Leitsatz (amtlich)

Bei Unfällen, die sich in der Zeit vor dem 1939-01-01 ereignet haben, richtet sich die Gewährung einer Rente für eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von weniger als 20 % nach der 4. NotV Teil 5 Kap 2 Abschn 1 § 2 Abs 2 S 1 und 2 vom 1931-12-08 (RGBl 1 1931, 699 - Anschluß RVA GE Nr 5286 = AN 1939, 190 Leitsätze Nr 1 und 16). 2. Wegen eines Unfalls, der sich vor dem 1939-01-01 ereignet hat, wird Rente für eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von weniger als 20 vH nur gewährt, wenn der Verletzte auf Grund eines zeitlich vorangegangenen Unfalls einen Anspruch der in der 4. NotV Teil 5 Kap 2 Abschn 1 § 2 Abs 2 S 1 bezeichneten Art hat und der in Satz 2 dieser Vorschrift festgelegte Vomhundertsatz erreicht ist. Ein später hinzugetretener neuer Unfall bewirkt dies nicht.

 

Normenkette

RVO § 559a Fassung: 1939-02-17; NotV 4 Teil 5 Kap 2 Abschn. 1 § 2 Abs. 2 Sätze 1-2

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 26. Juni 1959 aufgehoben.

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 3. Februar 1959 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Im Jahre 1937 erlitt der Kläger einen Arbeitsunfall, der zum Teilverlust des zweiten und dritten Fingers der linken Hand führte. Die hierfür gewährte Rente von zuletzt 20 v.H. entzog die Beklagte im Herbst 1945, da die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) nur noch 10 v.H. betrug. Eine Verschlimmerung der Folgen dieses Unfalles ist auch später nicht eingetreten. Am 6. Juni 1956 erlitt der Kläger jedoch einen weiteren Arbeitsunfall, wegen dessen Folgen - knöcherne Verletzung am linken Ellenbogen - er von einer anderen Berufsgenossenschaft eine Dauerrente von 20 v.H. erhält. Den Antrag des Klägers vom 13. Januar 1958, ihm nunmehr wegen der Folgen des Unfalles von 1937 eine Rente von 10 v.H. zu zahlen, lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 25. März 1958 ab. Die Klage ist erfolglos geblieben. Das Landessozialgericht (LSG.) hat durch Urteil vom 26. Juni 1959 die Beklagte verurteilt, dem Kläger wegen seines Unfalles von 1937 eine Rente von 10 v.H. vom Tage des zweiten Unfalles an zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Anspruch sei aus § 2 Abs. 2 (Fünfter Teil Kapitel II Abschnitt 1) der Vierten Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zum Schutze des inneren Friedens (4. NotVO) vom 8. Dezember 1931 (RGBl. I S. 699) herzuleiten. Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung sei eine Unfallrente für eine MdE. von weniger als 20 v.H. zwar nur zu gewähren, wenn der Verletzte auf Grund eines "früheren" Unfalles Anspruch auf eine Verletztenrente aus der Unfallversicherung oder auf Krankengeld habe. Trotz dieser Fassung sei aber nach der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes - RVA. - (Leitsatz 6 der Grunds. Entsch. Nr. 5286, AN. 1939 S. 190; EuM. Bd. 33 S. 162; EuM. Bd. 36 S. 154) anzunehmen, daß auch ein späterer Unfall dieselben Wirkungen hinsichtlich der Gewährung einer sogenannten kleinen Rente für einen früheren Unfall habe.

Die Beklagte hat gegen das ihr am 18. August 1959 zugestellte Urteil am 27. August 1959 Revision eingelegt und diese zugleich damit begründet, das LSG. habe § 2 der 4. NotVO unrichtig ausgelegt und sich für seine Auffassung zu Unrecht auf die frühere Rechtsprechung bezogen.

Sie beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und ihren Bescheid wiederherzustellen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

II

Die durch Zulassung statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, somit zulässig. Sie ist auch begründet.

Der Anspruch des Klägers auf Zahlung einer Rente von 10 v.H. für den im Jahre 1937 eingetretenen Unfall ist nach § 2 Abs. 2 Satz 1 (Fünfter Teil, Kap. II, Abschnitt 1) der 4. NotVO zu beurteilen, wie das LSG. mit Recht angenommen hat. Denn § 559 a Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO), der ebenfalls Ansprüche auf Zahlung von sogenannten kleinen Renten regelt, ist nach Artikel 3 § 1 des Fünften Gesetzes über Änderungen in der Unfallversicherung (5. ÄndG) vom 17. Februar 1939 (RGBl. I S. 267) erst mit Wirkung vom 1. Januar 1939 in Kraft getreten. Demgegenüber bestimmt Artikel 3 § 3 Abs. 2 a des 5. ÄndG, daß u.a. § 2 der 4. NotVO nur "für den Geltungsbereich dieses Gesetzes" (d.h. des 5. ÄndG) außer Kraft trete. Wie sich aus §§ 4 und 5 Artikel 3 des 5. ÄndG ergibt, nach denen gewisse Vorschriften des Gesetzes auch für Versicherungsfälle, die vor dem 1. Januar 1939 eingetreten sind bzw. ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt des Unfalles gelten, bedeuten die Worte "für den Geltungsbereich dieses Gesetzes", daß die in Artikel 3 § 3 Abs. 2 a aufgeführten Vorschriften, also auch § 2 der 4. NotVO, lediglich für die nach dem 31. Dezember 1938 eintretenden Versicherungsfälle außer Kraft gesetzt sind. Diese Regelung entspricht auch dem allgemeinen Rechtsgrundsatz, daß Gesetze nur auf Tatbestände anzuwenden sind, die von dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an eintreten, soweit nicht das Gesetz selbst Ausnahmen vorsieht (im Ergebnis ebenso RVA. Grunds. Entsch. 5286, a.a.O., Leitsätze Nr. 1 und 16; Schulte-Holthausen in BG. 1939 S. 173 ff.; Breitbach, "Das Fünfte Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung und die landwirtschaftliche Unfallversicherung", 1939, S. 54 Vorbemerkung vor Art. 3 S. 57 Anm. 2 und 3 I b; derselbe in "Das Recht der kleinen Renten in der Unfallversicherung", 1939, S. 40 Anm. 6 b).

Dem Kläger steht eine kleine Rente aus dem 1937 erlittenen Unfall auch nach Hinzutreten des weiteren Unfalls von 1956 nicht zu. Nach § 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 der 4. NotVO wird eine Rente für eine MdE. von weniger als 20 v.H. wegen eines Unfalles, der sich vor dem 1. Januar 1939 ereignet hat, nur gewährt, wenn der Verletzte auf Grund eines "früheren" (= zeitlich vorangegangenen) Unfalles einen Anspruch auf eine Unfallrente oder auf Krankengeld hat und die Hundertsätze aus beiden Unfällen zusammen mindestens die Zahl 25 erreichen; ein später hinzutretender neuer Unfall kann dagegen - wie aus der Fassung der 4. NotVO zu folgern ist - die Gewährung einer kleinen Rente wegen eines früheren Unfalls nicht bewirken. Für eine erweiternde Auslegung, wie sie das LSG. in vermeintlicher Übereinstimmung mit der früheren Rechtsprechung vorgenommen hat, bietet der klare und eindeutige Wortlaut der Bestimmung keine Möglichkeit. § 2 Abs. 2 der 4. NotVO unterscheidet sich insoweit wesentlich von § 559 a Abs. 3 RVO in der Fassung des 5. ÄndG; diesen Unterschied hat das LSG. nicht hinreichend beachtet. In seinem Urteil vom 5. April 1960 - 2 RU 129/58 - hat der erkennende Senat gerade im Hinblick auf den von § 2 Abs. 2 Satz 1 a.a.O. der 4. NotVO abweichenden Wortlaut des § 559 a Abs. 3 RVO diese Vorschrift - im Gegensatz zum RVA. (Grunds. Entsch. Nr. 5286) - dahin ausgelegt, daß auch ein Unfall, der sich später als der mit einer Rente von weniger als 20 v.H. zu entschädigende Unfall ereignet hat, zur "Stützung" der kleinen Rente wegen des früheren Unfalls dient. Während es also nach § 559 a Abs. 3 RVO für die Ansprüche auf Unfallrenten von weniger als 20 v.H. nicht darauf ankommt, wann sich - in der Zeit nach dem 31. Dezember 1938 - die einzelnen Unfälle jeweils ereignet haben, ist wegen der strengen Betonung der zeitlichen Reihenfolge in § 2 Abs. 2 Satz 1 der 4. NotVO eine unbeschränkt wechselseitige Stützung mehrerer Unfälle ausgeschlossen; vielmehr setzt die Gewährung einer kleinen Rente für einen vor dem 1. Januar 1939 eingetretenen Unfall voraus, daß der Verletzte auf Grund eines diesem Unfall zeitlich vorangegangenen Unfalls Anspruch auf die in § 2 Abs. 2 Satz 1 a.a.O. angeführten Geldleistungen hat (im Ergebnis ebenso "Notverordnung vom 8. Dezember 1931", Sonderheft der Zeitschrift "Die Reichsversicherung", 1931, S. 117 f.).

Unzutreffend ist auch die Auffassung des LSG., § 2 Abs. 2 der 4. NotVO enthalte den Grundgedanken, eine kleine Rente sei ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt des Eintritts des sogenannten stützenden Unfalles immer zu gewähren, wenn die gesamten Unfallfolgen eine MdE. von mehr als 20 v.H. zur Folge haben. Ein derartiger Inhalt kann der Vorschrift - abgesehen von ihrem diesem Grundgedanken entgegenstehenden Wortlaut - schon deshalb nicht beigelegt werden, weil anders als nach § 559 a Abs. 3 RVO selbst eine den Mindestsatz (25 v.H.) weit überschreitende MdE. aus mehreren Unfällen dann nicht zur Rentengewährung führt, wenn auf Grund der einzelnen Unfälle, die jeder für sich den Mindestsatz der MdE. von 20 v.H. nicht erreichen, kein Anspruch auf Unfallverletztenrente oder auf Krankengeld besteht. Die Annahme des LSG., seine Ausführungen zur Auslegung des § 2 Abs. 2 Satz 1 der 4. NotVO ständen in Einklang mit der Rechtsprechung des RVA., trifft nicht zu. Die vom LSG. angeführten Entscheidungen beziehen sich auf anders gelagerte Fälle. Die Entscheidung in EuM. Bd. 33 S. 162 betrifft die Frage, ob beim Zusammentreffen zweier oder mehrerer bisheriger kleiner Renten im Zeitpunkt des Inkrafttretens der 4. NotVO die kleine Rente nur für den später eingetretenen Unfall weiter zu gewähren ist. Das RVA. hat entschieden, daß die beim Inkrafttreten der 4. NotVO gewährten kleinen Renten, die zusammen den Hundertsatz von 25 erreichten, weitergewährt werden müßten; in welcher zeitlichen Reihenfolge die fraglichen Unfälle eingetreten und die zusammentreffenden Renten bewilligt worden seien, sei unerheblich. Würde bei einem Zusammentreffen bisheriger kleiner Renten der Wegfall der einen Rente nur dann nicht eintreten, wenn der Anspruch des Verletzten auf die weitere Rente auf einem "früheren" Unfall beruhe, so würde das zu völlig verschiedenen Ergebnissen führen, je nach dem, von welchem der Unfälle aus die Rechtsfrage beurteilt werde. Eine solche der Willkür und Zufälligkeiten unterworfene Anwendung des § 2 Abs. 2 laufe so offensichtlich dem Sinn und Zweck der 4. NotVO zuwider, daß die Vorschrift in den Fällen, für welche ihr nach § 11 rückwirkende Kraft beigelegt worden sei, nur ihrem wesentlichen Inhalt nach Anwendung finden solle.

