Entscheidungsstichwort (Thema)
Kostenerstattung bei selbstbeschaffter Heilbehandlung. unterstellte rechtswidrige Verweigerung der Heilbehandlungsmaßnahme. Reittherapie. unzulässige Rechtsausübung
Leitsatz (amtlich)
Eine vom Berechtigten selbst durchgeführte Heilbehandlung verpflichtet die Verwaltung zum Aufwendungsersatz, wenn im Erstattungsverfahren festgestellt wird, daß sie sich auch bei rechtzeitiger Inanspruchnahme rechtswidrig geweigert hätte, diese Sachleistung zu erbringen (Fortführung von BSG 14.12.1982 8 RK 23/81 = SozR 2200 § 182 Nr 86).
Orientierungssatz
1. Das therapeutische Reiten ist der in § 11 Abs 1 S 1 Nr 3 BVG genannten Heilbehandlungsart "Bewegungstherapie" zuzuordnen; die Leistungsvoraussetzungen sind in analoger Anwendung des § 182 Abs 2 RVO zu prüfen (vgl BSG vom 7.11.1979 9 RVi 2/78 = SozR 3100 § 11 Nr 13).
2. Nach dem Grundsatz der unzulässigen Rechtsausübung, der auch für den Bereich des Sozialrechts gilt, ist die Ausübung einer Rechtsmacht unzulässig, wenn sie nicht mehr im Rahmen der rechtsethischen und sozialen Funktion des Rechts liegt und somit nurmehr formale, nicht aber sachliche Rechtsausübung ist (vgl BSG vom 7.11.1979 9 RVg 2/78 = BSGE 49, 104, 111 = SozR 3800 § 2 Nr 1). Aufgrund des Sozialrechtsverhältnisses besteht für die Verwaltung die Rechtspflicht sicherzustellen, daß die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden (§ 2 Abs 2 Halbs 2 SGB 1). Kommt sie diesem Gebot nicht nach, muß sie mangels einer zur Verfügung gestellten Sachleistung dem Berechtigten die notwendig gewordenen Aufwendungen ersetzen. Der Berechtigte ist so zu stellen, als ob er die nach dem Gesetz ihm zustehende Leistung rechtzeitig erhalten hätte.
Normenkette
BVG § 11 Abs 1 S 1 Nr 3, § 18 Abs 2 S 1; RVO § 182 Abs 2; SGB 1 § 2 Abs 2 Halbs 2; SGG § 51 Abs 1
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 11.08.1983; Aktenzeichen L 9 Vi 1/80) |
SG Braunschweig (Entscheidung vom 25.08.1978; Aktenzeichen S 1 V 164/76) |
Tatbestand
Die Klägerin macht Kostenerstattung für die in der Zeit vom 17. Januar 1974 bis 30. August 1975 durchgeführte Reittherapie in Höhe von 720,00 DM geltend.
Sie bezieht Versorgung wegen des nach dem Bundesseuchengesetz (BSeuchG) anerkannten Impfschadens "Hirnschädigung nach Pockenimpfung". Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) war zunächst auf 50 bzw 40 vH festgesetzt und beträgt mit Abhilfe - und Ergänzungsbescheid des Versorgungsamtes München I vom 14. April 1976 - ab 1. April 1974 80 vH.
Die Klägerin teilte der Versorgungsbehörde am 20. April 1974 mit, daß sie am therapeutischen Reiten teilnehme. Das Versorgungsamt forderte sie daraufhin um Zusendung einer ärztlichen Verordnung und Begründung auf, da erst nach versorgungsärztlicher Stellungnahme eine Entscheidung über die Kostenübernahme getroffen werden könne. Diesem Ansinnen kam die Klägerin erst mit Schreiben vom 12. September 1975 nach. Sie verlangte Erstattung der verauslagten Kosten für die ärztlich verordnete Reittherapie und fügte eine ärztliche Bescheinigung des Dr. H vom 14. August 1974 bei.
Das Versorgungsamt lehnte mit Bescheid vom 30. Oktober 1975 eine Kostenerstattung für das therapeutische Reiten ab. Zur Begründung wird ua angeführt, die Reittherapie sei keine Kassenleistung. In dem ablehnenden Widerspruchsbescheid vom 1. Juli 1976 macht die Versorgungsverwaltung außerdem geltend, die Reittherapie werde von der in § 11 Abs 1 S 1 Nr 3 Bundesversorgungsgesetz (BVG) genannten Heilbehandlungsmaßnahme nicht erfaßt. Zudem stünde der Kostenübernahme das Gebot des § 182 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) entgegen.
Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben. Auf die zugelassene Sprungrevision der Beklagten hat der 9. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) mit Urteil vom 7. November 1979 (BSG SozR 3100 § 11 Nr 13) das Urteil des SG aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht (LSG) zurückverwiesen. Es hat hierzu ua ausgeführt: Bei der Reittherapie könne es sich um eine "ausreichende und zweckmäßige, das Maß des Notwendigen nicht überschreitende" Heilbehandlungsmaßnahme iS des § 11 Abs 1 S 1 Nr 3 BVG handeln. Folglich bedürfe es in analoger Anwendung der in § 182 Abs 2 RVO enthaltenen Rechtsgrundsätze einer sorgfältigen konkret auf den Impfschaden der Klägerin abgestellten Prüfung, ob und ggf inwieweit die Leistungsvoraussetzungen gegeben seien. Da die Klägerin die Heilbehandlung aber selbst gewählt habe, sei zusätzlich zu prüfen, ob unvermeidbare Umstände die Inanspruchnahme der Krankenkasse bzw der Versorgungsbehörde unmöglich gemacht hätten.
Das LSG hat die Klage abgewiesen, da es nicht gerechtfertigt gewesen sei, die Heilbehandlung selbst zu wählen; unvermeidbare Umstände iS des § 18 Abs 2 Satz 1 BVG hätten nicht vorgelegen.
Mit der - vom erkennenden Senat zugelassenen - Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 18 Abs 2 BVG. Sie meint, die selbst beschaffte Heilbehandlung stünde einer Kostenerstattung nicht entgegen, weil sie ihr rechtswidrig verweigert worden sei.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und den Rechtsstreit an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist im Sinne der Zurückverweisung begründet. Der Klägerin ist entgegen der Meinung des Berufungsgerichts Kostenerstattung nicht deswegen zu versagen, weil sie die Heilbehandlung beschafft hat, ohne sie zuvor zu beanspruchen.
Die Verpflichtung der Versorgungsverwaltung, Heilbehandlung als Sachleistung zu erbringen, ist zwar gegenstandslos geworden, weil die Klägerin sich der Reittherapie unterzogen hat, ohne diese zuvor als Sachleistung zu beanspruchen. In einem solchen Fall der selbstgewählten Heilbehandlung ist der Leistungsträger nicht schlechthin von seiner Leistungspflicht befreit. Er hat vielmehr abweichend von dem im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung herrschenden Prinzip der Sachleistung, das auch nach dem BVG gilt (BSG SozR 3100 § 18 Nr 3; SozR 3100 § 11 Nr 13), die Heilbehandlungskosten zu erstatten, wenn seine Inanspruchnahme infolge unabwendbarer Umstände unmöglich war (§ 18 Abs 2 Satz 1 BVG idF des 3. AnpG-KOV vom 16. Dezember 1971 - BGBl I 1985 -). Die Durchbrechung des Sachleistungsprinzips kommt dem Berechtigten jedoch nach dieser Vorschrift nur zugute, wenn besondere Gründe, die - naturgemäß vom Inhaber des Anspruchs ausgehend - die Inanspruchnahme von Sachleistungen verhindert haben. Der Wortlaut sowie die Entstehungsgeschichte machen dies deutlich. Nach der Begründung zum Regierungsentwurf (BT-Drucks VI 2648 S 8 zu Nr 8 des Entwurfs eines 3. Anpassungsgesetzes-KOV -AnpG-KOV) sollte die als "äußerst formal und streng" erwiesene (Vorgänger-) Vorschrift erweitert werden; "zwingende Gründe" hätten nach der bisherigen Bestimmung nur vorgelegen, wenn es sich um Umstände handelte, die sofortige Maßnahmen erforderten und es ausschlossen, daß der Berechtigte sich vor Einleitung der Behandlungsmaßnahme mit der Krankenkasse oder der Verwaltungsbehörde in Verbindung setzte. Solche der Sphäre der Klägerin zurechenbaren Umstände, die der Erstattungsanspruch nach § 18 Abs 2 Satz 1 BVG - wie ausgeführt - voraussetzt, liegen nicht vor. Die Klägerin hat um Bewilligung der Reittherapie während der Durchführung dieser Heilmaßnahme nachgesucht; sie hat eine Entscheidung der Verwaltung hierüber nicht abgewartet, vielmehr die Heilbehandlung weiterhin betrieben und erst nach Abschluß derselben die Erstattung der Kosten begehrt.
Gleichwohl ist der Beklagte nicht berechtigt, der Klägerin die Kostenerstattung vorzuenthalten, vorausgesetzt, der Klägerin steht Heilbehandlung in Form der Reittherapie zu (§ 10 Abs 1 Satz 1, § 11 Abs 1 Satz 1 Nr 3 und Satz 5 BVG iVm § 182 Abs 2 Reichsversicherungsordnung -RVO-), was das LSG noch zu prüfen haben wird. Denn unabhängig von einer rechtzeitigen "Inanspruchnahme" der Versorgungsbehörde wäre das Begehren der Klägerin erfolglos geblieben. Der Beklagte hat die Sachleistung nicht nur im Verwaltungsverfahren, sondern auch noch im vorangegangenen Revisionsverfahren als eine Heilbehandlungsmaßnahme bewertet, zu deren Durchführung er gesetzlich nicht verpflichtet sei. Demgegenüber hat der 9. Senat des BSG in seinem Urteil vom 7. November 1979 (aaO) das therapeutische Reiten der in § 11 Abs 1 Satz 1 Nr 3 BVG genannten Heilbehandlungsart "Bewegungstherapie" zugeordnet und dem LSG aufgetragen, die Leistungsvoraussetzungen in analoger Anwendung des § 182 Abs 2 RVO zu prüfen. Bei dieser Sachlage, die dem Verhalten des Beklagten zuzurechnen ist, also gerade nicht auf den Berechtigten abstellt, wie dies § 18 Abs 2 Satz 1 BVG fordert, wäre es entgegen der Meinung des LSG unzumutbar, von der Klägerin eine rechtzeitige Antragstellung zu verlangen; der Antrag wäre - wie ausgeführt - ohnehin abgelehnt worden. Bei dieser Fallgestaltung ist die Verwaltung nach den durch § 131 Abs 1 Satz 1 SGG (in der Fassung bis zum Inkrafttreten des Staatshaftungsgesetzes vom 26. Juni 1981 - BGBl 553 -, das jedoch verfassungswidrig und nichtig ist: BVerfGE 61, 149 f) im Kern auch gesetzlich anerkannten Grundsätzen zur Beseitigung des rechtswidrigen oder Herstellung des rechtmäßigen Zustandes verpflichtet. Anstelle einer nicht mehr erfüllbaren Naturalrestitution - hier Reittherapie - ist Aufwendungsersatz für die selbstbeschaffte Heilbehandlung zu leisten (BSGE 53, 273, 276 = SozR 2200 § 182 Nr 82).
Eine solche Art Kostenerstattung anstelle einer Sachleistung hat die Rechtsprechung schon bisher, und zwar nicht nur in sogenannten Notfällen, in denen also Krankenpflege durch einen Kassenarzt nicht rechtzeitig erlangt werden konnte, zugestanden (BSGE 34, 172, 174 = SozR Nr 6 zu § 368d RVO; SozR 2200 § 194 Nr 5). Es hat eine Ersatzleistung ebenso für gerechtfertigt gehalten, wenn die Verwaltungsbehörde sich rechtswidrig geweigert hatte, Sachleistungen zu erbringen, und dadurch der Berechtigte gezwungen wurde, sich die Heilbehandlung selbst zu beschaffen (BSG SozR 3100 § 18 Nr 6; BSGE 35, 10, 14 = SozR Nr 52 zu § 182 RVO; BSGE 53, 273, 277). Auch ist die Pflicht zur Kostenübernahme bejaht worden, wenn der Berechtigte nicht versucht hat, eine Sachleistung zu erlangen, von vornherein aber festgestanden hat, daß ihm diese von der Verwaltungsbehörde verweigert würde (BSG SozR 2200 § 182 Nr 86). Dazu hat der 8. Senat ausgeführt, es wäre eine unnötige und sachwidrige Erschwerung, wollte man einem Versicherten, der Krankenbehandlung bedürfe, zumuten, sich um die Leistungen zu bemühen, wenn dieses Bemühen von vornherein aussichtslos sei; dieses "rechtswidrige Verhalten" der Krankenkasse zwinge den Versicherten, sich die Krankenpflegeleistung selbst zu beschaffen.
Damit hat sich die Rechtsprechung den Grundsatz der unzulässigen Rechtsausübung zu eigen gemacht, der auch für den Bereich des Sozialrechts gilt. Nach diesem allgemeinen Rechtsgedanken ist die Ausübung einer Rechtsmacht unzulässig, wenn sie nicht mehr im Rahmen der rechtsethischen und sozialen Funktion des Rechts liegt und somit nurmehr formale, nicht aber sachliche Rechtsausübung ist (BSGE 49, 104, 111 = SozR 3800 § 1 Nr 1). Aufgrund des Sozialrechtsverhältnisses besteht für die Verwaltung die Rechtspflicht sicherzustellen, daß die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden (§ 2 Abs 2 Halbsatz 2 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - SGB I). Kommt sie diesem Gebot nicht nach, muß sie mangels einer zur Verfügung gestellten Sachleistung dem Berechtigten die notwendig gewordenen Aufwendungen ersetzen. Der Berechtigte ist also so zu stellen, als ob er die nach dem Gesetz ihm zustehende Leistung rechtzeitig erhalten hätte.
Der unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt der Klägerin gegebenenfalls zustehende Kostenerstattungsanspruch ist kein Schadensersatzanspruch, der vor den Zivilgerichten geltend gemacht werden müßte. Es handelt sich hier um einen öffentlich-rechtlichen Geldanspruch, der aus dem Sozialrechtsverhältnis erwächst. Dafür sind die Sozialgerichte zuständig (BSGE 53, 273, 277 mwN).
Das Berufungsgericht wird nunmehr nach dem mit Urteil des 9. Senats vom 7. November 1979 (aaO) vorgegebenen Beurteilungsmaßstab weitere Feststellungen zu treffen und auch über die Kosten dieses Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen