Leitsatz (amtlich)
Hat der Versicherungsträger einen bindend gewordenen Ablehnungsbescheid nach RVO § 627 (RVO § 1300) aufgehoben, so ist damit auch die die Unterbrechung der Verjährung beendende Wirkung des Ablehnungsbescheides mit der Folge beseitigt, daß die durch die Rentenantragstellung eingetretene Unterbrechung der Verjährung jedenfalls dann weiterläuft, wenn der Versicherte während der Zeit von dem Eintritt der Bindungswirkung des ablehnenden Bescheids bis zur Einleitung des Verfahrens nach RVO § 627 noch keinen Anlaß hatte, ein Neufeststellungsverfahren nach RVO § 627 (RVO § 1300) zu betreiben.
Leitsatz (redaktionell)
Die Verjährungsfrist des RVO § 29 Abs 3 beginnt mit der Entstehung des Anspruchs. Für die Sozialversicherung gelten die bürgerlich-rechtlichen Vorschriften über die Unterbrechung der Verjährung entsprechend.
Normenkette
RVO § 29 Abs. 3, § 627 Fassung: 1963-04-30, § 1300 Fassung: 1957-02-23; BGB § 211 Abs. 2 Fassung: 1896-08-18, §§ 209, 212 Fassung: 1896-08-18
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 9. Mai 1973 wie folgt geändert: Die Beklagte wird unter Änderung ihres Bescheides vom 27. März 1973 verurteilt, die Verletztenrente in gesetzlicher Höhe auch für die Zeit vor dem 27. Januar 1965 zu zahlen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte gegen den Anspruch auf Verletztenrente wegen Silikose, den die Klägerin nach dem Tode ihres Ehemanns als dessen Sonderrechtsnachfolgerin geltend macht, für die Zeit vor dem 27. Januar 1965 mit Recht die Einrede der Verjährung erhebt.
Der Ehemann der Klägerin hatte bereits im Juni 1959 bei der Beklagten nach dem Vorliegen einer ärztlichen Anzeige angefragt und am 8. März 1960 beantragt, ihm Verletztenrente wegen Vorliegens einer entschädigungspflichtigen Silikose zu gewähren. Den ablehnenden Bescheid vom 24. November 1960 hatte er mit der Klage angefochten, die er jedoch am 15. Mai 1962 zurückgenommen hatte.
Nachdem am 27. Januar 1969 eine Anzeige des behandelnden Arztes über das Vorliegen einer Silikose eingegangen war, lehnte die Beklagte die Verletztenrente erneut mit Bescheid vom 25. November 1969 ab. Die Klage hatte keinen Erfolg. Während des Berufungsverfahrens starb der Ehemann der Klägerin am 29. September 1971. Die Klägerin, die mit ihrem Ehemann bis zu seinem Tode in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat, nahm das unterbrochene Berufungsverfahren auf. Die Beklagte stellte aufgrund des Obduktionsbefundes mit Bescheid vom 27. März 1973 fest, der Ehemann der Klägerin habe an einer Berufskrankheit (Silikose) gelitten. Als Beginn dieser Krankheit gelte der 12. Januar 1959. Der Rentenbeginn wurde auf den 27. Januar 1965 festgestellt, weil der Anspruch für die Zeit vorher verjährt sei. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Klage gegen diesen Bescheid abgewiesen. Es hat angenommen, der während des Berufungsverfahrens nach § 627 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ergangene Neufeststellungsbescheid sei nach § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden. Er sei rechtmäßig, obwohl die Beklagte sich davon überzeugt habe, daß der Ehemann der Klägerin bereits seit dem 12. Januar 1959 an einer entschädigungspflichtigen Silikose gelitten und einen entsprechenden Anspruch auf Verletztenrente gehabt habe. Der Anspruch sei für die Zeit vor dem 27. Januar 1965 nach § 29 Abs. 3 RVO verjährt. Die Beklagte habe sich auch auf die Verjährung berufen dürfen. Insbesondere verstoße die Erhebung der Verjährungseinrede nicht gegen die Grundsätze von Treu und Glauben. Die Beklagte habe zu keiner Zeit die notwendigen Ermittlungen unterlassen. Da die Sachverständigen zu Lebzeiten des Ehemannes der Klägerin das Vorliegen einer entschädigungspflichtigen Silikose verneint hätten, falle die unrechtmäßige Ablehnung der Verletztenrente nicht in den Verantwortungsbereich der Beklagten. Die Unkenntnis des Ehemanns der Klägerin von dem Bestehen des Anspruchs und über die Verjährungsvorschriften müsse unbeachtet bleiben.
Die Klägerin hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Sie ist der Ansicht, es könne ihr nicht zum Nachteil gereichen, daß zu Lebzeiten ihres Ehemannes das Vorliegen einer entschädigungspflichtigen Silikose nicht nachweisbar gewesen sei. Die Beklagte wäre verpflichtet gewesen, in den Jahren 1964 oder 1965 auch ohne einen Antrag des Ehemanns der Klägerin von Amts wegen tätig zu werden. Ihr habe eine ärztliche Anzeige über den Verdacht einer entschädigungspflichtigen Silikose aus dem Jahre 1960 vorgelegen und das damalige Verfahren sei nur mangels Beweises beendet worden. Es widerspreche dem Grundsatz von Treu und Glauben, in einer solchen Situation dem Versicherten Untätigkeit vorzuwerfen, obwohl der Versicherungsträger hätte tätig werden müssen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG vom 9. Mai 1973 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 2. März 1973 zu verurteilen, Verletztenrente wegen Silikose gemäß einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 v.H. vom 13. Januar 1959 bis zum 6. Mai 1962 und ab 7. Mai 1962 gemäß einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 v.H. zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision der Klägerin sei unbegründet.
II
Die zulässige Revision der Klägerin hat Erfolg. Das LSG hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Die Klägerin, die nach § 630 RVO berechtigt war, sowohl das unterbrochene Berufungsverfahren aufzunehmen als auch den Anspruch ihres verstorbenen Ehemannes im eigenen Namen geltend zu machen, kann von der Beklagten die Zahlung der Verletztenrente für die streitige Zeit verlangen.
Das LSG hat es mit Recht unterlassen, eine Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des ursprünglich angefochtenen Bescheides vom 25. November 1969 zu treffen. Dieser Bescheid ist nämlich während des Berufungsverfahrens durch den Bescheid vom 27. März 1973 ersetzt worden, der gemäß § 96 SGG erstinstanzlich Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden ist (vgl. SozR Nr. 17 zu § 96 SGG).
Der nunmehr angefochtene Bescheid vom 27. März 1973 hat - auch wenn er das nicht ausdrücklich ausspricht - sowohl den bindend gewordenen Bescheid vom 24. November 1960 als auch den ursprünglich angefochtenen Bescheid vom 25. November 1969 aufgehoben. Das geht daraus hervor, daß die Beklagte den Beginn der Berufskrankheit im Gegensatz zu den ablehnenden Bescheiden auf den 12. Januar 1959 festgesetzt und das Bestehen eines Anspruchs bejaht hat. Zwar hält sie für die Zeit bis zum 27. Januar 1965 wegen der nach ihrer Ansicht eingetretenen Verjährung im Ergebnis an ihrer ablehnenden Haltung fest. Das ändert aber nichts daran, daß die ablehnenden Bescheide jedenfalls hinsichtlich des Bestehens des Anspruchs und des Beginns der Berufskrankheit nicht mehr aufrechterhalten werden. Die - damit beseitigte - Bindungswirkung des Bescheides vom 24. November 1960 steht deshalb auch nicht mehr der Entscheidung entgegen, daß ein Anspruch auf Verletztenrente wegen Silikose besteht. Geht man aber mit dem LSG und der Beklagten davon aus, daß der Ehemann der Klägerin bereits seit dem 12. Januar 1959 an einer entschädigungspflichtigen Berufskrankheit (Silikose) gelitten hat, so hatte er auch einen Anspruch auf die entsprechende Verletztenrente, was die Beklagte auch nicht bestreitet. Dieser Anspruch ist - im Gegensatz zu der Ansicht des LSG und der Beklagten - nicht nach § 29 Abs. 3 RVO verjährt.
