Entscheidungsstichwort (Thema)
Rentenentziehung. gesetzlich normierter Entziehungstatbestand
Orientierungssatz
Bei RVO § 1293 Abs 2 aF iVm SVD 3 handelt es sich nicht um die Einräumung eines Ermessens an den Versicherungsträger, sondern um die gesetzliche Verpflichtung zur Entziehung einer Rente bei Vorliegen des gesetzlich normierten Sachverhalts; es ist in jeder Lage des Verfahrens von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit im Rahmen pflichtgemäßer Rechtsanwendung zu prüfen, ob ein entsprechender Tatbestand gegeben ist.
Normenkette
RVO § 1293 Abs. 2; SVD 3
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 19.06.1957) |
SG Lüneburg (Entscheidung vom 29.05.1956) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 19. Juni 1957 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Der 1901 geborene Kläger bezog seit dem 12. Juli 1954 Invalidenrente von der Beklagten, die auf Grund ärztlicher Gutachten vorübergehende Invalidität angenommen hatte.
Durch Bescheid vom 26. April 1955 entzog die Beklagte dem Kläger diese Rente mit Ablauf des Monats Mai 1955 wieder; zur Begründung verwies sie auf § 1293 der Reichsversicherungsordnung a.F. (RVO). Nach den von ihr zugrunde gelegten ärztlichen Gutachten könne der Kläger alle leichteren bis mittelschweren Arbeiten verrichten und sei daher wieder fähig, die gesetzliche Lohnhälfte zu verdienen; er sei nicht mehr invalide.
Das Landessozialgericht in Lüneburg wies die gegen diesen Bescheid erhobene Klage durch Urteil vom 29. Mai 1956 ab; es hält die Rentenentziehung bei dem Kläger, den es nach dem Ergebnis der weiteren Beweiserhebung nicht als invalide ansieht, nach § 1293 Abs. 2 RVO in Verbindung mit der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 3 für gerechtfertigt.
Auch die von dem Kläger an das Landessozialgericht Celle eingelegte Berufung führte zu keinem anderen Ergebnis; nach weiterer Beweiserhebung wies das Landessozialgericht durch das angefochtene Urteil die Berufung zurück.
Es vertritt die Auffassung, daß sich der Eintritt einer wesentlichen Änderung des zur Invalidität führenden Befundes nicht feststellen lasse, so daß die Rentenentziehung auf § 1293 Abs. 1 RVO a.F. nicht gestützt werden könne.
In Abweichung von der Auffassung des Bundessozialgerichts in dessen Urteil vom 23. August 1956 (BSG. 3 S. 209) hält das Landessozialgericht an seiner schon früher vertretenen Auffassung fest, daß § 1293 Abs. 2 RVO a.F. - den es in Übereinstimmung mit dem Bundessozialgericht für die in Frage kommende Zeit in Verbindung mit der SVD Nr. 3 als geltendes Recht betrachtet - keine Ermessensentscheidung des Versicherungsträgers begründet, sondern den Versicherungsträger bei Vorliegen seiner Voraussetzungen zur Rentenentziehung verpflichtet. Unter diesen Umständen entfällt nach Ansicht des Landessozialgerichts auch die Notwendigkeit eines Vorverfahrens nach § 79 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Zur Begründung dieser Auffassung im einzelnen nimmt der erkennende Senat des Landessozialgerichts Bezug auf seine "grundsätzliche Entscheidung... vom 27.3.1957 in Sachen D... ./. LVA. Braunschweig - L 2 J - 282/56".
Auf Grund der gesamten Unterlagen und der noch erhobenen Beweise sieht das Landessozialgericht als erwiesen an, daß die Erwerbsbeeinträchtigung des Klägers weder zur Begründung von Invalidität im Sinne des § 1254 RVO a.F. noch zur Begründung von Berufsunfähigkeit im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO n.F. ausreicht. Das Landessozialgericht hat daher die Rentenentziehung für gerechtfertigt angesehen; es hat wegen seiner Abweichung von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts die Revision zugelassen.
Gegen das am 4. Juli 1957 zugestellte Urteil hat der Kläger unter Antragstellung am 27. Juli 1957 Revision eingelegt und diese gleichzeitig begründet.
Er rügt als Rechtsverletzung, daß das Landessozialgericht den § 1293 Abs. 2 RVO a.F. angewandt habe. Die Auffassung des Landessozialgerichts, eine Entziehung nach dieser Vorschrift stelle keine Ermessensentscheidung des Versicherungsträgers dar, sei unrichtig, wie das angezogene Urteil des Bundessozialgerichts und dessen früheres Urteil vom 9. Februar 1956 (BSG. 2 S. 188) ergäben. Gehe man demnach davon aus, daß § 1293 Abs. 2 RVO a.F. eine Ermessensentscheidung vorschreibe, so fehle es bereits an dem nach § 79 Nr. 1 SGG vorgeschriebenen Vorverfahren.
Selbst wenn jedoch eine Rentenentziehung auch von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit auf § 1293 Abs. 2 RVO a.F. gestützt werden könne, habe der Kläger im vorliegenden Falle auf die Einbeziehung dieser Bestimmungen in die Erörterungen nach dem bisherigen Verfahrensverlauf nicht zu rechnen brauchen; ein Nachschieben von Gründen sei insoweit unstatthaft.
Ferner rügt er das Vorliegen eines wesentlichen Mangel des Verfahrens, den er darin erblickt, daß dem Urteil wegen seiner Bezugnahme auf ein in einer anderen Sache ergangenes Urteil statt eigener Begründung die erforderlichen Entscheidungsgründe fehlten (§§ 128, 136 SGG).
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des Sozialgerichts Lüneburg auf den Klageantrag zu erkennen, hilfsweise die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen und der Beklagten die außergerichtlichen Kosten aufzuerlegen.
Die Beklagte beantragt,
Zurückweisung der Revision.
Sie bezieht sich im wesentlichen auf das angefochtene Urteil, das sie für überzeugend hält.
Beide Parteien sind auf den Beschluß des erkennenden Senats vom 26. März 1958 - 4 RJ 274/56 - hingewiesen worden; dieser Hinweis hat sie veranlaßt, sich mit einer Entscheidung der Sache ohne mündliche Verhandlung einverstanden zu erklären.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist frist- und formgerecht eingelegt; sie ist vom Landessozialgericht zugelassen und daher statthaft. Die Revision ist jedoch nicht begründet.
Der erkennende Senat hat in seinem Beschluß vom 26. März 1958 - 4RJ 274/56 - ausführlich dargelegt, daß es sich bei einem nach § 1293 Abs. 2 RVO a.F. in Verbindung mit der SVD Nr. 3 erlassenen Rentenentziehungsbescheid nicht um eine Ermessensentscheidung des Versicherungsträgers handelt und daher ein Vorverfahren stattzufinden habe. Das Bundessozialgericht (1. und 3. Senat) hat seine entgegenstehende Rechtsprechung, auf die der Kläger sich in erster Linie stützt, aufgegeben, wie sich aus jenem Beschluß gleichfalls ergibt. Der Senat konnte daher unbedenklich auch im vorliegenden Falle seine dort entwickelten Grundsätze anwenden.
Handelt es sich demnach bei der fraglichen Bestimmung nicht um die Einräumung eines Ermessens an den Versicherungsträger, sondern um die gesetzliche Verpflichtung zur Entziehung einer Rente bei Vorliegen des gesetzlich normierten Sachverhalts, so ist in jeder Lage des Verfahrens von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit im Rahmen pflichtgemäßer Rechtsanwendung zu prüfen, ob ein entsprechender Tatbestand gegeben ist. Unter diesen veränderten Umständen entfällt die Rüge, das Landessozialgericht habe den § 1293 Abs. 2 RVO a.F. nicht anwenden dürfen. Anders, als es das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 23. August 1956 folgerichtig annehmen mußte, entfällt dann, wenn nicht mehr durch den Übergang von einer rechtlichen Verpflichtung zu einer bloßen Ermessensmöglichkeit der Wesensgehalt des angefochtenen Aktes sich ändert und daher die Rechtsverteidigung beim "Nachschieben" derartiger Rechtsgründe erschwert werden kann, jeder ersichtliche Grund zu einer Beanstandung des Verfahrens.
Einer Entscheidung, ob der außerdem gerügte Verfahrensmangel vorliegt, bedurfte es im vorliegenden Fall, in dem die Revision zugelassen ist, nicht; auch wenn das Verfahren fehlerhaft wäre - ein unbedingter Revisionsgrund nach §§ 551 Nr. 7 ZPO in Verbindung mit 202 SGG ist jedenfalls nicht gegeben -, so kann doch nicht angenommen werden, daß das angefochtene Urteil irgendwie auf diesem Mangel beruhte.
Die Entscheidung des Landessozialgerichts erweist sich demnach als rechtlich zutreffend.
Die Revision war daher nach § 170 Abs. 1 in Verbindung mit § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung zurückzuweisen; die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen