Leitsatz (amtlich)

1. Ein Weg, dessen Ziel die Arbeitsstätte ist, steht dann nicht unter Versicherungsschutz, wenn es sich um den Rückweg von einer Verrichtung handelt, die mit der versicherten Tätigkeit nicht in rechtlich wesentlichem Zusammenhang steht (RVO § 543 Abs 1 S 1).

2. Die Besuchsfahrt eines verheirateten Versicherten zu seinen Eltern steht nur unter Versicherungsschutz, wenn die elterliche Wohnung zugleich den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Versicherten bildet (RVO § 543 Abs 1 S 2).

 

Normenkette

RVO § 543 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1942-03-09, S. 2 Fassung: 1942-03-09

 

Gründe

Der Kläger, der als Arzt in der Heilanstalt E. gearbeitet hatte, war an das Krankenhaus für Hirn- und Nervenschäden in L. versetzt worden und hatte sich dort am 1. April 1953 zum Dienstantritt gemeldet. Vom 3. April 1953 an war er über die Osterfeiertage beurlaubt worden. Da seine Ehefrau sich nicht in der Familienwohnung in E., sondern besuchsweise bei ihren eigenen Eltern in B. aufhielt, ist der Kläger mit seinem Motorrad zu seinen Eltern nach S. gefahren. Auf der Rückfahrt von S. nach L. hat er am 7. April 1953 (Osterdienstag) einen Motorradunfall erlitten.

Der beklagte Gemeindeunfallversicherungsverband hat die Entschädigungsansprüche, die der Kläger auf Grund dieses Unfalls geltend macht, mit Bescheid vom 27. Juli 1953 abgelehnt. Gegen diesen Bescheid hat der Kläger Berufung eingelegt, die nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage auf das Sozialgericht Dortmund übergegangen ist (§ 215 Abs. 2 SGG). Das Sozialgericht Dortmund hat diese Klage mit Urteil vom 5. Februar 1954 abgewiesen. Die Berufung des Klägers gegen dieses Urteil hat das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 1. Juli 1954 zurückgewiesen. Das Landessozialgericht hat die Revision zugelassen.

Der Kläger hat gegen das Urteil des Landessozialgerichts, das am 7. August 1954 zugestellt worden ist, am 6. September 1954 beim Bundessozialgericht Revision eingelegt. Er beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen, des Urteils des Sozialgerichts Dortmund und des angefochtenen Bescheids festzustellen, daß es sich bei dem Unfall des Klägers vom 7. April 1953 um einen Wegeunfall gehandelt hat.

Der Beklagte beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Die Revision ist statthaft und form- und fristgerecht eingelegt, jedoch unbegründet.

Das Berufungsgericht hat ohne Rechtsirrtum angenommen, daß die Rückfahrt des Klägers von dem Besuch bei seinen Eltern in S.   kein unter Versicherungsschutz stehender Betriebsweg (§ 542 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) gewesen ist. Die Fahrt ist nicht für das Krankenhaus in L.    unternommen worden.

Die Revision rügt auch lediglich eine Verletzung des § 543 Abs. 1 RVO. Sie weist zwar zutreffend daraufhin, daß der Gesetzgeber nach dieser Vorschrift den Versicherungsschutz für die Wege nach und von der Arbeitsstätte nicht auf die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte beschränkt, sondern es lediglich darauf abgestellt hat, daß die Arbeitsstätte Ziel oder Ausgangspunkt des Weges ist. Sie übersieht jedoch, daß der Gesetzgeber nicht schlechthin jeden Weg unter Versicherungsschutz gestellt hat, der zur Arbeitsstätte hinführt oder von ihr aus begonnen wird. Nach § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO ist vielmehr darüber hinaus erforderlich, daß der Weg mit der Tätigkeit in dem Unternehmen zusammenhängt, d.h. mit ihr in einem rechtlich wesentlichen ursächlichen Zusammenhang steht. Dazu genügt nicht, daß der Weg von der Arbeitsstätte aus angetreten wird, weil er sich zeitlich sofort an die Arbeit anschließt, oder daß er unmittelbar zur Arbeitsstätte führt, weil mit der Arbeit anschließend begonnen werden soll. Eine dadurch gegebene ursächliche Verknüpfung mit der versicherten Tätigkeit muß vielmehr rechtlich so wesentlich sein, daß andere mit der versicherten Tätigkeit nicht zusammenhängende Ursachen für das Zurücklegen des Weges demgegenüber in den Hintergrund treten und als rechtlich unwesentlich unberücksichtigt bleiben können.

