Entscheidungsstichwort (Thema)
Unzulässige Berufung. Bescheid während des Berufungsverfahrens
Leitsatz (redaktionell)
Ein Rechtsstreit bleibt während einer nach den SGG §§ 144 bis 149 ausgeschlossenen Berufung allein deshalb rechtshängig - während des Berufungsverfahrens ergangene Bescheide können also Gegenstand dieses Verfahrens werden - weil die Berufung durch eine Rüge nach SGG § 150 Nr 2 bis zum Ende der mündlichen Verhandlung vor dem LSG noch statthaft gemacht werden kann.
Normenkette
SGG §§ 96, 153 Nr. 2, §§ 144, 149
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 22. Mai 1973 wird insoweit aufgehoben, als der Bescheid vom 30. November 1971 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10. Januar 1972 und der Bescheid vom 15. November 1972 angefochten sind; insoweit wird der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der erste Ehemann der Klägerin, Wilhelm B, ist an einer Wehrdienstbeschädigung verstorben. Die Klägerin bezog bis zu ihrer Eheschließung mit Herbert B, dem Bruder ihres ersten Ehemannes, im Jahre 1946 Witwenrente aus der Kriegsopferversorgung. Die zweite Ehe wurde im März 1965 aus alleinigem Verschulden des Ehemannes geschieden. Herbert B, der damals ein Nettoeinkommen von etwa 500,- DM hatte, verpflichtete sich, der Klägerin einen monatlichen Unterhalt von 50,- DM ab 1. Mai 1965 zu zahlen. Der Beklagte gewährte der Klägerin auf ihren Antrag vom April 1965 die wiederaufgelebte Witwen-Grund- und Ausgleichsrente ab 1. April 1965 (Bescheid vom 22. Juni 1965), ab 1. Januar 1967 in veränderter Höhe nach dem Dritten Neuordnungsgesetz (Bescheid vom 13. April 1967), und rechnete 50,- DM als monatlichen Unterhaltsbeitrag an (§ 44 Abs. 5 Bundesversorgungsgesetz - BVG -). Mit einem am 22. Mai 1969 unter Vorbehalt nach § 22 Abs. 4 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung erlassenen Bescheid gewährte das Versorgungsamt der Klägerin erstmalig ab 1. April 1965 einen Schadensausgleich (§ 40 a BVG) und stellte die gesamten Versorgungsbezüge unter Anrechnung eines monatlichen Unterhaltes von 70,- DM ab 1. Januar 1968 neu fest mit der Begründung, die Klägerin sei 1968 wiederholt verpflichtet worden, gegen ihren geschiedenen Ehemann einen höheren Unterhaltsanspruch gerichtlich geltend zu machen, habe aber bisher nicht nachgewiesen, daß sie einen höheren Anspruch nicht durchsetzen könne. Der Widerspruch, mit dem sich die Klägerin gegen die Anrechnung eines Unterhaltsbeitrages von 70,- DM und gegen die Einstufung ihres ersten Ehemannes bei der Bemessung des Schadensausgleiches wandte, blieb erfolglos (Bescheid vom 25. August 1969). Die Klägerin nahm ihre ursprünglich in vollem Umfang erhobene Klage bezüglich der Berechnung des Schadensausgleichs zurück. Mit Bescheid vom 28. Januar 1970 stellte das Versorgungsamt ihre Versorgungsbezüge ab 1. Januar 1970 nach dem 1. Anpassungsgesetz neu fest und rechnete wiederum unter Vorbehalt einen Unterhaltsbeitrag von 70,- DM an. Der dagegen erhobene Widerspruch wurde mit der Begründung zurückgewiesen, die Feststellung unter Vorbehalt beschwere die Klägerin nicht (Bescheid vom 19. März 1970). Die dagegen gerichtete Klage nahm die Klägerin zurück, weil die Bescheide bereits Gegenstand des anhängigen Rechtsstreits seien. Gegen den Bescheid vom 11. Januar 1971, mit dem die Versorgungsbezüge unter vorbehaltlicher Anrechnung eines monatlichen Unterhaltsbetrages von 70,- DM nach dem 2. Anpassungsgesetz ab 1. Januar 1971 neu festgestellt wurden, erhob die Klägerin Widerspruch wegen der Höhe des angerechneten Betrages. Ein Widerspruchsbescheid wurde nicht erteilt, weil der Bescheid Gegenstand des Rechtsstreits geworden sei. Der geschiedene Ehemann der Klägerin verweigerte vor dem Sozialgericht (SG) als Zeuge eine Auskunft über seine Vermögensverhältnisse. Die Klägerin beantragte eine Abänderung der Bescheide vom 22. Mai 