Entscheidungsstichwort (Thema)
Ersatzanspruch der Krankenkassen. Behandlung anerkannter Schädigungsfolgen. Sonderanfertigung eines Brillengestelles
Leitsatz (amtlich)
Die Versorgungsverwaltung hat einer Krankenkasse die Mehrkosten für die Sonderanfertigung des einen Beschädigten zu gewährenden Brillengestells zu ersetzen, die wegen Schädigungsfolgen an den Ohrmuscheln erforderlich ist.
Normenkette
BVG § 19 Abs. 1 S. 1, §§ 10, 11 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; RVO § 182 Abs. 1 Nrn. 1-2
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 30. November 1972 und das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 15. August 1972 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin den Betrag von 149,90 DM zu ersetzen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin fordert vom Beklagten den Ersatz von Mehraufwendungen in Höhe von 149,90 DM, die ihr bei Anfertigung von 2 Brillen (1968 und 1969) für ihr Mitglied H (H.) entstanden sind. Bei H. sind u. a. "Teilverlust der linken Ohrmuschel und Verstümmelung der rechten Ohrmuschel" als Schädigungsfolgen anerkannt. Er benötigt deshalb Sonderanfertigungen für Brillenfassungen, deren Kosten die Aufwendungen für normale, kassenübliche Brillengestelle überschreiten. Der Beklagte lehnte die Erstattung der Mehrkosten im Dezember 1970 ab. In früheren Fällen hatte er sie der Klägerin ersetzt. Das Sozialgericht (SG) Düsseldorf wies die Klage ab (Urteil vom 15. August 1972). Das Landessozialgericht (LSG) wies die - zugelassene - Berufung zurück (Urteil vom 30. November 1972): § 10 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) stelle darauf ab, daß die anerkannte Schädigungsfolge unmittelbar oder mittelbar die wesentliche Bedingung für die Heilbehandlung sei. Im vorliegenden Fall sei die Gewährung einer Brille als Heilmittel allein wegen eines nicht schädigungsbedingten Sehfehlers erforderlich gewesen; die Folgen der Schädigung - Teilverlust und Verstümmelung der Ohrmuscheln - seien durch die Sonderanfertigung der Brillen weder mitbehandelt noch erleichtert worden. Daher sei ausschließlich die Klägerin zu der erforderlichen Sonderanfertigung der Brillen nach § 182 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) verpflichtet. Die Voraussetzungen eines Ersatzanspruchs nach § 19 Abs. 1 Satz 1 BVG lägen nicht vor. Anders wäre es nur dann, wenn die Klägerin dem Beschädigten H. als Heilbehandlung künstliche Ohrmuscheln gewährt hätte, die das Tragen eines gewöhnlichen Brillengestells ermöglicht und dadurch die Schädigungsfolgen erleichtert hätten.
Mit der zugelassenen Revision macht die Klägerin geltend, das LSG habe die §§ 10 Abs. 1, 19 Abs. 1 BVG verletzt: Ebenso wie bei der schädigungsbedingten Gewährung von künstlichen Ohrmuscheln handele es sich auch bei der hier wegen der Schädigungen an den Ohrmuscheln erforderlichen Sonderanfertigung von Brillen um die "Mitbehandlung" des Schädigungsleidens; die Sonderanfertigung der Brillengestelle sei dazu bestimmt, körperliche Beschwerden zu beheben oder die Folgen der Schädigung, die sich beim Tragen einer Brille ergäben, zu erleichtern.
Die Klägerin beantragt,
die angefochtenen Urteile aufzuheben und den Beklagten zum Ersatz von 149,90 DM an die Klägerin zu verurteilen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er trägt vor, H. habe nach dem BVG keinen Anspruch auf Ausstattung mit einer Brille als Heilmittel. § 19 Abs. 1 BVG sehe keinen Aufwendungsersatz für einzelne Bestandteile kleinerer Heilmittel oder Ersatz von anteiligen Kosten an solchen Heilmitteln vor.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig (§ 162 Abs. 1 Nr. 1, §§ 164, 166 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Sie ist auch begründet; entgegen der Auffassung des LSG und des SG hat die Klägerin Anspruch auf Ersatz des Betrages von 149,90 DM.
Nach § 19 Abs. 1 Satz 1 BVG werden den Krankenkassen u. a. die Aufwendungen für kleinere Heilmittel ersetzt, wenn die Kassen nicht nur nach den Vorschriften des BVG verpflichtet sind, Heilbehandlung zu gewähren. Nach § 10 Abs. 1 Satz 1 BVG in der Neufassung vom 20. Januar 1967 (BGBl I 141) wird Beschädigten Heilbehandlung für Gesundheitsstörungen gewährt, die als Folge einer Schädigung anerkannt oder durch eine anerkannte Schädigungsfolge verursacht sind. Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BVG umfaßt die Heilbehandlung u. a. die Versorgung mit Heilmitteln. Die erforderlichen Versorgungsmaßnahmen werden nach § 18 c Abs. 2 Satz 1 BVG von den Krankenkassen durchgeführt, soweit es sich - wie hier - nicht um die in § 18 c Abs. 1 BVG bezeichneten Leistungen handelt. Der Begriff der "kleineren Heilmittel" in § 19 Abs. 1 BVG ist ebenso zu verstehen wie in § 182 Abs. 1 Nr. 1 RVO (vgl. BSG SozR Nr. 30 zu § 182 RVO), er umfaßt damit auch Brillen. Brillen sind, obwohl sie eine Sehstörung und das ihr zugrunde liegende Leiden nicht "heilen", trotzdem Heilmittel im Sinne dieser Vorschriften, weil sie dazu dienen, durch im wesentlichen äußere Einwirkungen einen Funktionsmangel des Körpers auszugleichen (vgl. BSG aaO).