Das Berufungsgericht ist in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des ehemaligen Reichsversicherungsamts (RVA.), der sich der Senat anschließt, zutreffend davon ausgegangen, daß bei der Prüfung des ursächlichen Zusammenhangs die Besuchsfahrt des Klägers zu seinen Eltern als eine Einheit behandelt werden muß (vgl. z.B. EuM. Bd. 24 S. 115 und grundsätzliche Entscheidung Nr. 4465 in AN. 1932 S IV 439 = EuM. Bd. 33 S. 13). Diese Besuchsfahrt stand nach den vom Berufungsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen mit der versicherten Tätigkeit des Klägers als Arzt in L.    rechtlich nicht im Zusammenhang, sondern war wesentlich durch Gründe veranlaßt, die dem persönlichen Lebensbereich des Klägers zuzurechnen sind. Dies gilt auch für die Rückfahrt des Klägers. Eine Beweiserhebung darüber, ob der Kläger noch am Nachmittag des Unfalltages dem Oberarzt für eine Einführung zur Verfügung stehen sollte, war nicht erforderlich; denn auch ein Weg, dessen Ziel die Arbeitsstätte ist, steht dann nicht unter Versicherungsschutz, wenn es sich um den Rückweg von einer Verrichtung handelt, die mit der versicherten Tätigkeit nicht in rechtlich wesentlichem Zusammenhang steht. Für die Frage des Versicherungsschutzes ist es bei dem hier gegebenen Sachverhalt infolgedessen rechtlich unerheblich, ob der Kläger schon am Unfalltage selbst oder erst am nächsten Morgen seine Arbeit aufnehmen wollte. Das Berufungsgericht hat vielmehr mit Recht angenommen, daß es sich bei der Rückfahrt von dem Besuch bei den Eltern nicht um einen unter Versicherungsschutz stehenden Weg zur Arbeitsstätte gehandelt hat.

Im Urteil des Berufungsgerichts ist allerdings nicht klar zwischen den Sätzen 1 und 2 im Abs. 1 des § 543 RVO unterschieden. Im Ergebnis hat das Berufungsgericht jedoch auch die Anwendbarkeit der Vorschrift des Satzes 2 zutreffend verneint. Mit dieser Vorschrift, die durch das 5. Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung vom 17. Februar 1939 (RGBl. I S. 267) dem damaligen § 545 a RVO als 2. Abs. angefügt worden war, hat der Gesetzgeber zwar für die Fahrten zur Familienwohnung einen Versicherungsschutz geschaffen, der über den Versicherungsschutz nach Satz 1 hinausgeht und es ermöglicht, rechtlich die dem persönlichen Lebensbereich zuzurechnenden Beweggründe für die Fahrt weitergehend unberücksichtigt zu lassen. Die Anwendbarkeit des Satzes 2 hängt jedoch davon ab, daß es sich bei dem Ziel der Fahrt oder dem Ausgangspunkt der Rückfahrt um die "Familienwohnung" handelt. Nach den von der Rechtsprechung des RVA. zu diesem Begriff entwickelten Grundsätzen, denen sich der Senat anschließt, muß die Wohnung den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse bilden (vgl. z.B. EuM. Bd. 49 S. 140). Aus den tatsächlichen Feststellungen im Urteil des Berufungsgerichts ergibt sich, daß der Kläger bis zu seiner Versetzung nach L.    seine Familienwohnung in E.     hatte. Es sind keine Gründe ersichtlich, die zu der Annahme veranlassen könnten, daß diese Wohnung nicht den Mittelpunkt seines Familienlebens gebildet hat. Diese Eigenschaft hat die Familienwohnung in E.     auch nicht schon dadurch ohne weiteres verloren, daß die Ehefrau des Klägers sich, wie das Berufungsgericht festgestellt hat, im Zeitpunkt der Besuchsfahrt des Klägers zu seinen Eltern nicht in der Familienwohnung, sondern - besuchsweise - bei ihren eigenen Eltern in B.   befand. Diese vorübergehende Abwesenheit der Ehefrau des Klägers hat auch rechtlich nicht die Bedeutung, daß dadurch für den Kläger die Wohnung seiner Eltern zum Mittelpunkt des persönlichen Lebensbereichs geworden wäre, zumal da der Kläger, wie sich gleichfalls aus den Feststellungen im Vorurteil ergibt, während des Besuches nicht bei seinen Eltern, sondern in einem Hotel übernachtet hat.

Die Revision war deshalb nach § 170 Abs. 1 SGG als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung und die Festsetzung der Gebühr für die Prozeßbevollmächtigten des Klägers beruhen auf §§ 193, 196 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2006522

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