Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts von 11. Juni 1958 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten,
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Beigeladenen wohnen im Kassenbezirk der beklagten Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK); sie sind als Stückmetzger beim Schlacht- und Viehhof in Augsburg unständig beschäftigt. Nachdem die beklagte AOK die Beigeladenen in ihr Mitgliederverzeichnis aufgenommen hatte, forderte sie vom Landkreis Wertingen als dem für die Zahlung der Arbeitgeberanteile zuständigen Gemeindeverband (§ 453 der Reichsversicherungsordnung – RVO –) Beitragsanteile für das dritte und vierte Quartal 1954 in Höhe von 41.16 DM.
Der Landkreis Wertingen bestreitet seine Zahlungspflicht und macht geltend, eine Rechtsgrundlage für seine Beitragspflicht bestehe nicht mehr; § 453 RVO, wonach der Gemeindeverband die Arbeitgeberanteile für die unständig Beschäftigten zu entrichten habe, sei durch Art. 15 der Ersten Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung – VereinfVO – vom 17. März 1945 (RGBl I 41) aufgehoben worden. Die AOK wies den Widerspruch des Landkreises Wertingen zurück. Die VereinfVO bestimme zwar, daß die §§ 442 ff. RVO aufgehoben würden. Da der Reichsarbeitsminister aber von der ihm erteilten Ermächtigung, nähere Bestimmungen über die Versicherung der unständig Beschäftigten zu erlassen (§ 441 RVO i.d.F. des Art. 15 VereinfVO), infolge der Kriegsereignisse keinen Gebrauch gemacht habe und solche Bestimmungen auch bis heute nicht erlassen worden seien, sei Art. 15 VereinfVO nicht wirksam geworden.
Das Sozialgericht (SG) wies die Klage des Landkreises, mit der dieser die Aufhebung der Bescheide der beklagten AOK begehrte, zurück. Die gegen dieses Urteil beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG) eingelegte Berufung des Klägers blieb ohne Erfolg. Es habe nicht im Willen des Gesetzgebers gelogen, für die Versicherung der unständig Beschäftigten einen gesetzlich nicht geregelten Zustand herbeizuführen; vielmehr sollten die bisherigen gesetzlichen Vorschriften (§§ 442 ff. RVO) bis zur Neuregelung fortbestehen. Sie seien deshalb so lange nicht als beseitigt anzusehen, als das bis zum Erlaß der VereinfVO geltende Recht nicht durch neues Recht ersetzt sei. – Die Revision hat das LSG zugelassen.
Gegen dieses Urteil legte der Kläger Revision mit dem Antrag ein,
das angefochtene Urteil und das Urteil des Sozialgerichts aufzuheben und zu erkennen, daß der Landkreis Wertingen nicht verpflichtet ist, für die Krankenversicherung der unständig Beschäftigten die Arbeitgeberanteile zu zahlen,
sowie die Kosten und Auslagen des Verfahrens der beklagten AOK aufzuerlegen und diese zu verpflichten, die vom Kläger gezahlte Pauschgebühr von 15,– DM zurückzuerstatten.
Er rügt eine Verletzung des Art. 15 der VereinfVO und macht zur Begründung der Revision geltend:
Weder der Bayerische Staatsminister für Arbeit und soziale Fürsorge noch der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hätten als Rechtsnachfolger des früheren Reichsarbeitsministers von der in Art. 15 Abs. 1 VereinfVO (§ 441 RVO nF) enthaltenen Ermächtigung, das Nähere über die Versicherung der unständig Beschäftigten zu bestimmen, Gebrauch gemacht. Demnach sei vom Gesetzgeber offensichtlich nicht beabsichtigt, die Gemeindeverbände weiterhin mit der Entrichtung der Arbeitgeberanteile zur Krankenversicherung für unständig Beschäftigte zu belasten. Die §§ 442 ff. RVO seien nach ihrer Aufhebung durch die VereinfVO auch nicht gewohnheitsrechtlich weiter anwendbar geblieben, denn die VereinfVO sei in Bayern nicht durch Gewohnheitsrecht außer Kraft gesetzt worden.
Die beklagte AOK beantragte, die Revision zurückzuweisen.
Die form- und fristgerecht eingelegte, durch Zulassung statthafte Revision ist nicht begründet.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß die §§ 442 ff. RVO auch in Bayern weiterhin gelten. Nach diesen Vorschriften werden unständig Beschäftigte bei der AOK oder, wenn sie überwiegend landwirtschaftlich beschäftigt sind, bei der Landkrankenkasse ihres Wohnorts versichert; die Mitgliedschaft bei der Krankenkasse beginnt mit der Eintragung in das von der Kasse geführte Mitgliederverzeichnis der unständig Beschäftigten (§ 442 RVO). Die unständig Beschäftigten haben ihren Beitragsteil (§ 381 Abs. 1 RVO) selbst einzuzahlen (§ 450 Abs. 2 RVO). Der Gemeindeverband hat der Kasse am Schluß jedes Vierteljahres den Gesamtbetrag der Beitragsteile für die Arbeitgeber zu zahlen (§ 453 RVO).
Da die beiden Beigeladenen als unständig beschäftigte Stückmetzger in das Mitgliederverzeichnis der beklagten AOK eingetragen worden sind, hat der klagende Landkreis Wertingen als zuständiger Gemeindeverband (§ 526 Abs. 2, § 111 Ziff. 2 RVO, § 5 der Bekanntmachung des Bayer. Staatsministeriums des Inneren und für Landwirtschaft und Arbeit zum Vollzug der RVO vom 25. März 1931 – BayBS IV S. 633 –) die Arbeitgeberanteile für die beigeladenen Stückmetzger an die beklagte AOK zu entrichten.
Art. 15 der VereinfVO vom 17. März 1945 bestimmt:
(1) Der § 441 der Reichsversicherungsordnung erhält folgende Passung:
§ 441
„Der Reichsarbeitsminister bestimmt Näheres über die Versicherung der unständig Beschäftigten, der Hausgewerbetreibende, der Heimarbeiter und der in Wandergewerbebetrieben Beschäftigten. Er kann hierbei bestimmen, welche Personengruppen als Hausgewerbetreibende im Sinne des § 166 Abs. 1 Nr. 1 und als Heimarbeiter anzusehen sind.”
(2) Die Überschrift vor dem § 441 der Reichsversicherungsordnung erhält folgende Fassung:
„IV. Unständige Beschäftigung, Hausgewerbe, Wandergewerbe.
(3) Der § 162, die §§ 442 bis 475 a der Reichsversicherungsordnung und die Überschriften vor dem § 162 und den §§ 459, 466 der Reichsversicherungsordnung fallen weg.”
Diese Vorschrift sollte am 1. Juni 1945 in Kraft treten (Art. 25 Abs. 1 VereinfVO). In Art. 25 Abs. 4 Nr. 5 der VereinfVO wurde ferner bestimmt, daß im § 13 Abs. 3 der Zweiten Verordnung über die Vereinfachung des Lohnabzugs – 2. LAV – vom 24. April 1942 (RGBl I, 252) die Worte „und die Pflichtversicherung der unständig Beschäftigten (§ 441 der Reichsversicherungsordnung)” mit Wirkung vom 1. Juni 1945 an gestrichen werden. Wie der Senat bereits früher entschieden hat, ist die VereinfVO wirksam verkündet worden (BSG 3, 161, 164 f; vgl. auch BSG 10, 156, 158). Sie ist vom Reichsarbeitsminister auf Grund, des § 29 Abs. 3 des Gesetzes über weitere Maßnahmen in der Reichsversicherung aus [xxxxx]Anlaß des Krieges (MaßnahmenG) vom 15. Januar 1941 (RGBl I, 34) und des § 18 der 2. LAV erlassen worden. Während § 29 Abs. 3 MaßnahmenG den Reichsarbeitsminister nur ermächtigte, zur Durchführung und Ergänzung „dieses Gesetzes” Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, wurde er durch § 18 Satz 2 [xxxxx]der 2. LAV ermächtigt, „die Reichsversicherungsgesetze an die Vorschriften dieser Verordnung anzupassen”. Zwar enthalten die §§ 442 ff. RVO, die durch Art. 15 VereinfVO aufgehoben werden sollten, in Gegensatz zur 2. LAV nicht nur Beitragsvorschriften, sondern in den §§ 451, 452 RVO auch Vorschriften über die Leistungen. Da sich aber die Sondervorschriften über die Versicherung der unständig Beschäftigten überwiegend mit dem Beitragsrecht befassen und die vorgesehenen näheren Bestimmungen des Reichsarbeitsministers vor allem auch zum Zwecke der Anpassung an die 2. LAV erlassen werden sollten, ist Art. 15 VereinfVO durch die Ermächtigung des § 18 der 2. LAV auch insoweit gedeckt, als er die §§ 442 bis 458 RVO aufhebt und den Reichsarbeitsminister zum Erlaß der näheren Bestimmungen ermächtigt. Ebenso wie Art. 4 und 19 ist auch Art. 15 VereinfVO spätestens am 17. September 1949 mit dem erstmaligen Zusammentritt des Deutschen Bundestages im ganzen Bundesgebiet als Gesetz existent geworden (BSG 3, 161, 167 ff.); denn die in der genannten Entscheidung des Bundessozialgerichts für das Inkrafttreten des Art. 19 VereinfVO maßgebenden Gesichtspunkte treffen auch für das Inkrafttreten des Art. 15 VereinfVO zu.
Zu der nach Art. 15 Abs. 1 VereinfVO geplanten Neuregelung ist es jedoch infolge der Kriegsereignisse nicht mehr gekommen. In der Britischen Zone wurde Art. 15 der VereinfVO durch die Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 4 vom 14. Oktober 1945 (ArbBl. für die BrZ 1947, 13) ausdrücklich aufgehoben und damit – wie der Senat bereits entschieden hat (Urteil vom 13. Februar 1962 – 3 RK 2/58 –) – klargestellt, daß die Vorschriften über die unständig Beschäftigten hier weiter gelten. Eine entsprechende Regelung erging jedoch in Bayern nicht. Trotzdem sind die §§ 441 ff. RVO auch hier weiterhin anzuwenden.
Der Wortlaut des Art. 15 VereinfVO ist nicht so eindeutig, wie es auf den ersten Blick erscheint. Diese Vorschrift bezweckte – wie ihr Wortlaut insbesondere die darin bestimmte Überschrift des Abschnitts IV vor § 441 RVO erkennen läßt – weder die Beseitigung der Versicherungspflicht der unständig Beschäftigten, die weiterhin nach §§ 165 ff” RVO zu beurteilen ist, noch den ersatzlosen Wegfall des für die Versicherung der unständig Beschäftigten geltenden Sonderrechts. An die Stelle der §§ 442 ff. RVO sollten vielmehr die näheren Bestimmungen des Reichsarbeitsministers – also wiederum eine Sonderregelung – treten. Dem Umstand, daß die §§ 442 ff. RVO erst am 1. Juni 1945 außer Kraft treten sollten, ist zu entnehmen, daß der damalige Gesetzgeber von der Erwartung ausging, der Reichsarbeitsminister werde bis zu diesem Zeitpunkt die näheren Bestimmungen über die Versicherung der unständig Beschäftigten erlassen haben und damit ohne zeitliche Unterbrechung einen Übergang vom alten zum neuen Recht herbeiführen. Offensichtlich hat jedoch der Gesetzgeber der damaligen Zeit die Möglichkeit nicht ins Auge gefaßt, daß infolge des bevorstehenden Zusammenbruchs und der Besetzung des Deutschen Reiches die angekündigten näheren Bestimmungen am 1. Juni 1945 noch nicht erlassen sein könnten und eine Neuregelung auch noch lange Jahre nach dem Kriege ausbleiben würde. Da zwischen der Aufhebung der §§ 442 ff. RVO und dem Erlaß neuer Bestimmungen über die Versicherung der unständig Beschäftigten ein unlöslicher Zusammenhang dergestalt besteht, daß die §§ 442 ff. RVO nur unter der Voraussetzung einer Neuregelung aufgehoben werden sollten, diese Neuregelung aber unterblieben ist und jedenfalls seit Inkrafttreten des Bonner Grundgesetzes infolge Erlöschens der Ermächtigung auch nicht mehr im Verordnungswege getroffen werden konnte (vgl. Art 129 Abs. 3 GG), sind die alten Vorschriften – wie das LSG zutreffend ausgeführt hat – auch in Bayern weiterhin anzuwenden (im Ergebnis ebenso Peters, Handbuch der Krankenversicherung, Vorbemerkung vor § 441 RVO; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand 1. September 1961, S. 316 c, 372; a.A. Zeihe, Die Beiträge 1962, Heft 3 S. 73, Heft 4 S. 106 ff.).
Gegen diese Auslegung des Art. 15 VereinfVO kann auch nicht eingewendet werden, das Fehlen der vom Gesetzgeber vorgesehenen Neuregelung des Rechts der unständig Beschäftigten habe nur zur Folge gehabt, daß nach Aufhebung der §§ 442 ff. RVO die allgemeinen Vorschriften der RVO auf die Versicherung der unständig Beschäftigten anzuwenden seien, ein „gesetzloser Zustand” sei also nicht eingetreten. Dabei wird übersehen, daß die §§ 442 ff. RVO gegenüber den allgemeinen Leistungs- und Beitragsrecht Sonderregelungen u. a. hinsichtlich der Meldepflicht, der Beitragshöhe, der Beitragslastverteilung usw. enthalten. Wenn eine Sonderregelung aber, wie schon geführt, durch Art. 15 VereinfVO nicht beseitigt, sondern nur durch eine andere ersetzt werden sollte, so würde es den Willen des damaligen Gesetzgebers widersprechen, auf die unständig Beschäftigten das allgemeine Leistungs- und Beitragsrecht der RVO anzuwenden. Im übrigen wäre die Anwendung der allgemeinen Melde und Beitragsvorschriften auf die unständig Beschäftigten, deren Beschäftigungsverhältnisse nur von kurzer Dauer sind, und die in aller Regel häufig den Arbeitgeber wechseln, nicht nur schwerfällig, sondern nahezu undurchführbare, Eine derartige Erschwerung des Beitragseinzugs war jedoch – wie schon der Name der Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung erkennen läßt – nicht Sinn und Zweck der Neufassung des § 441 RVO und der Aufhebung der §§ 442 ff. RVO durch Art. 15 der VereinfVO.
Die Richtigkeit dieser Auffassung wird auch dadurch bestätigt, daß der Gesetzgeber in § 1396 Abs. 2 RVO und in § 118 AVG, beide in der Fassung der Rentenversicherungsneuregelungsgesetze von 23. Februar 1957 (BGBl I, 45 und 88), auf die in § 441 RVO enthaltene Legaldefinition des Begriffs des unständig Beschäftigten verweist. Damit setzt der Gesetzgeber eine bestehende Sonderregelung der Versicherung der unständig Beschäftigten, also – mangels einer anderen Regelung – die Weitergeltung der §§ 441 ff. RVO voraus. Das gleiche gilt für § 114 AVAVG i.d.F. der Bekanntmachung von 3. April 1957 (BGBl I, 321, 706), wonach unständig beschäftigte Hafenarbeiter, die in „das Mitgliederverzeichnis der Krankenkasse eingetragen sind” auch während des Bezuges von Arbeitslosengeld eingetragen bleiben. Dem kann nicht entgegenhalten werden, der Gesetzgeber sei deswegen von der Weitergeltung der §§ 441 ff. RVO ausgegangen, weil Art. 15 VereinfVO in der Britischen Besatzungszone durch die SVD Nr. 4 wieder aufgehoben wurde und die Geltung der VereinfVO in Bayern streitig gewesen sei; bei Erlaß der Rentenversicherungsneuregelungsgesetze und auch in Zeitpunkt der Bekanntmachung der Neufassung des AVAVG war nämlich durch die Entscheidung des erkennenden Senats vom 11. Juli 1956 bereits klargestellt, daß die VereinfVO auch in Bayern wirksam geworden ist (vgl. BSG 3, 161).
Da die §§ 442 ff. RVO somit nach dem Willen des Gesetzgebers nur unter der Voraussetzung einer alsbaldigen Neuregelung aufgehoben werden sollten und es zu dieser Neuordnung nicht gekommen ist, gilt das bisherige Recht – auch im Freistaat Bayern – unverändert fort. Der klagende Landkreis war daher nach § 453 RVO zur Zahlung der Arbeitgeberanteile für die Versicherung der beigeladenen Stückmetzger verpflichtet. Seine Revision ist deshalb zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Unterschriften
Dr. Bogs, Dr. Langkeit, Dr. Schraft
Fundstellen