In EuM. Bd. 36 S. 154 hatte das RVA. zu entscheiden, ob entgegen dem Wortlaut des § 2 Abs. 2 Satz 1 der 4. NotVO, der für den Anspruch auf Zahlung einer kleinen Rente für einen (späteren) Unfall die Gewährung einer Verletztenrente für einen früheren Unfall voraussetzt, der spätere "kleine" Unfall auch dann zu entschädigen sei, wenn Rente oder Krankengeld aus einem früheren Unfall nicht mehr gewährt wird. Dies hat das RVA. verneint: Es sei nicht Sache der Rechtsprechung, bei an sich klarem Wortlaut des Gesetzes diesem aus sozialen Gründen eine seinem Wortlaut widersprechende Auslegung zu geben. In EuM. Bd. 33 S. 162 sei die nicht wörtliche Anwendung des § 2 Abs. 2 damit begründet, daß eine wörtliche Anwendung in gleichliegenden Fällen zu völlig verschiedenen, also zu praktisch unhaltbaren Ergebnissen führen würde; das sei aber hier nicht der Fall. Für einen späteren Unfall könne daher Rente nicht gewährt werden, wenn aus einem früheren Unfall ein Anspruch auf Rente nicht mehr bestehe.

Die in EuM. Bd. 36 S. 154 in Bezug genommene Entscheidung des RVA. in EuM. Bd. 35 S. 22, die das LSG. nicht berücksichtigt hat, befaßt sich hingegen mit einem dem vorliegenden vergleichbaren Fall. Das RVA. hat ausgeführt: § 2 Abs. 2 regele lediglich die Rechtslage beim Zusammentreffen von Ansprüchen aus mehreren Unfällen. Die Entscheidung, ob die (nach § 2 Abs. 1) mit Wirkung vom 1. Januar 1932 weggefallene Rente von 15 v.H. mit Rücksicht auf die wegen eines neuen Unfalles von 1932 gewährte Rente von 20 v.H. wieder zu gewähren sei, könne nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes nicht zweifelhaft sein. Sei die Rente aus dem ersten Unfall zu Recht weggefallen, so entstehe der Anspruch nur dann wieder, wenn in den Folgen dieses Unfalles eine wesentliche Verschlimmerung im Sinne des § 608 RVO eingetreten sei, niemals aber durch das Hinzutreten eines neuen Unfalles.

Durch Artikel 3 § 3 Abs. 2 a des 5. ÄndG, der die Weitergeltung des § 2 der 4. NotVO für Versicherungsfälle vor dem 1. Januar 1939 anordnet, wird das Grundrecht der Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz) nicht verletzt, obwohl im Gegensatz zur Regelung des § 2 Abs. 2 Satz 1 der 4. NotVO Versicherte, die nach dem 31. Dezember 1938 mehrere Unfälle erlitten haben, nach der vom erkennenden Senat im Urteil vom 5. April 1960 - 2 RU 129/58 - getroffenen Auslegung des § 559 a Abs. 3 RVO in der Fassung des 5. ÄndG auch für den (früheren) Unfall eine "kleine" Rente erhalten können, wenn infolge später eingetretener Unfälle die Hundertsätze der durch die einzelnen Unfälle verursachten MdE. wenigstens die Zahl 20 erreichen. Wie der Senat in seinem ebenfalls am 5. April 1960 ergangenen Urteil - 2 RU 203/56 - entschieden hat, trifft der Gesetzgeber dadurch keine willkürliche Regelung, daß er die Wirkung von Rechtsänderungen, die günstigere Leistungen zur Folge haben, auf Versicherungsfälle nach dem Inkrafttreten der Änderung beschränkt.

Hiernach erwies sich die Revision der Beklagten als begründet. Sie mußte zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führen; das Sozialgericht hat im Ergebnis zutreffend die Klage abgewiesen.

Die Kostenentscheidung ergeht in Anwendung des § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2325820

Dieser Inhalt ist unter anderem im SGB Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge