Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufsunfähigkeit. Einstufung eines Kanalbauers, Kanalmaurers und Rohrlegers in den Leitberuf des Facharbeiters

 

Orientierungssatz

Um die objektive Qualität des bisherigen Berufs zu bestimmen, ist die tarifliche Einstufung zwar ein Hilfsmittel und wichtiges Indiz; sie kann aber nicht die genaue Feststellung des bisherigen Berufs und dessen Qualität ersetzen (vgl BSG vom 1982-10-07 4 RJ 99/81 = SozR 2200 § 1246 Nr 99).

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 14.04.1983; Aktenzeichen L 3 J 92/82)

SG Kiel (Entscheidung vom 24.02.1982; Aktenzeichen S 6 J 84/81)

 

Tatbestand

Streitig ist die Gewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit.

Der 1925 geborene Kläger legte 1942 die Gesellenprüfung als Dachdecker ab und übte nach dem Kriege zunächst noch diesen Beruf aus. Dann verrichtete er andere Arbeiten im Hoch- und Tiefbau, und zwar zuletzt von 1968 bis 31. Mai 1979 in einem Unternehmen "als Kanalbauer bzw als Kanalmaurer und Rohrleger". Hierbei war er tariflich zunächst in die Gruppe III b, seit Juli 1978 in die Berufsgruppe IV/4 (gehobener Baufacharbeiter) des Bundesrahmentarifvertrages für das Baugewerbe (BRTV-Bau) in der Fassung vom 1. Mai 1979 eingestuft. Seinen im April 1980 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte ab, weil er nicht berufsunfähig sei (Bescheid vom 24. Oktober 1980, Widerspruchsbescheid vom 26. Februar 1981).

Das Sozialgericht (SG) Kiel hat die Beklagte verurteilt, für die Zeit von April 1980 an Berufsunfähigkeitsrente zu gewähren (Urteil vom 24. Februar 1982). Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Es hat im Urteil vom 14. April 1983 festgestellt, daß der Kläger im wesentlichen durch ein chronisches bronchitisches Syndrom, eine Zuckerstoffwechselstörung, leichten Bluthochdruck, Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule und eine Bewegungseinschränkung im rechten Handgelenk sowie eine leichte Ataxie beim Gehen beeinträchtigt sei. Es hat ihn für noch fähig gehalten, vollschichtig leichte Arbeiten im Wechsel von Sitzen, Stehen und Gehen zu ebener Erde unter Schutz vor Witterungseinflüssen und Atemwegsreizstoffen sowie ohne Zwangshaltungen, häufiges Bücken und Heben sowie Tragen von Lasten zu verrichten. Bei der Beurteilung des bisherigen Berufs sei vom Status eines Facharbeiters auszugehen. Dazu genüge eine vorgeschriebene Ausbildung von zwei Jahren oder die Erfüllung dieser qualitativen Anforderungen.

Da nach dem für den Kläger geltenden Tarifvertrag beispielsweise der Maurer nach der bereits 24 Monate umfassenden ersten Stufe der Ausbildung in die Berufsgruppe V/1 und damit eine Gruppe niedriger als der Kläger eingestuft sei, könne an dessen Berufsschutz als Facharbeiter kein Zweifel bestehen. Arbeitsplätze, auf die der Kläger verwiesen werden könnte, gebe es jedenfalls nicht in hinreichender Zahl.

Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision rügt die Beklagte, daß der Kläger aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Berufsgruppe IV/4 vom LSG nach dem Mehrstufenschema als Facharbeiter eingeordnet worden sei. Es fehle an Feststellungen über die Qualität der ausgeübten Tätigkeit. Die genannten Berufsbezeichnungen Kanalbauer sowie Kanalmaurer/Rohrleger seien mit der Einstufung in diese tarifliche Gruppe schwerlich vereinbar.

Die Beklagte beantragt, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für im Ergebnis zutreffend, da er dem Tatbestand des Urteils zufolge als Kanalbauer bzw Kanalmaurer und Rohrleger beschäftigt gewesen sei und aus den Entscheidungsgründen nicht hervorgehe, daß es sich hierbei um eine nur angelernte Spezialtätigkeit handele. Im übrigen sei "Rohrleger" in diesem Zusammenhang nur eine andere Bezeichnung für den anerkannten Ausbildungsberuf des Kanalbauers.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist insoweit begründet, als der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden muß. Die Feststellungen des Berufungsgerichts reichen für eine abschließende Entscheidung nicht aus.

Nach § 1246 Abs 2 Satz 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) ist ein Versicherter berufsunfähig, dessen Erwerbsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr die Hälfte derjenigen eines vergleichbaren gesunden Versicherten beträgt. Nach Satz 2 der Vorschrift beurteilt sich dabei die Erwerbsfähigkeit des Versicherten nach allen (objektiv) seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechenden Tätigkeiten, die ihm (subjektiv) unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Hiernach stehen die sogenannten Verweisungstätigkeiten in einer Wechselwirkung zum bisherigen Beruf (Hauptberuf). Von diesem aus bestimmt sich, welche Verweisungstätigkeiten als zumutbar in Betracht kommen. Deshalb muß er zunächst ermittelt und - da die Verweisbarkeit davon abhängt - nach den vorgenannten Kriterien des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO bewertet werden. Hierzu hat die Rechtsprechung ein Mehrstufenschema entwickelt, das die Arbeiterberufe in verschiedene "Leitberufe" untergliedert, nämlich diejenigen des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion bzw des besonders hoch qualifizierten Facharbeiters, des Facharbeiters, des "angelernten" und schließlich des ungelernten Arbeiters; grundsätzlich darf der Versicherte nur auf die jeweils niedrigere Gruppe verwiesen werden.

Das LSG ist in den Entscheidungsgründen seines Urteils beim Kläger vom "Status eines Facharbeiters" ausgegangen, ohne Feststellungen zum bisherigen Beruf zu treffen oder zum Ausdruck zu bringen, welchen Beruf oder welche Berufstätigkeit es tatsächlich zugrunde gelegt hat. Dazu hätte aber um so eher Veranlassung bestanden, als die tarifliche Einstufung des Klägers in die Berufsgruppe IV/4 des BRTV-Bau, auf die sich das Berufungsgericht ausschließlich gestützt hat, mit der im Tatbestand des Urteils angegebenen Beschäftigung "als Kanalbauer bzw als Kanalmaurer und Rohrleger" nicht im Einklang steht. Lediglich der Rohrleger ist in der Gruppe V/2.11 BRTV-Bau genannt, ohne daß jedoch - worauf beide Beteiligte hinweisen - das LSG geklärt hat, ob mit der Angabe im Tatbestand und im Tarifvertrag die gleiche Tätigkeit bezeichnet ist. Dies verdeutlicht, daß es das Berufungsgericht versäumt hat, die (objektive) Qualität des bisherigen Berufs zu bestimmen. Die tarifliche Einstufung ist zwar dafür ein Hilfsmittel und wichtiges Indiz (ständige Rechtsprechung, so Urteile vom 27. Januar 1981 - 5b/5 RJ 76/80 = BSGE 51, 135, 137 = SozR 2200 § 1246 Nr 77 und vom 7. Oktober 1982 - 4 RJ 99/81 = SozR aa0 Nr 99); sie kann aber nicht die genaue Feststellung des bisherigen Berufs und dessen Qualität ersetzen.

Deshalb vermag der Senat jedenfalls nicht schon aus der tariflichen Einstufung des Klägers in die Berufsgruppe IV/4 des BRTV-Bau auf dessen Zuordnung zur Gruppe der Facharbeiter im Sinne des Mehrstufenschemas zu schließen. Diese Tarifgruppe erfaßt Arbeitnehmer, die eine "angelernte Spezialtätigkeit" in bestimmten, dort im einzelnen aufgeführten Berufen drei Jahre ausgeübt haben. Wenn die Revision deshalb einen "Bewährungsaufstieg" innerhalb des Tarifgruppengefüges annimmt, der an der Natur und Qualität der ausgeübten Anlerntätigkeit nichts ändere, während das LSG in den Vordergrund rückt, nach dem für den Kläger geltenden Tarifvertrag sei beispielsweise ein Maurer (genauer: Hochbaufacharbeiter) nach Beendigung der ersten, 24 Monate dauernden Stufe seiner Ausbildung in die Berufsgruppe V/1 - also niedriger - eingestuft, so zeigt dies nur, daß Berufsanfänger eine bestimmte Zeit nach Abschluß der Ausbildung tariflich niedriger eingestuft sein können als Arbeitnehmer mit zwar niedrigerem Ausbildungsstand, aber längerer Berufstätigkeit, es verdeutlicht aber auch, daß die tarifliche Einstufung nicht stets schon aussagekräftig für die Qualität der Tätigkeit sein muß. Soweit der Senat darüber hinaus in SozR 2200 § 1246 Nr 35 allein aus der Überschrift "Baufacharbeiter" über der Beschreibung der Berufsgruppe V in BRTV-Bau auf die Facharbeiterqualität geschlossen haben wollte, hält er dies nicht aufrecht. Davon abgesehen besteht zumindest keine gefestigte Rechtsprechung dahingehend, daß schon schlechthin eine berufsqualifizierende Ausbildung von zwei Jahren für die Zuordnung zum Leitberuf des Facharbeiters genüge, wie das LSG aber anscheinend meint. Zwar ist in einer größeren Anzahl von Entscheidungen, wenngleich ohne nähere Begründung ausgesprochen, daß Ausbildungsberufe mit einer Ausbildungszeit von mindestens zwei Jahren dem Leitberuf des Facharbeiters zuzuordnen seien (zB SozR 2200 § 1246 Nrn 16, 34, 86, 102, 106, 107). Andererseits wird aber in dem vom Berufungsgericht für seine Ansicht zitierten Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Januar 1976 - 5/12 RJ 132/75 - (BSGE 41, 129 = SozR 2200 § 1246 Nr 11) in der Regel erst ein anerkannter Ausbildungsberuf mit einer vorgeschriebenen Ausbildungsdauer von mehr als zwei Jahren einem früheren Lehrberuf gleichgestellt, ein Ausbildungsberuf mit vorgeschriebener Ausbildungszeit von ein bis zwei Jahren dagegen nur einem früheren Anlernberuf (aa0 S 132 f). Ähnlich hat der 1. Senat im Urteil vom 15. November 1983 - 1 RJ 112/82 - (S 11 und 12) ausgeführt, die Gruppe mit dem Leitberuf des angelernten Arbeiters umfasse staatlich anerkannte Ausbildungsberufe mit einer vorgeschriebenen Regelausbildungszeit bis zu zwei Jahren.

In erster Linie macht der Kläger allerdings geltend, seit 1968 als Kanalbauer gearbeitet und damit einen Lehrberuf längere Zeit vollwertig ausgeübt zu haben, so daß er deshalb einem Facharbeiter gleichzustellen sei; soweit das angefochtene Urteil im Anschluß an Arbeitgeberauskünfte neben "Kanalbauer" auch die Bezeichnungen "Kanalmaurer und Rohrleger" gebraucht habe, handele es sich lediglich um Beschreibungen für ein und dieselbe Tätigkeit.

