März 1986 - 9a RVi 2/84 -), wäre ein unrichtiger Rechtsmaßstab angewendet worden. Indes hat das LSG bei der Erörterung von Anspruchsvoraussetzungen den vollen Nachweis ausdrücklich nur für den schädigenden Vorgang, die gesundheitliche Schädigung und den bleibenden Gesundheitsschaden gefordert und nicht zu erkennen gegeben, daß es bei der Beurteilung des Kausalzusammenhanges im einzelnen mehr als ein bloßes Überwiegen der positiven Gesichtspunkte verlangt. Dies ist um so weniger anzunehmen, als sich das Berufungsgericht bezüglich dieser Anspruchsvoraussetzung von der irrtümlich von der Klägerin vertretenen Auffassung abgegrenzt hat, in Impfschadenssachen brauche die Kausalität bloß möglich zu sein.

Doch selbst wenn das LSG die beiden Zusätze für wichtiger als den - zutreffenden - Obersatz gehalten und damit eine zu hohe Anforderung an die Wahrscheinlichkeit gestellt hätte, wäre dies für das Ergebnis, den Anspruch für unbegründet zu halten, unerheblich. Auf die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhanges kam es im gegenwärtigen Fall gar nicht an. Das LSG hat mit Recht außer der Impfung und einem Dauerschaden, den Endgliedern der Ursachenkette, als Mittelglied eine unübliche Impfreaktion, und zwar eine Encephalopathie, alsbald nach der Impfung, dh innerhalb einer bestimmten Inkubationszeit, gefordert. Dies steht im Einklang mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats (Urteil vom 19. März 1986 - 9a RVi 2/84 -). Eine solche gesundheitliche Schädigung haben die Vorderrichter aber nicht als erwiesen angesehen. Das ist rechtsverbindlich für das Revisionsgericht festgestellt und, wie gesagt, zutreffend gefordert. Damit fehlt eine unerläßliche Anspruchsvoraussetzung, so daß es auf die übrigen nicht mehr ankommt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657185

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