Nach dieser Vorschrift verjähren Ansprüche auf Leistungen der Versicherungsträger in vier Jahren nach der Fälligkeit, soweit das Gesetz nichts anderes vorschreibt. Fällig ist ein Anspruch, wenn der Berechtigte die Erfüllung verlangen kann. Grundsätzlich tritt daher die Fälligkeit mit dem Entstehen des Anspruchs bzw. mit dem Entstehen der monatlichen Einzelansprüche ein (vgl. BSG 34, 1 = SozR Nr. 24 zu § 29 RVO). In der Unfallversicherung gelten insoweit keine Besonderheiten. Die bis zum 27. Januar 1965 - dem Tag des von der Beklagten festgestellten Rentenbeginns - entstandenen und fällig gewordenen monatlichen Einzelansprüche auf die Verletztenrente, die hier allein noch streitig sind, wären spätestens am 27. Januar 1969 - dem Tag der erneuten Anzeige einer Berufskrankheit - verjährt gewesen, wenn nicht die Verjährung unterbrochen wäre.
Die RVO enthält keine Vorschriften über die Unterbrechung der Verjährung; insoweit gelten daher die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) entsprechend. Da § 209 BGB nach § 220 Abs. 1 BGB auch für den Fall entsprechend anzuwenden ist, daß der Anspruch vor einer Verwaltungsbehörde geltend zu machen ist, hatte der - in der gesetzlichen Unfallversicherung nicht erforderliche - Antrag des Ehemannes der Klägerin auf Gewährung der Verletztenrente vom 8. März 1960 die noch nicht abgelaufene Verjährung unterbrochen. Diese Unterbrechung hatte jedoch nicht über den 15. Mai 1962 hinaus fortgedauert. Der Ehemann der Klägerin hatte an diesem Tage nämlich die Klage zurückgenommen, so daß der ablehnende Bescheid vom 24. November 1960 gemäß § 77 SGG bindend geworden war. Nach dem ebenfalls entsprechend anwendbaren § 211 Abs. 1 BGB dauert die durch die Antragstellung eingetretene Unterbrechung der Verjährung nur bis zur bindenden Entscheidung über den Anspruch oder bis zu der anderweitigen Erledigung des Verfahrens fort. Es kann hier dahingestellt bleiben, ob auch § 212 Abs. 1 BGB auf das sozialrechtliche Verwaltungsverfahren und das sozialgerichtliche Verfahren entsprechend anzuwenden ist. Diese Vorschrift geht davon aus, daß die Klagerücknahme nach § 271 Abs. 3 der Zivilprozeßordnung (ZPO) bewirkt, daß der Rechtsstreit als nicht anhängig geworden anzusehen ist, während sie im sozialgerichtlichen Verfahren nach § 102 SGG nur die Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache zur Folge hat. Selbst bei entsprechender Anwendung des § 212 Abs. 1 BGB wäre im vorliegenden Fall durch die Klagerücknahme nicht die Unterbrechung der Verjährung rückwirkend beseitigt worden. Mit der Klagerücknahme war vielmehr die Unterbrechung der Verjährung nach § 211 Abs. 1 BGB - zunächst - beendet.
Der Anspruch auf Verletztenrente für die streitige Zeit ist dennoch nicht verjährt. Die Beklagte hat nämlich mit dem Neufeststellungsbescheid vom 27. März 1973 den bindend gewordenen Bescheid vom 24. November 1960 rückwirkend zurückgenommen; damit ist dessen Bindungswirkung rückwirkend mit der Folge beseitigt, daß sie als nicht eingetreten gilt und die Unterbrechung der Verjährung also fortgedauert hat. Da durch § 627 RVO kein neuer materieller Anspruch begründet, sondern nur die Weiterverfolgung eines bereits früher erhobenen und zu Unrecht abgelehnten Anspruchs ermöglicht wird, besteht insoweit eine wesentliche Ähnlichkeit mit dem Wiederaufnahmeverfahren nach § 1744 RVO (vgl. BSG in SozR Nr. 3 zu § 619 RVO aF). Bei der Wiederaufnahme des Verfahrens soll aber grundsätzlich der Rechtszustand hergestellt werden, der ohne den Mangel des Aufnahmegrundes bestehen würde (vgl. Wieczorek, Komm. zur ZPO, 1957, Anm. A I zu § 583 und Anm. B II zu § 590). Die Aufhebung des rechtskräftig gewordenen Urteils im Wiederaufnahmeverfahren beseitigt das Urteil mit der rechtlichen Wirkung, wie wenn es nie ergangen wäre (vgl. Wieczorek, aaO, Anm. D II C 2 zu § 590). Auch bei einer Neufeststellung nach § 627 RVO wird die Bindungswirkung ex tunc beseitigt; der Neufeststellungsbescheid tritt in vollem Umfang, also auch zeitlich, an die Stelle des früheren Bescheides (vgl. BSG in SozR Nr. 1 zu § 1300 RVO). Die rückwirkende Aufhebung des bindenden Bescheides hat zur Folge, daß auch dessen die Unterbrechung der Verjährung beendende Wirkung der Bindung als nicht eingetreten gilt. Nach der Aufhebung des bindenden Bescheides gemäß § 627 RVO hat der Versicherungsträger erneut über einen geltend gemachten Anspruch zu entscheiden, der nicht verjährt ist, weil die die Verjährung unterbrechende Wirkung der früheren Geltendmachung mangels einer bindenden Entscheidung fortbesteht. Es spricht vieles dafür, den § 211 Abs. 2 BGB entsprechend anzuwenden, wenn der Berechtigte es unterläßt, nach der bindenden Ablehnung des Anspruchs eine Neufeststellung nach § 627 RVO zu betreiben, obwohl Anlaß dazu vorhanden gewesen wäre. Die Unterbrechung der Verjährung durch den früheren Antrag, die mit der Aufhebung des bindenden Ablehnungsbescheides weiterläuft, müßte dann nach § 211 Abs. 2 BGB doch als beendet angesehen werden, wenn der Berechtigte es unterlassen hat, eine ihm erkennbar gewordene Rechtswidrigkeit des bindenden Bescheides sobald wie möglich geltend zu machen. Diese Frage braucht im vorliegenden Fall jedoch nicht abschließend geprüft und entschieden zu werden, weil der Ehemann der Klägerin angesichts der bis zu seinem Tode fortdauernden Beweisschwierigkeiten ebenso wenig wie die Beklagte einen begründeten Anlaß hatte, ein Neufeststellungsverfahren nach § 627 RVO zu betreiben. Ist daher die durch die Geltendmachung des Anspruchs im März 1960 eingetretene Unterbrechung der Verjährung nicht beendet worden, so konnte die Verjährungsfrist nicht ablaufen; der Anspruch ist also für die streitige Zeit nicht verjährt.
Damit weicht der erkennende Senat nicht von der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ab. Zwar ist das BSG in mehreren Entscheidungen davon ausgegangen, daß bei der Neufeststellung einer Rente die Berücksichtigung der Verjährung nach § 29 Abs. 3 RVO nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist (vgl. SozR Nrn. 1, 5 und 11 zu § 1300 RVO). Davon geht auch der erkennende Senat aus, denn er läßt die Möglichkeit der Verjährung jedenfalls - wie bereits ausgeführt - für die Fälle in entsprechender Anwendung des § 211 Abs. 2 BGB zu, in denen der Berechtigte es nach der bindenden Ablehnung unterlassen hat, ein Neufeststellungsverfahren zu betreiben, obwohl Anlaß dazu bestanden hätte. Im übrigen ist in den zitierten Entscheidungen des BSG ausgeführt worden, daß die Berufung auf die Verjährungseinrede jedenfalls dann nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist, wenn die Neufeststellung nur die Höhe einer bereits gewährten Rente betrifft. Es ist also offen geblieben, ob die Verjährung eintreten kann, wenn es sich um die Neufeststellung einer vorher noch nicht gewährten Rente handelt. Die erwähnten Urteile stehen also der Entscheidung des erkennenden Senats nicht entgegen.
Der Senat hat auf die begründete Revision der Klägerin das angefochtene Urteil geändert und die Beklagte zur Zahlung der Verletztenrente für die streitige Zeit verurteilt. Dem erstmalig in der Revisionsinstanz gestellten Antrag der Klägerin, einen bestimmten Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit festzusetzen, konnte mangels entsprechender Feststellungen des LSG nicht entsprochen werden. Einer Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG bedurfte es indessen nicht, weil der Rechtsstreit im Sinne eines Grundurteils nach § 130 SGG entscheidungsreif ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen