Leitsatz (amtlich)
Ein Versicherter, der bereits berufsunfähig und deswegen rentenberechtigt war, brauchte nicht mehr nach AnVNG Art 2 § 41 S 2 ( = ArVNG Art 2 § 42 S 2) jährlich neun Monatsbeiträge zu entrichten, um das Recht seiner Hinterbliebenen auf die Vergleichsberechnung zu erhalten; dies gilt auch dann, wenn der Versicherte noch keine Rente bezog.
Normenkette
AnVNG Art. 2 § 41 S. 2 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 42 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 9. Juli 1965 aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 12. Februar 1964 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beklagte bewilligte der Klägerin, der Witwe des am 20. März 1960 verstorbenen Versicherten K P, mit Bescheid vom 24. Juli 1961 eine Witwenteilrente von 9,50 DM; durch einen weiteren Bescheid vom gleichen Tage gewährte sie der geschiedenen Frau des Versicherten eine Teilrente von monatlich 47,20 DM (§ 45 Abs. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -). Mit der Klage machte die Klägerin geltend, ihr stehe die volle Witwenrente zu, weil die geschiedene Frau des Versicherten keinen Anspruch auf eine Geschiedenenwitwenrente nach § 42 AVG habe; außerdem sei ihr die für sie günstigere Rente nach altem Recht zu gewähren (Art. 2 § 41 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - AnVNG -).
Das Sozialgericht (SG) Hamburg entschied mit Urteil vom 12. Februar 1964: "Der Bescheid der Beklagten vom 24. Juli 1961 wird geändert. Die Beklagte wird verurteilt, die Witwenrente der Klägerin ab 1. September 1961 nach der Vergleichsberechnung festzustellen."
Das SG führte aus, das Begehren der Klägerin nach einer anderen Teilung der Rente zwischen ihr und der geschiedenen Ehefrau sei unbegründet; dagegen könne die Klägerin die nach der Vergleichsberechnung höhere Witwenrente beanspruchen (Art. 2 § 41 AnVNG). Der Versicherte habe zwar in den Jahren 1958 und 1959 nicht für mindestens neun Monate Beiträge entrichtet (Art. 2 § 41 Satz 2 AnVNG). Dies sei aber auch nicht mehr erforderlich gewesen, weil er bereits im Jahre 1958 berufsunfähig geworden sei.
Auf die Berufung der Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG) Hamburg am 9. Juli 1965 das Urteil des SG auf und wies die Klage ab: Die Voraussetzungen des Art. 2 § 41 AnVNG für die Vergleichsberechnung der Witwenrente der Klägerin seien nicht erfüllt. Der Versicherte habe in den Jahren 1958 und 1959 nicht die nach Art. 2 § 41 Satz 2 AnVNG erforderlichen neun Beiträge entrichtet; die Vergleichsberechnung setze nur bei Rentnern die Entrichtung dieser neun Beiträge nicht voraus; der Versicherte sei zwar seit 1958 berufsunfähig gewesen, er habe aber keine Rente bezogen. Das LSG ließ die Revision zu.
Die Klägerin legte fristgemäß und formgerecht Revision ein und beantragte,
das Urteil des LSG Hamburg vom 9. Juli 1965 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Witwenrente der Klägerin ab 1. September 1961 nach der Vergleichsberechnung neu festzustellen.
Sie rügte, das LSG habe Art. 2 § 41 AnVNG verletzt.
Mit einem nach Ablauf der - verlängerten - Revisionsbegründungsfrist eingegangenen Schriftsatz vom 15. Januar 1966 machte die Klägerin noch geltend, die geschiedene Frau des Versicherten könne keine "Geschiedenenrente" beanspruchen, da der Versicherte ihr nur in geringem Umfang Unterhalt geleistet habe; mit Rücksicht hierauf beantrage sie "hilfsweise", die Sache an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); sie ist auch begründet.
Streitig ist, ob die Klägerin nach Art. 2 § 41 AnVNG die Witwenrente nach dem für sie günstigeren alten Recht beanspruchen kann, obwohl der 1960 verstorbene Ehemann (Versicherter) - der unstreitig seit 1958 berufsunfähig gewesen ist, aber keine Rente bezogen hat - für die Jahre 1958 und 1959 nicht jeweils mindestens neun Beiträge entrichtet hat (Art. 2 § 41 Satz 2 AnVNG).
Das LSG hat den Anspruch der Klägerin auf die Vergleichsberechnung zu Unrecht verneint. Wie das Bundessozialgericht (BSG) bereits in mehreren Entscheidungen dargelegt hat, enthält die Regelung des Art. 2 § 41 Satz 2 AnVNG, wonach zur Erhaltung des Rechts auf die Vergleichsberechnung ab 1. Januar 1957 für jedes Kalenderjahr vor dem Kalenderjahr des Versicherungsfalles für mindestens neun Monate Beiträge zu entrichten sind, "Reste des alten Anwartschaftsrechts". Es ist deshalb gerechtfertigt, bei der Anwendung dieser Vorschrift "Grundsätze, die dem Anwartschaftsrecht immanent waren, zu übernehmen" (vgl. Urteile des 4. Senats des BSG vom 9. Dezember 1965, SozR Nr. 32 zu der dem Art. 2 § 41 AnVNG entsprechenden Vorschrift des Art. 2 § 42 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNG - mit weiteren Hinweisen und vom 7. April 1964, BSG 20, 282). Das BSG ist zwar in der Anwendung des alten Anwartschaftsrechts auf die nach Art. 2 § 41 Satz 2 AnVNG vorgeschriebene Beitragsleistung nicht so weit gegangen, daß es auch die Anrechnung beitragsloser Zeiten zugelassen hat (vgl. § 1267 der Reichsversicherungsordnung - RVO - aF). Insoweit hat es darauf abgestellt, daß "die Vergünstigung der das System des neuen Rechts durchbrechenden Ausnahmevorschrift des Art. 2 § 41 AnVNG eine qualifizierte Beitragsleistung erfordere" (Urteile des BSG vom 16. Mai 1963, SozR Nr. 14 zu Art. 2 § 42 ArVNG und vom 9. März 1966 - 4 RJ 89/65 -). Es hat jedoch die entsprechende Anwendung des § 1264 Abs. 3 Satz 1 RVO aF, wonach zur Erhaltung der Anwartschaft für das Jahr des Versicherungsfalles und danach keine Beiträge mehr erforderlich waren, sowie auch die des § 1264 Abs. 3 Satz 3 RVO aF, wonach der Invalidität der Bezug einer Invaliden-, Witwen- oder Witwerrente gleichstanden, grundsätzlich bejaht (Urteil des BSG vom 9. Dezember 1965, SozR Nr. 32 zu Art. 2 § 42 ArVNG). Der 3. Senat des BSG hat in dem Urteil vom 28. Januar 1960 (BSG 11, 254) die Auffassung vertreten: "Empfänger von Rente aus der Rentenversicherung brauchen nicht nach Art. 2 § 42 Satz 2 ArVNG in der Zeit vom 1. Januar 1957 bis 31. Dezember 1961 für jedes Kalenderjahr mindestens neun Monatsbeiträge zu entrichten, um die Durchführung der Vergleichsberechnung für ihre Hinterbliebenen zu sichern". Er hat dazu ausgeführt, die sinngemäße Anwendung des Grundsatzes des alten Anwartschaftsrechts (des § 1264 Abs. 3 RVO aF) stütze die Meinung, daß auch eine "Anwartschaft" auf Vergleichsberechnung, die bei Eintritt des Versicherungsfalles in der Person des Versicherten erhalten war, nicht mehr erlösche. Der 3. Senat hat in diesem Urteil zu der Frage, ob für die Erhaltung des Rechts auf die Vergleichsberechnung der zur Rentenberechtigung führende Eintritt des Versicherungsfalles genügt, oder ob auch ein Rentenbezug hinzukommen muß, nicht Stellung nehmen müssen. Es besteht jedoch kein Anhalt dafür, daß er den Rentenbezug als das entscheidende Merkmal für die Erhaltung des Anspruchs auf die Vergleichsberechnung angesehen hat. Der 4. Senat hat zwar in einem Urteil vom 6. April 1965, SozR Nr. 3 zu § 1276 RVO ausgeführt, daß "der Versicherte für die Jahre 1957 und 1958 keine Beiträge (nach Art. 2 § 42 Satz 2 ArVNG) zu leisten brauchte, weil er damals berufsunfähig war und überdies eine Rente wegen Berufsunfähigkeit bezogen hat (§ 1264 RVO aF)". Er hat jedoch in seinem Urteil vom 9. Dezember 1965 erkennen lassen, daß seiner Meinung nach der Grundsatz des § 1264, Abs. 3 Satz 1 RVO aF in der Weise auf Art. 2 § 42 ArVNG entsprechend anzuwenden sei, daß ein erwerbsunfähiger und deswegen rentenberechtigter Versicherter nicht mindestens neun Monatsbeiträge zu entrichten brauche, um die Durchführung der Vergleichsberechnung für seine Hinterbliebenen zu sichern. Der erkennende Senat hat (im Anschluß an BSG 13, 275) in dem Urteil vom 4. Mai 1965 - 11/1 RA 174/63 - noch die Auffassung vertreten, daß die Berufsunfähigkeit, die nicht zur Rentengewährung geführt hat, das Recht auf die Vergleichsberechnung nach Art. 2 § 41 Satz 2 AnVNG nicht erhalte; in diesem Falle hat es allerdings bei Eintritt der Berufsunfähigkeit schon an sonstigen Voraussetzungen des Rentenanspruchs gefehlt. Der Senat hält jedoch nach erneuter Prüfung der Sach- und Rechtslage die Auffassung, daß nur für "Rentner" und nicht auch für Versicherte, die durch den Eintritt des Versicherungsfalles rentenberechtigt geworden sind, das Recht auf die Vergleichsberechnung ohne weitere Beitragsleistung nach Art. 2 § 41 Satz 2 AnVNG erhalten bleibe, jedenfalls insoweit für zu eng, als es sich um die Erhaltung des Rechts auf die Vergleichsberechnung für die Hinterbliebenen-Renten handelt. Es kann insoweit keinen Unterschied machen, ob der Versicherungsfall in der Person des Versicherten zur Bewilligung einer Rente geführt hat oder ob trotz Vorliegens aller Voraussetzungen der Rentenberechtigung eine Rente noch nicht bewilligt worden ist, weil der Versicherte noch keinen Rentenantrag gestellt hat. Wenn auf die Regelung des Art. 2 § 41 Satz 2 AnVNG der Grundsatz des früheren Anwartschaftsrechts (des § 1264 Abs. 3 RVO aF) sinngemäß anzuwenden ist, muß der Eintritt eines Versicherungsfalles, der die Rentenberechtigung begründet hat, genügen, um das Recht auf die Vergleichsberechnung zu erhalten; § 1264 Abs. 3 Satz 1 RVO aF knüpft die Erhaltung der Anwartschaft nicht an den Rentenbezug, sondern an den Eintritt des Versicherungsfalles. Im vorliegenden Fall hatte der Versicherte bereits mit dem Eintritt seiner Berufsunfähigkeit im Jahre 1958 das Recht auf eine Rente, und zwar auf eine nach Art. 2 § 41 Satz 1 AnVNG zu berechnende Rente erworben.
Der Anwendung der alten Anwartschaftsgrundsätze im Rahmen des Art. 2 § 41 AnVNG steht auch nicht entgegen, daß nur der Bezug des Altersruhegeldes - nicht schon die Erreichung der Altersgrenze - die Fortsetzung des Versicherungsverhältnisses ausschließt; nur Bezieher von Altersruhegeld können keine Beiträge mehr leisten, vgl. §§ 1229 Abs. 1 Nr. 1, 1233 Abs. 1 Satz 2 RVO = §§ 6 Abs. 1 Nr. 1, 10 Abs. 1 Satz 2 AVG; nach Eintritt der Berufsunfähigkeit oder der Erwerbsunfähigkeit ist der Versicherte - auch bei Rentenbezug - nicht gehindert, noch Pflichtbeiträge und - sofern die Voraussetzungen der Weiterversicherung nach § 10 Abs. 1 Satz 1 AVG = § 1233 Abs. 1 Satz 1 RVO erfüllt sind - auch freiwillige Beiträge zur Anrechnung für das Altersruhegeld und die Hinterbliebenenrente zu entrichten; auf die rechtliche Möglichkeit, weitere Beiträge zu entrichten, kann es jedoch bei sinngemäßer Anwendung des § 1264 Abs. 3 RVO nicht ankommen; vielmehr ist insoweit entscheidend, daß von einem Versicherten, der eine so erhebliche Einbuße an seiner Erwerbsfähigkeit erlitten hat, daß er rentenberechtigt geworden ist, eine Beitragsleistung im Sinne des Art. 2 § 41 Satz 2 AnVNG nicht mehr erwartet wird (vgl. auch das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 26. Januar 1962 - Breithaupt 52, 138; Urteil des erkennenden Senats vom 5. März 1965, BSG 22, 278, 283).
Die Revision ist sonach begründet. Das Urteil des LSG ist aufzuheben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG ist zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Auf den nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist eingereichten "Hilfsantrag" der Klägerin, die Sache zur nochmaligen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Rententeilung an das LSG zurückzuverweisen, hat das BSG schon deshalb nicht einzugehen brauchen, weil die Klägerin mit ihrem Hauptantrag Erfolg gehabt hat (vgl. auch BSG 17, 56).
Fundstellen