Entscheidungsstichwort (Thema)

Zuständigkeit eines Versicherungsträgers zur Feststellung und Zahlung der Rente. Entrichtung weiterer Pflichtbeiträge während des Rentenstreitverfahrens

 

Leitsatz (amtlich)

Die einmal begründete Zuständigkeit eines Versicherungsträgers zur Feststellung und Zahlung der Rente bleibt auch dann bestehen, wenn während des Rentenstreitverfahrens neue Pflichtbeiträge zu einem anderen, am anhängigen Rechtsstreit nicht beteiligten Versicherungsträger entrichtet werden (Bestätigung und Fortführung von BSG 1961-03-15 1 RA 173/57 = BSGE 14, 86).

 

Normenkette

AVG § 90 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1311 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 20. Mai 1975 aufgehoben und die Berufung der Beigeladenen gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt a. M. vom 6. Dezember 1973 zurückgewiesen.

Die Beigeladene hat dem Kläger auch dessen außergerichtliche Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Streitig ist allein, ob die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) oder die beigeladene Landesversicherungsanstalt (LVA) Hessen für die Zahlung der dem Kläger zu leistenden Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zuständig ist.

Der Kläger hatte von der Beigeladenen aufgrund des Bescheides vom 3. August 1961 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit erhalten. Mit Bescheid vom 15. Juli 1968 hatte die Beigeladene die Rente gemäß § 1286 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) entzogen. Auf die hiergegen erhobene Klage hatte das Sozialgericht (SG) Stuttgart die Beigeladene mit Urteil vom 23. November 1970 verpflichtet, dem Kläger ab 1. September 1968 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren; im übrigen hatte es die Klage abgewiesen. Die Beigeladene hatte die gegen das Urteil eingelegte Berufung am 14. April 1972 zurückgenommen.

Während des Klageverfahrens war der Kläger versicherungspflichtig beschäftigt. Zuletzt wurden für ihn in der Zeit vom 23. Juni 1969 bis 31. Januar 1972 Pflichtbeiträge zur Angestelltenversicherung entrichtet. Den ebenfalls noch während des beim SG Stuttgart anhängigen Klageverfahrens im Juli 1970 bei der Beklagten gestellten Antrag auf Gewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit lehnte diese im Bescheid vom 19. August 1971 mit der Begründung ab, daß wegen des beim Landessozialgericht (LSG) anhängigen Berufungsverfahrens die Zuständigkeit des Rentenversicherungsträgers nicht wechsele und deshalb die LVA Hessen auch über die begehrte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu entscheiden habe.

Auf die hiergegen erneut erhobene Klage verpflichtete das SG Frankfurt a. M. die Beigeladene, dem Kläger - unter Auslassung der Zeit des Heilverfahrens vom 7. August bis 18. September 1972 - Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vom 1. Februar 1972 an zu zahlen; im übrigen wies es die Klage ab (Urteil vom 6. Dezember 1973). In der mündlichen Verhandlung über die von der Beigeladenen eingelegte Berufung waren sich die Beklagte und die Beigeladene darüber einig, daß beim Kläger der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit im Januar 1972 eingetreten sei. Das LSG verpflichtete sodann in Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung die Beklagte, die Versichertenrente des Klägers wegen Berufsunfähigkeit mit Wirkung vom 1. Februar 1972 in eine solche wegen Erwerbsunfähigkeit umzuwandeln. Zur Begründung führte es im wesentlichen aus: Da der letzte Beitrag vor der Antragstellung im Juli 1970 am 14. Juli 1970 an die Beklagte geleistet worden sei, sei gemäß § 90 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) und § 1311 RVO deren Zuständigkeit zur Feststellung der Leistung gegeben. Die von der Beklagten herangezogene Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Ausschluß eines Zuständigkeitswechsels während eines Streitverfahrens betreffe andere Sachverhalte. Aus der Sicht des Klägers, der mit einem für ihn ungünstigen Ausgang des Vorprozesses habe rechnen müssen, sei am 28. Juli 1970 ein neuer - an die Beklagte zu richtender - Rentenantrag erforderlich gewesen. Dies ergebe sich daraus, daß die BfA im damaligen Verfahren entgegen § 75 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht beigeladen gewesen sei und mit der durch die Berufungsrücknahme der LVA Hessen am 14. April 1972 eingetretenen Rechtskraft des Urteils des SG Stuttgart vom 23. November 1970 für die Beteiligten des Vorprozesses festgestanden habe, daß der Kläger ab September 1968 nur berufs-, nicht aber erwerbsunfähig gewesen sei (Urteil vom 20. Mai 1975).

Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung der §§ 1311 RVO, 90 AVG durch das Berufungsgericht.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beigeladenen gegen das Urteil des SG Frankfurt a. M. vom 6. Dezember 1973 zurückzuweisen.

Die Beigeladene beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht durch einen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten (§ 166 Abs. 2 SGG) vertreten.

 

Entscheidungsgründe

Die durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten ist begründet.

Da die Beklagte und die Beigeladene übereinstimmend davon ausgehen, daß dem Kläger vom 1. Februar 1972 an die Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit zusteht, ist nur noch darüber zu entscheiden, welcher der beiden beteiligten Versicherungsträger die Rente zu zahlen hat. Der Rechtsauffassung des LSG, unter Berücksichtigung der letzten Beitragsentrichtung vor der Antragstellung im Juli 1970 sei gemäß den §§ 90 AVG, 1311 RVO die Zuständigkeit der Beklagten gegeben, kann nicht zugestimmt werden.

