Leitsatz (amtlich)
In den bei Inkrafttreten des ArVNG vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit schwebenden Fällen ist ArVNG Art 2 § 24 nicht anzuwenden. Die Entscheidung, ob der Versicherungsträger die auf Grund einer vor dem 1957-01-01 eingetretenen Invalidität gewährte Invalidenrente vor dem 1957-01-01 zu Recht entzogen hat, richtet sich daher noch nach RVO § 1293 (Fassung: 1934-05-17).
Normenkette
RVO § 1293 Fassung: 1934-05-17; ArVNG Art. 2 § 24 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 28. November 1957 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Der 1921 geborene Kläger hat von 1937 bis 1940 das Zimmererhandwerk erlernt. Anschließend leistete er Kriegsdienst und wurde am 19. Januar 1944 verwundet. Er erhält eine Versorgungsrente in Höhe von 70 v.H. In der Invalidenversicherung hat er 161 Beitragswochen zurückgelegt. Von 1944 bis 1950 erhielt er Invalidenrente. Auf seinen Antrag vom September 1951 gewährte ihm die Beklagte erneut die Invalidenrente ab 1. Oktober 1951.
Anläßlich einer Nachuntersuchung im Januar 1955 stellte Dr. M. eine Besserung fest und meinte, der Kläger könne wieder mit leichten bis mittelschweren Arbeiten belastet werden. Daraufhin entzog die Beklagte die Rente durch Bescheid vom 21. Januar 1955 mit Wirkung vom 1. März 1955 an.
Die gegen diesen Bescheid erhobene Klage wies das Sozialgericht, nachdem auch der gerichtliche Sachverständige Dr. G. zu dem Ergebnis gekommen war, daß dem Kläger wieder eine Arbeitsvorrichtung zugemutet werden könne, durch Urteil vom 16. Juli 1956 ab.
Gegen dieses Urteil legte der Kläger Berufung ein. Dr. A. vertrat die Auffassung, der Kläger könne als Zimmermann nicht mehr tätig sein, aber noch leichtere, vorwiegend im Sitzen auszuführende Arbeiten verrichten. Professor Dr. L. schloß sich dieser Meinung an. Das Landessozialgericht hob durch Urteil vom 28. November 1957 das Urteil des Sozialgerichts und den Entziehungsbescheid der Beklagten auf und verurteilte diese, dem Kläger Invalidenrente über den 28. Februar 1955 hinaus bis zum 31. Dezember 1956 weiterzuzahlen und ihm ab 1. Januar 1957 die umgestellte Arbeiterrente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren. Es ließ die Revision zu. Nach Art. 2 §§ 6, 24 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) komme es entscheidend darauf an, ob ein Versicherter über den Entziehungszeitpunkt hinaus berufsunfähig im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO n.F. sei. Das sei bei dem Kläger der Fall. Er könne zwar noch leichtere, ungelernte Arbeiten verrichten, diese Tätigkeit sei ihm als gelerntem Zimmermann aber nicht zumutbar; denn ein gelernter Handwerker könne nicht auf eine leichtere, ungelernte Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsfeld verwiesen werden. Dies gelte auch dann, wenn ein Versicherter, wie der Kläger, bereits in verhältnismäßig jungen Jahren seinen Beruf habe aufgeben müssen. Daher sei die Invalidenrente weiterzuzahlen und ab 1. Januar 1957 die umgestellte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren.
Gegen das ihm am 9. Januar 1958 zugestellte Urteil hat die Beklagte durch Schriftsatz vom 22. Januar 1958, eingegangen am 23. Januar 1958, Revision eingelegt und diese mit Schriftsatz vom 11. Februar 1958, eingegangen am 19. Februar 1958, begründet. Sie rügt die Verletzung der §§ 1246 und 1286 RVO, der §§ 1254 und 1293 RVO a.F. und des Art. 2 §§ 5, 6 und 24 ArVNG. Das Berufungsgericht sei rechtsirrig davon ausgegangen, daß es im vorliegenden Fall auf das Vorliegen von Berufsunfähigkeit ankomme; in Wirklichkeit sei noch der Begriff der Invalidität maßgebend. Invalidität liege aber bei dem Kläger nicht mehr vor, da eine Besserung in seinem Zustand eingetreten und er wieder in der Lage sei, leichte bis mittelschwere Arbeit im Sitzen und Stehen mit Unterbrechungen zu verrichten. Der Kläger müsse sich auch diese Verweisung gefallen lassen, da er seinen erlernten Beruf nach Abschluß der Lehre nicht mehr ausgeübt habe. Im übrigen sei er auch nicht berufsunfähig; er hätte spätestens 1953 einen anderen Beruf ergreifen können.
Sie hat beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 28. November 1957 aufzuheben und unter Wiederherstellung des Urteils des Sozialgerichts Hamburg vom 16. Juli 1956 die Klage abzuweisen.
Der Kläger hat beantragt,
die Revision der Beklagten vom 23. Januar 1958 gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 28. November 1957 als unbegründet zurückzuweisen,
hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Er ist, wie das Berufungsgericht, der Auffassung, daß der Berufsunfähigkeitsbegriff des § 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) rückwirkend anzuwenden sei, und hält auch im übrigen das angefochtene Urteil für zutreffend. Selbst wenn dies aber nicht der Fall und die Rente daher zu Recht entzogen sein sollte, sei der Kläger doch zumindest seit dem 1. Januar 1957 berufsunfähig nach neuem Recht. Es könne ihm nicht vorgeworfen werden, daß er sich nicht einem neuen Beruf zugewandt habe.
Der Beigeladene hat sich dem Antrag und der Revisionserwiderung des Klägers angeschlossen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist, da das Landessozialgericht sie zugelassen hat, statthaft. Bedenken gegen ihre Zulässigkeit bestehen daher nicht. Es konnte ihr auch der Erfolg nicht versagt bleiben.
Das Berufungsgericht hat seiner Entscheidung irrigerweise den Berufsunfähigkeitsbegriff des ArVNG zugrunde gelegt. Nach Art. 2 § 44 ArVNG sind aber, wie der Senat bereits anderweitig entschieden hat (SozR ArVNG Art. 2 § 44 Bl. Aa 1 Nr. 3), auf die bei Inkrafttreten des ArVNG vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit schwebenden Fälle von den entgegen dem Grundsatz des Art. 2 § 5 ArVNG eine Rückwirkung des Gesetzes anordnenden Ausnahmevorschriften der §§ 6 ff. a.a.O. nur die §§ 8 und 17 bis 19 a.a.O. anzuwenden. Art. 2 § 24 a.a.O. kann daher hier nicht zur Anwendung kommen, so daß sich die Entziehung der Rente noch nach § 1293 RVO a.F. richtet. Nach dieser Vorschrift kommt es aber nicht darauf an, ob der Kläger im Zeitpunkt des Erlasses des Entziehungsbescheides berufsunfähig war, sondern ob er invalide war. Die Revision ist somit insoweit begründet. Sie ist auch insoweit begründet, als dem Kläger für die Zeit nach dem 31. Dezember 1956.
Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach § 1247 RVO gewährt worden ist. Das Landessozialgericht irrt, wenn es meint, eine bis zum 31. Dezember 1956 laufende Invalidenrente würde ab 1. Januar 1957 zu einer nach § 1247 RVO zu berechnenden Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. In Wirklichkeit wird die Invalidenrente nach Art. 2 §§ 31 ff. ArVNG lediglich umgestellt und gilt alsdann nach § 38 Abs. 2 a.a.O. als Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, ohne daß es darauf ankommt, ob im Einzelfall Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit vorliegt. Eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach § 1247 RVO könnte ab 1. Januar 1957 nur dann gewährt werden, wenn bis zum 31. Dezember 1956 kein Anspruch auf Invalidenrente bestanden hätte. Aber auch dann müßten die Voraussetzungen dieser Rente vorliegen. Das Landessozialgericht hat aber die Feststellung, daß der Kläger seit dem 1. Januar 1957 erwerbsunfähig ist, nicht getroffen. Das angefochtene Urteil mußte daher in vollem Umfang aufgehoben werden.
Aus der Feststellung, daß die Voraussetzungen der Berufsunfähigkeit vorliegen, kann nicht auf das Vorliegen der Voraussetzungen der Invalidität geschlossen werden. Da es somit an der Feststellung fehlt, ob der Versicherte im Zeitpunkt des Erlasses des Entziehungsbescheides invalide war, konnte der Senat nicht in der Sache selbst entscheiden, sondern mußte sie zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverweisen.
Dieses wird zu entscheiden haben, ob der Kläger im Zeitpunk des Erlasses des Rentenentziehungsbescheides invalide war. Wenn er invalide war, so wird das Landessozialgericht den Entziehungsbescheid aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen haben, dem Kläger die Invalidenrente über den Entziehungstag hinaus weiterzuzahlen. Sollte die Invalidität zu einem späteren Zeitpunkt - bis zum Schluß der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung - wieder entfallen sein, so würde das Landessozialgericht die Gewährung der Invalidenrente entsprechend zu begrenzen haben.
War der Kläger jedoch im Zeitpunkt der Rentenentziehung nicht invalide, so ist die Klage abzuweisen. Ist der Kläger dann in der Zeit bis zum 31. Dezember 1956 wieder invalide geworden, so muß ihm allerdings die Invalidenrente von diesem Zeitpunkt ab wieder gewährt werden. Ist dies letztere zwar nicht der Fall, ist der Kläger aber nach dem 31. Dezember 1956 berufsunfähig nach § 1246 RVO oder erwerbsunfähig nach § 1247 RVO geworden, so ist ihm von diesem Zeitpunkt ab die Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit zu gewähren.
Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen