Leitsatz (amtlich)

Die Rückwirkung einer Zugunstenregelung (KOV-VfG § 40 Abs 1) ist dann nicht auf 4 Kalenderjahre zu begrenzen (VV KOV-VfG § 40 Nr 8 S 6), wenn die frühere Entscheidung sich als von Anfang an offensichtlich unzutreffend herausstellt und die Berufung der Behörde auf die Bindungswirkung für den Betroffenen eine dem Gerechtigkeitsempfinden gröblich widerstreitende Härte bedeutete.

 

Normenkette

KOVVfG § 40 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27; KOVVfGVwV § 40 Nr. 8 S. 6; BGB § 242 Fassung: 1896-08-18, § 826 Fassung: 1896-08-18

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 28. Oktober 1974 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Der Kläger wurde im letzten Krieg am rechten Bein und linken Fuß verwundet. 1942 wurde er in Rußland von Gelbsucht befallen. Später, während seiner Kriegsgefangenschaft, hat er - so sein Vorbringen - mehrere Schübe der Gelbsucht erlitten. Außerdem seien bei ihm Bauchtyphus, Malaria tertiana und Dystrophie aufgetreten. In den ärztlichen Untersuchungsergebnissen aus den ersten 50er Jahren standen die Eiweißmangelkrankheit des Klägers sowie eine allgemeine nervöse Übererregbarkeit im Vordergrund. Die Gelbsucht wurde als abgeklungen bezeichnet. Mit Ausnahme von Dr. O (14. März 1950), der von einer um einen Finger breit angeschwollenen Leber sprach, wurden in der Folge pathologische Veränderungen der Leber verneint; allerdings wurden teilweise dieses Organ und der rechte Oberbauch als druckempfindlich bezeichnet. In einem Urteil des Oberversicherungsamtes Hannover vom 29. August 1951 wurde festgestellt, daß die Erwerbsfähigkeit des Klägers von Januar 1950 an durch wehrdienstbedingte Schädigungsfolgen um 20 v. H. herabgesetzt sei. An dieser Ansicht hielt die Versorgungsbehörde auch in einem Bescheid vom 24. September 1956 fest. Dabei wertete sie ua das Ergebnis einer Behandlung des Klägers in der H. Hannover (19. März 1956) und das versorgungsärztliche Gutachten des Internisten Dr. D (28. August 1956) aus. Die Leberfunktionsproben hatten nach Mitteilung der H. Werte im Bereich der Norm; nach Dr. D lagen die Resultate an der unteren Normgrenze. Ein Leberleiden des Klägers glaubte der Letztgenannte ausschließen zu können. Der Bescheid vom 24. September 1956 blieb unangefochten.

Im Dezember 1970 forderte der Kläger die Neufeststellung der Versorgungsrente für die Zeit von 1949 an. Er schilderte nunmehr eingehend seine Gelbsuchterkrankungen während der Kriegs- und Gefangenschaftszeit und behauptete, die Versorgungsärzte hätten sich bisher leichtfertig darüber hinweggesetzt, daß Dr. O und Prof. Dr. B von der H. - wie er (der Kläger) meinte - sehr direkt auf das Bestehen eines Leberleidens aufmerksam gemacht hätten. Am 29. Oktober 1970 war beim Kläger anläßlich einer Gallenblasenoperation eine Probeexcision aus der Leber vorgenommen worden. Die histologische Untersuchung hatte eine starke Verfettung der Leber bei einer fortgeschrittenen chronischen Hepatitis mit stellenweise zirrhotischem Umbau ergeben. Mit dieser Diagnose stimmte ein Befundbericht überein, den hernach die Spezialklinik Prof. Dr. K abgab.

Der von dem Versorgungsarzt hinzugezogene Internist Dr. S bestätigte die Existenz eines chronischen Leberschadens als einer Wehrdienstbeschädigung. Die Leber des Klägers sei durch die Gelbsuchterkrankung in den Jahren 1942 und 1943 vorgeschädigt gewesen, vielleicht nie ganz ausgeheilt, während der Kriegsgefangenschaft aber weiteren schädigenden Einflüssen ausgesetzt worden. In einem späteren Gallenblasenleiden könnten Brückensymptome erkannt werden. Dagegen fehlten aus der Nachkriegszeit solche Faktoren, die sonst auf das chronische Leberleiden hätten ungünstig einwirken können.

Mit Bescheid vom 15. April 1971 erkannte die Verwaltung den Versorgungsanspruch des Klägers rückwirkend zum 1. Januar 1966 an. Während des Verwaltungsverfahrens wurde außerdem die besondere berufliche Betroffenheit des Klägers bejaht. Die Minderung seiner Erwerbsfähigkeit (MdE) wurde für die Zeit ab Januar 1966 auf 70 % und ab Januar 1968 auf 80 % festgesetzt (Widerspruchsbescheid vom 10. August 1971). Eine zeitlich weiter zurückreichende Feststellung des Versorgungsanspruchs wurde jedoch abgelehnt (Widerspruchsbescheid vom 29. März 1972): Die Leberschädigung sei erst 1970, jedenfalls aber nicht vor April 1956 eindeutig diagnostizierbar gewesen. Das Leiden habe sich langsam entwickelt. Es sei weder in der von der H. übermittelten Krankengeschichte erwähnt noch bei einer versorgungsärztlichen Untersuchung im August 1956 zutage gefördert worden. Im übrigen habe die Versorgungsverwaltung keine naheliegenden Untersuchungsmaßnahmen unterlassen oder dem Kläger die Versorgungsleistungen unverantwortlich vorenthalten.

Die Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil des SG Lüneburg vom 12. April 1973), die Berufung das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil des LSG Niedersachsen vom 28. Oktober 1974). Die Vorinstanzen stimmen darin überein, daß die Versorgungsverwaltung von dem ihr eingeräumten Ermessen einen ordnungsgemäßen Gebrauch gemacht habe, indem sie die Neuregelung des Versorgungsrechtsverhältnisses auf vier Kalenderjahre, zurückgerechnet von der Antragstellung im Jahre 1970, begrenzt habe. Vor Oktober 1970 sei von keinem der begutachtenden oder behandelnden Ärzte ein Leberschaden ernstlich vermutet und die Notwendigkeit zu eingreifenden diagnostischen Maßnahmen gesehen worden. Hinzu komme, daß der Kläger trotz seiner Krankheit nicht gehindert gewesen sei, in seinem Beruf als Verlagskaufmann erfolgreich bis zur eigenen Beteiligung in einem Verlagsunternehmen aufzusteigen und ein beachtliches Einkommen zu erzielen. Er habe sich also nicht in einer wirtschaftlichen Notlage befunden. Außerdem habe sich der Beklagte gegen die Forderung weiter zurückliegender Rentenleistungen wirksam auf die Verjährung berufen. Der Verjährungseinrede habe nichts entgegengestanden. Denn die Versorgungsverwaltung habe weder arglistig noch vorsätzlich dazu beigetragen, daß die Entscheidung über den Anspruch des Klägers zeitlich verzögert worden sei. Auch habe sie sich nicht so verhalten, daß der Kläger von der rechtzeitigen Wahrnehmung seiner Rechte abgehalten worden sei.

Der Kläger hat die - von dem LSG nicht zugelassene - Revision eingelegt. Er greift das Berufungsurteil wegen mangelnder Sachaufklärung und fehlerhafter Beweiswürdigung an. Den Urteilsausführungen entnimmt er, daß für das Berufungsgericht die Frage nach einem vorwerfbaren Unterlassen des versorgungsärztlichen Dienstes entscheidungserheblich gewesen sei. Von der Antwort auf diese Frage habe das LSG es anscheinend abhängig gemacht, ob die Versorgungsverwaltung sich ermessensfehlerfrei an die Regel nur beschränkt rückwirkender Zugunstenbescheide halten und auf die Verjährung der Klageforderung berufen durfte. - Über ein Verschulden der Versorgungsärzte habe - meint der Kläger - das LSG nicht ohne Hinzuziehung eines medizinischen Sachverständigen befinden können. Das Berufungsgericht habe selbst nichts darüber gewußt, ob nach den Regeln der ärztlichen Kunst die bekannten Umstände des Falles schon zu früherer Zeit umfassendere Leberuntersuchungen, insbesondere die Durchführung einer Laparotomie verlangt hätten. Außerdem habe das LSG gegen die Erfahrung verstoßen, daß eine im Kriege mehrfach erlittene Gelbsucht im Zusammenwirken mit anderen, beim Kläger gegebenen Befunden ein chronisches Leberleiden geradezu prädestinierten; zur Diagnose eines solchen Leidens hätten aber bekanntermaßen Leberfunktionstests und andere übliche Untersuchungsmethoden nicht ausgereicht.

Der Kläger beantragt,

das Berufungsurteil aufzuheben und den Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist statthaft, weil die erhobene Verfahrensrüge durchgreift (§ 162 Abs. 1 Nr. 2, § 164 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - in der bis zum 31. Dezember 1974 geltenden Fassung - Art. III, VI des Änderungsgesetzes vom 30. Juli 1974, BGBl I 1625 -; BSG 1, 150).

Die Revision hat die sachlich-rechtliche Erwägung, von welcher das Berufungsgericht nach dem Inhalt seiner Entscheidung ausgegangen ist, im wesentlichen zutreffend wiedergegeben. Das Berufungsurteil gipfelt in dem Satz, daß der versorgungsärztliche Dienst des Beklagten es nicht "in irgendeiner vorwerfbaren Weise unterlassen" habe, die Tatsache eines Leberleidens früher und genauer zu ermitteln. Aus dieser Urteilsbemerkung ist zu folgern, daß das Berufungsgericht anderenfalls, also, wenn die Versorgungsärzte die ihnen obliegende Sorgfaltspflicht nicht einwandfrei erfüllt hätten, in der Sache gegenteilig oder abweichend entschieden hätte. Mithin kam es nach Auffassung des LSG auf die Bewertung des Verhaltens der von der Versorgungsbehörde befragten Ärzte ausschlaggebend an. Allerdings ist dem Berufungsurteil nicht deutlich zu entnehmen, aus welcher Überlegung heraus das LSG angenommen hat, die Ärzte des Beklagten hätten ihrer Diagnosepflicht genügt. Nach der Formulierung des angefochtenen Urteils hat sich das Berufungsgericht für diese Würdigung an der Einstellung der behandelnden Ärzte orientiert, nämlich an dem Gesichtspunkt, daß den von der Versorgungsbehörde beauftragten Ärzten nicht mehr Einsicht in die Diagnoseerfordernisse abverlangt werden könne als dem, was in dieser Beziehung die anderen Ärzte für angemessen gehalten hätten. Die Ausführungen des Berufungsgerichts lassen sich aber auch in dem Sinne deuten, daß es sein Urteil über die ärztliche Ermittlungsaufgabe an einer generellen, freilich nicht näher präzisierten Richtschnur ausgerichtet hat.

Es wäre bedenklich und nicht gutzuheißen, wenn das Berufungsgericht sich von den individuellen Fähigkeiten und Gewohnheiten einiger Ärzte, die zufällig mit der Sache befaßt waren, hätte leiten lassen und wenn es sich nicht in bezug auf Inhalt, Umfang und Gründlichkeit der vorzunehmenden medizinischen Nachforschungen an einen objektiven, repräsentativen Maßstab hätte halten wollen. So wird man aber das Berufungsurteil auch nicht interpretieren müssen. Näher liegt die Deutung, daß die Berufungsrichter aus den verwerteten Stellungnahmen glaubten, ablesen zu können, was nach Lage der Dinge allgemein von einem gewissenhaften, erfahrenen und wohlinformierten Arzt an Erkundungen zu erwarten war. Gegen eine solche Schlußfolgerung hätten dem Berufungsgericht jedoch Zweifel kommen müssen. Bei einem Vergleich der verschiedenen ärztlichen Beurteilungen tritt eine Unsicherheit zutage, die dem Berufungsgericht hätte auffallen müssen. Der Sachverständige Dr. S (1971) entnahm den älteren Gutachten, daß in den ersten Nachkriegsjahren beim Kläger die Oberbauchbefunde gewechselt hätten und die Leber oder der rechte Oberbauch wiederholt - ua auch 1956 - als druckempfindlich beschrieben worden seien. Der Internist Dr. D hatte dagegen im August 1956 erklärt, der Leib sei nirgends druckempfindlich und die Leber nicht vergrößert gewesen. Von einem Druck des Oberbauchs war zwar in der Krankengeschichte, welche die H. im März 1956 aufgezeichnet hatte, die Rede. Dort war aber zugleich auch bemerkt worden, daß diese Erscheinung bei der Duodenalsondierung schlagartig fortgefallen sei, ohne daß irgendwelche therapeutischen Mittel verordnet worden wären. Unterschiedlich sind namentlich die Schlußfolgerungen in den genannten Gutachten. Die Werte der Leberfunktionsproben lagen nach Auskunft der H. "im Bereich der Norm", nach Meinung des Dr. D "an der unteren Grenze der Norm", so daß ein Leberleiden ausgeschlossen werden könne. Die 1956 anläßlich einer Beobachtung (wohl die in der H.) vorgenommenen Leberteste ergaben jedoch nach der Deutung von Dr. Stenzel "leichte pathologische Abweichungen". Hinzu kommt, daß die tatsächlich angewandten Diagnosemaßnahmen sich als unzulänglich erwiesen hatten. Möglicherweise hätten aussichtsreichere, wenn auch vielleicht eingreifendere Untersuchungsmaßnahmen, wie eine Biopsie, zur Verfügung gestanden. Warum diese Erkenntnismittel nicht oder nicht eher genutzt wurden und von den beauftragten Ärzten auch nicht gebraucht werden mußten, ist nicht geklärt. Unabweislich ergab sich das Beweisthema, ob im Hinblick auf die Gelbsucht, die der Kläger wiederholt durchgemacht haben soll und die extremen Lebensverhältnisse in der russischen Kriegsgefangenschaft, die Erkrankungen an Eiweißmangel, Malaria tertiana, Herzbeschwerden und Klagen über Schmerzen oder Druckempfindlichkeit im rechten Oberbauch, über rasches Ermüden und das Gefühl des Abgeschlagenseins sowie über Spasmen im Bereich der Gallengänge mehr Aufmerksamkeit verlangt hätten. Unausweichlich mußte die Überlegung aufkommen, ob die klinisch-chemische Laboratoriumsdiagnostik weit genug betrieben worden war und ob sie überhaupt zuverlässige Aussagen für den Ausschluß oder die Feststellung eines latenten oder chronischen Leberschadens - gegebenenfalls seiner Anfangsgründe - zu gewährleisten vermochte (hierzu Claasen/Kaufmann/Schulte, Zum diagnostischen Aussagewert von Leberfunktionsproben im Vergleich mit bioptischen Untersuchungsergebnissen, Med. Sachverst. 1969, 145; Laudahn, Laboratoriumsdiagnostik bei Lebererkrankung, Med. Sachverst. 1970, 201). In Verbindung hiermit war ferner zu erörtern, ob die Leberdiagnostik erst neuerdings in höherem Grade sichere Auskünfte zu geben vermag, eventuell, seit wann das so ist und wie sich dies auf den Fall des Klägers auswirkt. Einen Anhalt für das Fortschreiten der medizinischen Erkenntnis liefert das Rundschreiben des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (BMA) vom 20. August 1970 (BVBl 1970, 98 Nr. 47) im Vergleich zu dem älteren Rundschreiben des BMA vom 31. Oktober 1963 (BVBl 1963, 119 Nr. 55), ersteres mit sehr viel detaillierteren Ausführungen (ferner Herberg, KOV 1973, 37, 38; Seiler, VersorgB. 1967, 17; 1972, 137). Wichtig war auch zu erfahren, ob die Berufsarbeit des Klägers zur Entwicklung seines Leidens beigetragen hat oder dafür ohne Belang war (vgl. Franken, DMW 1971, 563). In Erwägung zu ziehen war des weiteren, ob mit dieser oder jener Untersuchung ein Wagnis und Schmerzen für den Kläger verbunden gewesen wären und in welcher Relation solche Komplikationen zu dem diagnostischen Gewinn der einzelnen Untersuchungsmaßnahme gestanden hätten. Die angeführten Fragen mußten sich dem Berufungsgericht aufdrängen. Von ihrer Beantwortung hing das Urteil darüber ab, ob die Ärzte, welche die Versorgungsverwaltung im Falle des Klägers beauftragt hatte, es an der nötigen sachangemessenen Befunderhebung hatten fehlen lassen. Das Verständnis der einem solchen Urteil zugrunde liegenden medizinischen Gegebenheiten und Erfahrungen für eine längere Vergangenheit setzte eine eingehende sachverständige Beratung voraus. Anders hätte dies nur sein können, wenn das Gericht selbst über besondere, nicht ohne weiteres zu unterstellende Fachkenntnisse verfügt hätte. Dies nimmt das Berufungsgericht aber nicht für sich in Anspruch. Infolgedessen war es zu seiner Entscheidung nicht ohne zusätzliche Sachinformation befähigt.

Hiernach vermögen die getroffenen Feststellungen das Berufungsurteil von seinen rechtlichen Ausgangserwägungen her nicht mit der gebotenen Gewißheit zu tragen. Darin ist ein wesentlicher Verfahrensmangel zu erblicken. Deswegen ist das Urteil auch aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen. Der Ausgang der noch vorzunehmenden Beweisaufnahme kann für das Ergebnis des Rechtsstreits erheblich sein.

Der Bescheid, mit dem die Versorgungsverwaltung ihre älteren, den Versorgungsanspruch des Klägers ablehnenden Verwaltungsakte und das Urteil des Oberversicherungsamtes H vom 29. August 1951 berichtigte, trat nicht rundweg und vor allem in zeitlicher Hinsicht nicht voll an die Stelle der Vorentscheidungen. Diese wurden nicht in völliger Nichtbeachtung der ihnen beizumessenden Rechtskraft und Bindungswirkung beseitigt. § 40 Abs. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) gebot es nicht, den Kläger so zu stellen, als ob von Anfang an eine rechtmäßige Entscheidung getroffen worden wäre (BSG 26, 146, 150, ständ. Respr., zuletzt: BSG, Urteil vom 31. Juli 1975 - 9 RV 354/74 -). Im Gegenteil, die der Verwaltung erteilte Berichtigungsbefugnis ist kein Dürfen ohne Rücksicht auf die Beständigkeit des Vorentschiedenen, sondern enthält die Ermächtigung, in dem Konflikt zwischen der materiellen Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit nach pflichtgemäßem Ermessen abzuwägen und sich zu entschließen, ob und vor allem inwieweit von früheren Hoheitsakten abzugehen ist (BSG, Urteil vom 21. März 1969 - 9 RV 476/67 -). Die Entschließung der Verwaltung hat das Gericht nur daraufhin zu prüfen, ob dabei die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten worden sind oder ob von dem Ermessen ein zweckwidriger Gebrauch gemacht worden ist (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Untersucht man den mit der Klage angefochtenen Zugunstenbescheid unter dem Gesichtspunkt eines Ermessensfehlgebrauchs, so fällt ins Gewicht, daß die Verwaltung dem Kläger mit der Neuregelung seines Versorgungsrechtsverhältnisses an sich schon weit entgegengekommen ist. Nach der zu § 40 Abs. 1 VerwVG gegebenen Verwaltungsvorschrift Nr. 8 ist in dem neuen Bescheid für die zurückliegende Zeit grundsätzlich an der Bindungswirkung oder Rechtskraft festzuhalten. Eine Rückwirkung ist nur ausnahmsweise anzuordnen; sie soll jedoch "in der Regel nicht über einen Zeitraum von vier Jahren hinausgehen", und zwar zurückgerechnet vom Beginn des Jahres, in dem der Antrag auf Überprüfung gestellt worden ist. Dieser zeitliche Rahmen ist beim Kläger voll gewahrt worden. Daß die erwähnte Verwaltungsvorschrift mit der gesetzlichen Regelung im Einklang steht, hat das Bundessozialgericht (BSG) wiederholt erklärt (ua in BVBl 1969, 26).

Der Beweggrund für die Anordnung, daß der Beginn der Neuregelung im allgemeinen längstens auf vier Kalenderjahre erstreckt wird, ist in der Parallele zur regelmäßigen Verjährung zu erblicken (BSG, Urteil vom 26. September 1968 - BVBl 1969, 118 -; 21. März 1969 - 9 RV 476/67 -). Rentenansprüche nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) verjähren in entsprechender Anwendung des § 197 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) in vier Jahren (BSG 19, 88; BVBl 64, 115, 116). Nach § 201 BGB beginnt die Verjährung mit Schluß des Jahres, in dem der Anspruch entsteht (§ 198 Abs. 1 BGB). Da der Kläger im Dezember 1970 die Erteilung eines Zugunstenbescheides begehrte und damit die sich hieraus ergebenden Rentenansprüche erhob, wären alle Ansprüche auf Rentenzahlung, die bis zum 31. Dezember 1965 entstanden waren, verjährt. Dementsprechend erscheint es sinnvoll, daß die Wirkung der Berichtigung gemäß § 40 Abs. 1 VerwVG auf ein Datum zurückverlegt wurde, das nicht in die Verjährungszeit fiel.

In Weiterverfolg dieses Gedankens ist zu erwägen, daß das Verwaltungsermessen in bezug auf das zeitliche Ausmaß der Neuregelung dort seine rechtliche Schranke findet, wo auch der Verjährungseinrede der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung entgegensteht (vgl. BSG in BVBl 1969, 66). Doch ist mit dieser Erwägung der gegebenen Sachlage nicht beizukommen. Gegenüber der Verjährungseinrede würde der Einwand des Rechtsmißbrauchs nur dann durchgreifen, wenn die Versorgungsbehörde den Kläger arglistig von der rechtzeitigen Wahrnehmung seiner Rechte abgehalten hätte, und sei es auch nur, daß die Behörde durch ihr Verhalten unbeabsichtigt den Eindruck erweckt hätte, sie werde später den rechtshindernden Zeitablauf nicht geltend machen (vgl. BGHZ 9, 1, 5; ferner: BSG, Urteil vom 23. Oktober 1975 - 11 RA 152/74 -). So ist es hier jedoch nicht. Damit, daß die Behörde ihre ablehnende sachlich unzutreffende Entscheidung wiederholte, rief sie bei dem Kläger keine falsche, die Verjährungseinrede ausschließende Vorstellung über ein künftiges Verhalten der Behörde hervor (vgl. BGH MDR 1973, 562). Auch war es ihr - als einer Stelle der öffentlichen Verwaltung - nicht überhaupt versagt, sich auf dieses Leistungsverweigerungsrecht zu berufen (BAG, NJW 1967, 174, 175). Zwar genießt der öffentlich-rechtliche Schuldner ein erhöhtes Vertrauen darauf, daß er seinen Verpflichtungen strikt und pünktlich nachkommt. Deshalb ist aber der Verwaltung die Verjährungseinrede nicht grundsätzlich verwehrt (vgl. § 29 RVO; BSG 19, 88; 34, 1, 11 ff).

Ihr Gutdünken, ob sie diese Einrede erheben will, hat jedoch seine Grenze dort, wo auch eine rückwirkende Zugunstenregelung nicht an der Vierjahresschwelle haltmachen darf. Wann für ein abwägendes Verwaltungsermessen kein Raum mehr besteht, vielmehr die frühere Fehlentscheidung über eine Vergangenheit von vier Jahren hinaus zurückgenommen werden muß, ist in der Rechtsprechung des BSG bisher nicht generell und präzise mit einer eindeutig und leicht faßbaren Formel ausgesprochen worden. Eine solche Formel wird sich wohl auch deshalb nicht aufstellen lassen, weil die jeweiligen Fallumstände in ihrer Gesamtheit zu beachten und in ihrer Vielfalt nicht ein für allemal voraus zu bestimmen sind. Der Spielraum des Ermessens ist um so enger, je schärfer der Konflikt im Widerstreit von Rechtsverbindlichkeit und materiell Richtigem ausfällt und je größer der Unrechtsgehalt des Verhaltens der Verwaltung in Zusammenhang mit der früheren, ablehnenden Entscheidung ist (BSG, Urteil vom 21. März 1969 - 9 RV 476/67 -). Daß die Verwaltung zwar fehlerhaft, aber nicht arglistig, nicht vorsätzlich oder zumindest nicht schuldhaft zum Nachteil des einzelnen gehandelt hat, nimmt ihr die Ermessensfreiheit nicht (BSG in BVBl 1968, 116; 1969, 66; 1970, 128, 131). An die Richtlinie einer auf vier Jahre bemessenen Neuordnung der Versorgungsrechtsbeziehungen darf sich die Verwaltung ferner halten, wenn die Norm des Kriegsopferrechts, auf welcher der belastende Erstbescheid beruhte, nachträglich durch das Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt wird (BSG in BVBl 1970, 128) oder wenn auf eine bedrängte wirtschaftliche Lage des Betroffenen Rücksicht zu nehmen ist (BSG 26, 154; BVBl 1970, 130 f). Ob etwas anderes zu gelten hat, wenn vorher zweifelsfrei unrichtig, nach einer offensichtlich unzureichenden Sachaufklärung entschieden worden ist, hat das BSG offen gelassen (BSG 19, 12, 14). Es hat bislang im besonderen die hier interessierende Frage nicht zu beantworten brauchen, von welchem Standpunkt her es auf die Kriterien der zweifelsfreien Unrichtigkeit und offensichtlichen Mangelhaftigkeit ankommt. Zu denken ist daran, ob der Maßstab des rückschauenden Betrachters genügt, oder ob die genannten Kriterien bereits anfänglich, bei Erlaß der unrichtigen Entscheidung erfüllt sein müssen.

Das Berufungsgericht hat sich für die zuletzt erwähnte Lösung ausgesprochen. Damit wird nicht eigentlich die beanstandete Entscheidung als solche oder ihr Inhalt zum Orientierungsmittel für die Ermessensbegrenzung genommen. Das wäre auch nicht angebracht. Denn die sachliche und rechtliche Unrichtigkeit allein ist die Grundlage für die Korrekturmöglichkeit nach § 40 Abs. 1 VerwVG. Diese ist aber regelmäßig auf vier Jahre zurückbegrenzt und eröffnet der Verwaltung gerade mehrere Verhaltensweisen. Es müssen also zur Kenntnis der Fehlerhaftigkeit der Erstentscheidung besondere Umstände hinzutreten, welche die Berufung auf den Eintritt der Rechtskraft oder der Bindungswirkung - auch wenn sie nur eine länger zurückliegende Vergangenheit betrifft - für den Betroffenen als eine dem Gerechtigkeitsempfinden gröblich widerstreitende Härte erscheinen läßt. Für die Annahme einer solchen krassen Unbilligkeit kann nicht schon ausschlaggebend sein, daß die frühere Entscheidung sich erst im nachhinein als "offensichtlich" objektiv unzutreffend herausstellt. Dagegen kann dafür ins Gewicht fallen, daß der Verwaltung ein unredliches Ausnutzen einer formalen Rechtsposition vorzuwerfen ist; dies deshalb, weil sie, ihre Vertreter oder ihre Beauftragten, es früher in auffallender Weise an der sachangemessenen Sorgfalt bei der konkreten Entscheidungsfindung fehlen ließen.

Darüber, ob dies in der gegenwärtigen Streitsache zutrifft und ob es deshalb bei Würdigung der Gesamtumstände des Falles unvertretbar war, daß die Verwaltung den Zugunstenbescheid lediglich auf vier Kalenderjahre zurückbezog, kann in diesem Rechtszug nicht abschließend beurteilt werden. Dazu ist noch, wie oben ausgeführt worden ist, eine weitere Beweiserhebung nötig.

Über die Pflicht zur Erstattung der Kosten des Revisionsverfahrens wird das LSG zu befinden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1646747

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