Nach Absatz 1 Satz 1 der genannten Vorschriften ist zwar der Träger des Versicherungszweiges, an den der letzte Beitrag entrichtet ist, für die Feststellung und Zahlung der Leistung zuständig. Das Berufungsgericht übersieht indes, daß das BSG - ua - aus § 1311 Abs. 1 Satz 2 RVO den Schluß gezogen hat, daß ein Wechsel der Zuständigkeit während eines Rentenstreitverfahrens vermieden werden soll (vgl. BSG 23, 160, 162 = SozR Nr. 5 zu § 1311 RVO unter Hinweis auf die Entscheidung des erkennenden Senats vom 15.3.1961 - 1 RA 173/57 in BSG 14, 86 = SozR Nr. 3 zu § 1311 RVO). Das BSG hat seine Rechtsauffassung auf den auch sonst im Verfahrensrecht (vgl. § 94 Abs. 3 SGG) geltenden Grundsatz, eine einmal begründete Zuständigkeit bei Veränderung der sie begründenden Umstände bestehen zu lassen - perpetuatio fori -, gestützt (so BSG in SozR Nr. 6 zu § 1311 RVO) und des weiteren mit der begrenzten Zulässigkeit von Klageänderungen begründet (so BSG 14, 86, 90).

Die aufgezeigten Gesichtspunkte müssen aber auch dann den Ausschlag geben, wenn nicht - wie bei dem in BSG 14, 86 entschiedenen Fall - während des Rentenstreitverfahrens Beiträge nachentrichtet, sondern - wie hier - neue Pflichtbeiträge zu einem im rechtshängigen Streitverfahren nicht beteiligten Versicherungsträger geleistet werden. Im Klageverfahren des Vorprozesses war zur Zeit der letzten Beitragsentrichtung vor dem neuen, an die Beklagte gerichteten Rentenantrag (Juli 1970) noch die Weitergewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit durch die Beigeladene (= Beklagte des Vorprozesses) streitig. Allerdings ist dem Kläger durch das nachfolgende Urteil des SG Stuttgart vom 23. November 1970 lediglich die Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1. September 1968 an zugesprochen worden und der erneute Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit ist erst im Januar 1972 eingetreten. Zu diesem Zeitpunkt war indes das erste Rentenstreitverfahren noch nicht abgeschlossen. Auch wenn die nunmehrige Beklagte zum damaligen Berufungsverfahren vor dem LSG Baden-Württemberg beigeladen worden wäre, hätte der Eintritt des neuen Versicherungsfalls nicht - wie das Berufungsgericht meint - zur Folge gehabt, daß die jetzige Beklagte bereits im damaligen Streitverfahren gemäß § 75 Abs. 5 SGG zur Gewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente hätte verurteilt werden müssen. Denn diese Vorschrift setzt für die Verurteilung eines beigeladenen Versicherungsträgers dessen Sachbefugnis als in Anspruch genommener Beteiligter voraus. An der Zuständigkeit der Beklagten des Vorprozesses (= jetzige Beigeladene) zur Feststellung und Zahlung der Rente und an der sich hieraus ergebenden Passivlegitimation im damaligen Streitverfahren konnten aber spätere Ereignisse, wie der Eintritt des neuen Versicherungsfalls, nichts mehr ändern (vgl. hierzu BSG 14, 86, 89, 90).

Entgegen den Ausführungen der Beigeladenen wird die Rechtsauffassung des LSG auch nicht durch das Urteil des BSG vom 15. Oktober 1970 - 11 RA 99/69 - (BSG 32, 28, 30 = SozR Nr. 10 zu § 1311 RVO) bestätigt. Diese Entscheidung bezieht sich nur auf die - ohne Eintritt eines neuen Versicherungsfalls - erforderliche Neufeststellung einer Rente durch den bisher zuständigen Versicherungsträger außerhalb eines Rentenstreitverfahrens. Nur für diesen Sachverhalt kann aus den dortigen Gründen geschlossen werden, daß bei Eintritt eines neuen Versicherungsfalls die einmal begründete Zuständigkeit neu zu prüfen sei. Gleiches ist aber jener Entscheidung für den davon abweichenden und hier gegebenen Sachverhalt, daß der neue Versicherungsfall während eines noch nicht abgeschlossenen Rentenstreitverfahrens eintritt, nicht zu entnehmen. Im Einklang mit den eingangs genannten Urteilen des BSG wird dort vielmehr ebenfalls betont, daß die Rechtsprechung des BSG Änderungen des Beitragsbildes während eines Streitverfahrens bei der Prüfung der Zuständigkeit des zur Leistung verpflichteten Versicherungsträgers grundsätzlich nicht berücksichtigt.

Da nach alledem die Beigeladene auch für die Feststellung und Zahlung der dem Kläger ab Februar 1972 zu gewährenden Leistungen zuständig bleibt, ist die dementsprechende Entscheidung des SG unter Aufhebung des angefochtenen Urteils wieder herzustellen (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und 4 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1648020

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