1969/25. August 1969, 28. Januar 1970/19. März 1970 und 11. Januar 1971 dahin, daß als Unterhaltsbeitrag des geschiedenen Ehemannes ab 1. Januar 1968 nur 50,- DM angerechnet werden. Das SG wies die Klage ab. Eine Aufklärung darüber, ob der Verwaltungsangestellte D vom Versorgungsamt der Klägerin zunächst zu einem Unterhaltsverzicht geraten und dann die später getroffene Vereinbarung gut geheißen habe, erklärte es für rechtlich nicht erheblich (Urteil vom 4. Februar 1971). Während des Berufungsverfahrens stellte das Versorgungsamt mit Bescheid vom 30. November 1971 die Versorgungsbezüge nach dem 3. Anpassungsgesetz ab 1. Januar 1972 neu fest und rechnete wiederum unter Vorbehalt 70,- DM als Unterhalt an. Der dagegen erhobene Widerspruch wurde mit den Gründen des Widerspruchsbescheides vom 19. März 1970 zurückgewiesen (Bescheid vom 10. Januar 1972). Mit Bescheid vom 15. November 1972 nahm das Versorgungsamt die gleiche Neufeststellung nach dem 4. Anpassungsgesetz vor; die Klägerin erhob dagegen Widerspruch. Vor dem Landessozialgericht (LSG) wandte sie sich allgemein gegen die Anrechnung eines Unterhaltsbeitrages von 70,- DM. In der mündlichen Verhandlung beantragte sie, das Urteil des SG aufzuheben und die ihm zugrunde liegenden Bescheide insoweit abzuändern, als in diesen ab 1. Januar 1968 ein Unterhaltsbeitrag von 70,- DM statt 50,- DM monatlich angerechnet worden ist. Das LSG hat die Berufung als unzulässig verworfen (Urteil vom 22. Mai 1973): Sie sei, hinsichtlich der Bescheide, die Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens gewesen sind, nach § 148 Nr. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) unstatthaft, weil die Neufeststellung der mit Bescheid vom 22. Juni 1965 gewährten Witwenrente wegen einer Änderung der Verhältnisse im Streit stehe. Das Rechtsmittel sei nicht nach § 150 SGG zulässig; denn durch die falsche Rechtsmittelbelehrung habe das SG die Berufung nicht zugelassen, und die Klägerin habe keinen wesentlichen Verfahrensmangel gerügt. Die während des Berufungsverfahrens ergangenen Bescheide, die den umstrittenen Bescheid vom 25. Mai 1969 für die Zukunft abgeändert hätten, seien nicht über § 96 SGG kraft Klage Gegenstand des Rechtsstreits geworden. Dafür werde eine Rechtshängigkeit des Streitgegenstandes vorausgesetzt; das Verfahren, dessen Gegenstand der Erstbescheid gewesen sei, habe aber mit der Rechtskraft des SG-Urteils geendet, die nach § 705 Zivilprozeßordnung (ZPO) i. V. m. § 202 SGG nicht erst mit der Verwerfung der Berufung eintrete. Die unzulässige Berufung mache den Streitgegenstand nicht rechtshängig (Hessisches LSG, Breithaupt 1955, 893 = Sozialgerichtsbarkeit 1955, 339; Neugebauer, Kriegsopferversorgung 1955, 131). Der entgegenstehenden Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) vermöchte der Senat nicht zu folgen. - Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin rügt mit der Revision eine Verletzung des § 96 SGG durch das LSG. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG sei die Wirkung des § 96 SGG trotz Unzulässigkeit der Berufung eingetreten, weil das Urteil des SG infolge Einlegung der Berufung nicht rechtskräftig geworden sei. Daher hätte das LSG über die während des Berufungsverfahrens ergangenen Bescheide entscheiden müssen.
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit die während des Berufungsverfahrens erlassenen Bescheide angefochten werden, und insoweit den Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Er hält die Begründung des angefochtenen Urteils insbesondere aus praktischen Gründen für überzeugend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig (§§ 164, 166, 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG; BSG 1, 150) und auch insoweit erfolgreich, als im Umfang der Anfechtung der Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das LSG zurückzuverweisen ist.
Die Rüge, das Berufungsverfahren sei infolge Verletzung des § 96 SGG fehlerhaft, soweit es die während des Berufungsverfahrens ergangenen und mit dem Widerspruch angefochtenen Neufeststellungsbescheide vom 30. November 1971/30. Januar 1972 und vom 15. November 1972 betrifft, greift durch und führt zur Zurückverweisung der Sache. Diese Bescheide sind, wovon stillschweigend auch das LSG ausgegangen ist, wie abändernde oder ersetzende Verwaltungsakte anzusehen, soweit sie nach gleicher Berechnungsweise gemäß § 44 Abs. 5 BVG die Grund- und Ausgleichsrente für spätere Zeiträume neu feststellten (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 29. Januar 1974 - 9 RV 620/72 -, das zur Veröffentlichung bestimmt ist). Die Klägerin gab in der mündlichen Verhandlung mit ihrem Antrag, zu dessen Klarstellung im Sinne ihres wirklichen Begehrens das LSG sie hätte veranlassen müssen (§§ 123, 106 Abs. 1, § 112 Abs. 2 Satz 2 SGG), nicht zu verstehen, sie wolle diese Bescheide rechtsverbindlich werden lassen (§ 77 SGG). Das LSG hätte entsprechend seiner in den Entscheidungsgründen vertretenen Rechtsauffassung, diese Verwaltungsakte seien nicht Gegenstand des Rechtsstreits geworden, die Klage gegen diese Bescheide als unzulässig abweisen müssen (BSG 18, 231, 234, 235). Indes ist diese Entscheidung des Berufungsgerichts zu § 96 SGG falsch. Über die bezeichneten Bescheide hätte das Berufungsgericht aufgrund einer Sachprüfung als erste Instanz entscheiden müssen; denn sie waren entsprechend den §§ 96, 153 Abs. 1 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden. Diese Auffassung hat übrigens auch der Berichterstatter bezüglich des Bescheides vom 15. November 1972 gegenüber dem Beklagten schriftlich vertreten. Die entgegenstehende Ansicht des LSG läßt sich vor allem nicht damit begründen, durch die unzulässige Berufung seien die zuvor angefochtenen Bescheide nicht im zweiten Rechtszug rechtshängig geworden und hätten daher nicht die Voraussetzung für den Eintritt der Rechtsfolge des § 96 SGG bilden können. Ebenso wie bei der nicht zugelassenen Revision gegen ein Oberlandesgerichts-Urteil in einer nichtvermögensrechtlichen Streitigkeit, in der die Revision nach § 546 Abs. 1 ZPO grundsätzlich ausgeschlossen ist, aber ausnahmsweise nach § 547 ZPO zulässig sein kann, tritt die Rechtskraft des angefochtenen Urteils, die die Rechtshängigkeit (§ 263 ZPO, entsprechend § 94 Abs. 1 SGG) beendet, weder mit der Verkündung oder Zustellung des angefochtenen Urteils noch spätestens mit dem Ablauf der Rechtsmittelfrist ein, sondern erst mit dem Urteil im Rechtsmittelverfahren, in dem über die Zulässigkeit des Rechtsmittels entschieden wird (Stein/Jonas/Münzberg, Zivilprozeßordnung, 19. Aufl. 1968, § 705, Anm. II, Einl.; II 1; II, 2 c, insbesondere unter Hinweis auf §§ 705, 708 Nr. 7 ZPO und auf BGHZ 4, 294). Ob gleiches bei der Einlegung eines Rechtsmittels nach Ablauf der Rechtsmittelfrist gilt, ist hier nicht zu entscheiden. Selbst wenn die Rechtshängigkeit rückwirkend entfallen könnte, falls eine fristgerecht eingelegte Berufung im übrigen nicht zulässig war, hätte sie jeweils in dem für die Wirkung des § 96 SGG maßgebenden Zeitpunkt, in dem die späteren Bescheide während des Berufungsverfahrens erlassen wurden, noch bestanden. Der Rechtsstreit bleibt während einer nach den §§ 144 bis 149 SGG ausgeschlossenen Berufung allein deshalb rechtshängig, weil die Berufung durch eine Rüge nach § 150 Nr. 2 SGG bis zum Ende der mündlichen Verhandlung vor dem LSG noch statthaft gemacht werden kann. Soweit das Berufungsgericht im übrigen erwägenswerte Gesichtspunkte zur Begründung seiner Ansicht vorgebracht hat, sind diese bereits durch die ausführliche Begründung des Urteils des 10. Senats des BSG vom 19. Februar 1964 (ZfS 1965, 104), das die bisherige Rechtsprechung (BSG 4, 24, 26; 5, 158, 161 f) bestätigt hat, überzeugend widerlegt worden (vgl. weitere Nachweise bei Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, I, S. 242 s; im übrigen gegen Neugebauer und gegen das Hessische LSG mit ausführlicher Begründung: Miesbach, Die Abänderung oder Ersetzung des angefochtenen Verwaltungsaktes während des sozialgerichtlichen Verfahrens, Wiesbaden 1959, S. 30 ff, 73 ff, insbesondere 76 ff). Soweit das LSG verhindern will, daß mit einer nicht statthaften Berufung die Einbeziehung von Bescheiden "manipuliert" werde, hat es nicht bedacht, daß gerade vor dem Ablauf der Berufungsfrist in der Regel noch keine weiteren Verwaltungsakte ergangen sind, die i. S. von § 96 SGG mit den bis dahin angefochtenen Bescheiden zusammenhängen.
Das angefochtene Urteil ist, soweit es die während des Berufungsverfahrens erlassenen Bescheide betrifft, selbständig nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG aufhebbar; denn diese Verwaltungsakte betreffen gesonderte Versorgungsansprüche für andere Zeiträume und in anderer Höhe als die vor dem SG angefochtenen Bescheide (BSG 8, 228, 231). Mangels tatsächlicher Feststellungen für eine Sachentscheidung über diese Bescheide (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG) muß das angefochtene Urteil, soweit es sie betrifft, aufgehoben und der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden hat, zurückverwiesen werden (Satz 2).
Fundstellen