Dieses Vorbringen kann für die Entscheidung insofern erheblich sein, als der Kanalbauer, aufbauend auf der Vorstufenausbildung zum Tiefbaufacharbeiter, ein anerkannter Ausbildungsberuf mit einer Gesamtausbildungsdauer von 33 Monaten ist (vgl Verzeichnis der anerkannten Ausbildungsberufe, Stand 1. Juli 1983, Berufsklasse 4663). Indessen enthält der Tatbestand des LSG-Urteils keine, jedenfalls keine ausreichenden Feststellungen im Sinne der Darstellung des Klägers. Wollte man das Wort "Kanalbauer" als wertende Berufsbezeichnung auffassen, so wäre eine damit etwa zum Ausdruck gebrachte Klassifizierung durch den Zusatz "bzw als Kanalmaurer und Rohrleger" wieder aufgehoben oder zumindest relativiert. Denn die beiden letzteren Begriffe kennzeichnen keinen Ausbildungsberuf. Diese Bezeichnungen lediglich als Umschreibung anzusehen, ist weder zwingend, noch bietet der Zusammenhang dafür Anhaltspunkte. Näher liegt die Annahme, es seien nur wertungslos Tätigkeiten genannt worden, zumal das LSG die Zuordnung des Klägers zum Leitberuf des Facharbeiters ausschließlich mit der Einstufung in die Tarifgruppe IV/4 begründet hat. Während aber, wie ausgeführt, diese Berufsgruppe Arbeitnehmer, die eine angelernte Spezialtätigkeit gemäß V/2 - dazu gehören auch die Rohrleger (V/2.11) - drei Jahre ausgeübt haben, umfaßt, sind Kanalbauer nach einjähriger Tätigkeit in ihrem Beruf in der Berufsgruppe III/1 des BRTV-Bau aufgeführt.

Da sonach widerspruchsfreie Feststellungen fehlen, müssen diese vom Berufungsgericht nachgeholt werden (vgl BSG, Urteil vom 20. November 1959 - 1 RA 161/58 = SozR Nr 6 zu § 163 SGG). Das LSG wird dabei zunächst klären müssen, ob der Kläger die Tätigkeit eines Kanalbauers verrichtet hat. Zweifel hieran bestehen im Hinblick auf die tarifliche Einstufung. In diesem Zusammenhang dürfte es zweckmäßig sein, die Ermittlungen bei dem letzten Arbeitgeber des Klägers fortzusetzen. Es wird der Widerspruch zu klären sein, inwiefern zunächst (Auskunft vom 18. August 1981) eine etwa elfjährige Beschäftigung als Kanalbauer bestätigt, dann (Auskunft vom 3. November 1981) jedoch angegeben wurde, es habe sich um eine angelernte Tätigkeit gehandelt, der Kläger sei als Kanalmaurer/Rohrleger beschäftigt gewesen.

Ergäben die Ermittlungen, daß der Kläger als Kanalbauer beschäftigt war, so müßte, da er in diesem Beruf keine Ausbildung durchlaufen hat, seine berufliche Position "in voller Breite" derjenigen eines Versicherten mit der üblichen Ausbildung entsprochen haben (BSG, Urteile vom 29. November 1979 - 4 RJ 111/78 - und vom 12. November 1980 - 1 RJ 144/79 = SozR 2200 § 1246 Nrn 53, 70). Zwar hat die Rechtsprechung das Vorliegen der in diesen Entscheidungen näher umrissenen Voraussetzungen "neben der gleichen tariflichen Einstufung und Entlohnung" wie bei einem Facharbeiter mit üblichem Ausbildungsgang verlangt, was hier nach den bereits getroffenen Feststellungen nicht zutrifft. Der Senat ist jedoch der Ansicht, daß auf das letztere Erfordernis ausnahmsweise verzichtet werden kann, wenn die niedrigere - im übrigen nicht unbedingt lohnungünstigere - Einstufung auf Gründen und Erwägungen beruhte, die mit der objektiven Einschätzung des Wertes der Tätigkeit nicht im Zusammenhang stehen. Auch das ergibt sich aus der nur indiziellen Funktion der tariflichen Einstufung für die Bewertung im Rahmen des § 1246 Abs 2 RVO (vgl BSGE 51, 135, 138).

Über die Kosten ist im Schlußurteil zu entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1661223

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