Bei H. besteht ein Funktionsmangel in Gestalt der Beeinträchtigung der Sehfähigkeit, die nicht schädigungsbedingt ist. Wegen dieses Leidens hat er nach § 182 Abs. 1 Nr. 1 RVO gegen die Klägerin einen Anspruch auf Krankenpflege, die auch die Versorgung mit einer Brille als Heilmittel einschließt. Die Leistungspflicht der Klägerin ist im Regelfall auf die Lieferung der zum Ausgleich der Sehfähigkeit notwendigen und zweckmäßigen Brille beschränkt (§ 182 Abs. 2 RVO). Insoweit hat H. keinen Anspruch gegen den Beklagten, weil die Beeinträchtigung der Sehfähigkeit keine anerkannte Schädigungsfolge und auch nicht durch eine solche verursacht ist. Dies ist zwischen den Beteiligten nicht streitig.
Die Klägerin macht einen Ersatzanspruch gegen den Beklagten jedoch zu Recht insoweit geltend, als ihr Aufwendungen durch die für H. erforderliche Sonderanfertigung der Brillengestelle - besonderer Bügel - entstanden sind. Der Anspruch auf Ersatz dieser Mehraufwendungen ist nach § 19 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 BVG begründet. Auf die Lieferung einer Brille mit besonders angefertigten Bügeln hat H. einmal einen Anspruch gegen die Klägerin als Trägerin der gesetzlichen Krankenversicherung, weil er ohne die Sonderanfertigung die Brille wegen der Beeinträchtigung der Ohrmuscheln nicht tragen könnte und die Beeinträchtigung der Sehfähigkeit deshalb nicht ausgeglichen wäre. Er hat insoweit aber auch einen Anspruch aus dem Recht der Kriegsopferversorgung (KOV), weil die Mehraufwendungen durch die Behandlung anerkannter Schädigungsfolgen verursacht sind. Anerkannte Schädigungsfolgen sind - neben anderen, die hier nicht interessieren - bei H. der Teilverlust und die Beeinträchtigung der Ohrmuscheln. Die Ohrmuscheln haben bei jedem Menschen von Natur aus Bedeutung für die Hörfähigkeit, was hier außer Betracht bleibt. Bei Brillenträgern dienen die Ohrmuscheln jedoch außerdem dazu, ein Brillengestellt zu halten. Im Falle des H. ist dies wegen des schädigungsbedingten Teilverlusts der linken und der Verstümmelung der rechten Ohrmuschel nicht mehr möglich. Dem Ausgleich dieses - neben der Beeinträchtigung der Sehfähigkeit - bestehenden weiteren Mangels, der schädigungsbedingt ist, dient die Sonderanfertigung des Brillengestells als eines äußerlich und auch finanziell abgrenzbaren Bestandteils der Brille. H. hat im Rahmen seines Anspruchs auf Heilbehandlung gegen den Beklagten Anspruch auf diesen Bestandteil der Brille, weil dieser Teil dazu dient, "Folgen der Schädigung zu erleichtern" (§ 10 Abs. 1 Satz 1 BVG). Die Schädigungsfolgen sind neben der schädigungsunabhängigen Sehstörung, die eine Brille erforderlich macht, eine mindestens gleichwertige Mitursache dafür, daß für H. die Normalausführung eines Brillengestells nicht genügt, sondern eine Sonderanfertigung erforderlich ist. Bei dieser funktionellen Betrachtungsweise ist die Aufwendung für die abgrenzbaren Mehrkosten des Brillengestells "durch die Behandlung anerkannter Schädigungsfolgen" entstanden (§ 19 Abs. 1 Satz 2 BVG). Die Mehraufwendung hält sich auch im Rahmen des Notwendigen und Zweckmäßigen (§ 11 Abs. 1 Satz 3 BVG i. V. m. § 182 Abs. 2 RVO). Sie ist einfacher, billiger und wohl auch zweckmäßiger als die künstlichen Ohrmuscheln, die der Beklagte an H. nach § 18 c Abs. 1 BVG im Wege der orthopädischen Versorgung (§ 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7; § 13 BVG; § 1 DVO zu § 11 Abs. 3 und § 13 BVG) zu gewähren hätte, falls nur auf diese Weise das Tragen einer normalen Brille ermöglicht werden könnte. Es wäre nicht verständlich, wenn der Beklagte zwar erforderlichenfalls zu dieser Art der orthopädischen Versorgung verpflichtet sein könnte, die geringeren, jedoch - wie dargelegt - ebenfalls schädigungsbedingten Mehraufwendungen für die Sonderanfertigung der Brillengestelle der Klägerin nicht zu ersetzen hätte.
Da das LSG und ebenso das SG die Rechtslage verkannt haben, sind die Urteile vom 30. November 1972 und vom 15. August 1972 aufzuheben. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG). Der Beklagte ist verpflichtet, der Klägerin die durch die Sonderanfertigung der Brillen entstandenen Mehrkosten in Höhe von 149,90 DM zu ersetzen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Abs. 4 SGG.
Fundstellen