Leitsatz (amtlich)
Hat das Landessozialgericht, um die Frage der Berufsunfähigkeit des Klägers zu klären, ein schriftliches Arztgutachten eingeholt und beantragt der Kläger daraufhin die Ladung des Sachverständigen zur mündlichen Verhandlung, damit er sein Gutachten erläutere und Fragen des Klägers beantworte, so liegt in der Übergehung dieses Antrags ein wesentlicher Mangel des Verfahrens.
Normenkette
SGG § 106 Abs. 2 Nr. 5 Fassung: 1958-06-25, § 116 Fassung: 1953-09-03, § 118 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 397 Abs. 1, §§ 402, 411
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 4. Februar 1960 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Klägerin begehrt eine Rente aus der Rentenversicherung der Angestellten (AnV) wegen Berufsunfähigkeit. Sie hält sich für berufsunfähig wegen der Folgen eines im Jahre 1956 erlittenen Herzinfarkts. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag ab; nach ihrer Auffassung ist die Erwerbsfähigkeit der Klägerin durch einen labilen Bluthochdruck und Zeichen einer coronaren Durchblutungsstörung zwar eingeschränkt, jedoch nicht so weit, daß Berufsunfähigkeit gegeben ist (Bescheid vom 25. Februar 1958). Die Auffassung der Beklagten bestätigten das Sozialgericht Frankfurt (Urteil vom 26. Februar 1959) und das Hessische Landessozialgericht (Urteil vom 4. Februar 1960); beide Gerichte stützten ihre Entscheidungen auf die Gutachten von ärztlichen Sachverständigen, die im Verfahren gehört worden waren.
Das Landessozialgericht ließ in seinem Urteil die Revision nicht zu. Die Klägerin legte gegen das ihr am 19. März 1960 zugestellte Urteil am 7. April 1960 Revision ein mit dem Antrag,
unter Aufhebung der ergangenen Urteile die Beklagte zu verurteilen, ihr eine Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren,
hilfsweise, den Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Sie begründete die Revision am 7. Mai 1960, indem sie Verfahrensmängel geltend machte: Sie habe in der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht zu Protokoll beantragt, den Sachverständigen Dr. W zu einer Verhandlung zu laden, in der ihm die mündliche Erläuterung seines Gutachtens vom 2. Dezember 1959 aufgegeben und ihr Gelegenheit zur Fragestellung an den Sachverständigen gegeben werde. Diesen Antrag habe das Landessozialgericht zu Unrecht abgelehnt und ihr damit das rechtliche Gehör versagt. Darüber hinaus habe das Landessozialgericht den Sachverhalt nicht genügend aufgeklärt (Verstoß gegen § 103 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); es habe nicht geprüft, welche Bedeutung die erhebliche Bereitschaft für einen neuen Herzinfarkt, wie sie Dr. H bei ihr festgestellt habe, für ihre Berufsfähigkeit habe. Diese Frage habe sie Dr. W bei dessen Anhörung vorlegen wollen.
Die Beklagte beantragte,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Die Klägerin macht mit Recht geltend, das Verfahren des Landessozialgerichts leide an einem wesentlichen Mangel im Sinne dieser Vorschrift. Bei seiner Entscheidung hat das Landessozialgericht der Klägerin nicht ausreichendes rechtliches Gehör gewährt.
Die Klägerin hat zur Begründung ihrer Berufung, die sie gegen das klagabweisende Urteil des Sozialgerichts eingelegt hat, das Gutachten des Facharztes für Innere Medizin Dr. H vom 8. Juli 1959 vorgelegt; dieser Arzt hält die Klägerin wegen der allgemeinen Gefahr, der sie nach dem überstandenen Herzinfarkt im Berufsleben ausgesetzt sei, für berufsunfähig. Der vom Landessozialgericht gehörte Sachverständige Privatdozent Dr. W von der Medizinischen und Nervenklinik G sieht demgegenüber in seinem Gutachten vom 2. Dezember 1959, in dem er auch zu der Meinung des Dr. H Stellung nimmt, die Klägerin noch nicht für berufsunfähig an. Wie die Niederschrift ausweist, hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht beantragt, ihr die Rente wegen Berufsunfähigkeit zuzusprechen, hilfsweise, den Gutachter Dr. W persönlich zu seinen Darlegungen zu hören unter Vorhalt der Ausführungen des Dr. H. Daß und wie das Landessozialgericht zu diesem letzteren Antrag Stellung genommen hat, läßt die Niederschrift über die mündliche Verhandlung nicht erkennen; auch das angefochtene Urteil besagt nichts hierüber; weder im Tatbestand noch in den Entscheidungsgründen wird der Hilfsantrag der Klägerin überhaupt erwähnt. Daraus muß der Senat schließen, daß das Landessozialgericht den Antrag übergangen hat. In diesem Verhalten erblickt die Klägerin mit Recht einen wesentlichen Mangel des Verfahrens.
Das Gutachten des Sachverständigen Dr. W ist vor der mündlichen Verhandlung als schriftliches Gutachten nach § 106 Abs. 3 SGG eingeholt worden. Danach kann der Vorsitzende bzw. der Berichterstatter des Gerichts zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung die Begutachtung durch Sachverständige anordnen und ausführen (§§ 106 Abs. 2 und Abs. 3 Nr. 5, 155 SGG). Für die Beweisaufnahme gelten u. a. die Vorschriften in den §§ 116 und 118 SGG entsprechend (§ 106 Abs. 4 SGG). § 116 SGG regelt das Recht der Teilnahme an der Beweisaufnahme und das Fragerecht der Beteiligten; diese können der Beweisaufnahme beiwohnen und an Zeugen und Sachverständige sachdienliche Fragen richten lassen. § 118 SGG verweist für die Beweisaufnahme auf die wesentlichen Vorschriften der Zivilprozeßordnung (ZPO), die - soweit nichts Besonderes bestimmt ist - entsprechend anzuwenden sind. Es finden danach auch im sozialgerichtlichen Verfahren die Vorschriften über den Beweis durch Sachverständige in den §§ 402 bis 413 ZPO Anwendung, darunter auch die Bestimmung, die für diesen Beweis wiederum auf die Vorschriften über den Beweis durch Zeugen verweist (§ 402 ZPO). Von den hiernach anwendbaren Vorschriften über den Zeugenbeweis ist im vorliegenden Fall von Bedeutung § 397 ZPO. Nach Abs. 1 dieser Vorschrift sind die Parteien (Beteiligten) berechtigt, den Zeugen - und nach § 402 ZPO auch den Sachverständigen - diejenigen Fragen durch das Gericht vorlegen zu lassen, die sie zur Aufklärung der Sache für dienlich halten. Es handelt sich dabei um die im wesentlichen gleiche Befugnis wie in § 116 Satz 2 SGG. Ob darüber hinaus die Beteiligten und ihre Prozeßbevollmächtigten das Recht haben, bei der Beweisaufnahme selbst Fragen unmittelbar an Zeugen und Sachverständige zu richten, wie dies für den Zivilprozeß vorgesehen ist (§§ 397 Abs. 2, 402 ZPO) oder ob dieses Recht im sozialgerichtlichen Verfahren ausgeschlossen ist, weil insoweit § 116 Satz 2 SGG als besondere, die Anwendung des § 397 Abs. 2 ZPO ausschließende Vorschrift (lex specialis) anzusehen ist (vgl. zu dieser Frage die Erläuterungen zu § 116 SGG bei Peters/Sautter/Wolff Anm. II; Rohwer-Kahlmann Anm. 8 und Hofmann/Schroeter Anm. 2), braucht hier nicht entschieden zu werden, weil schon die Versagung des Rechts, dem Sachverständigen Fragen zur Beantwortung durch das Gericht vorlegen zu lassen, einen wesentlichen Mangel des Verfahrens bedeuten kann.
Das Fragerecht der Beteiligten wird auch nicht dadurch eingeschränkt, daß nach § 411 Abs. 3 ZPO das Gericht von Amts wegen das Erscheinen des Sachverständigen anordnen kann, damit er das schriftliche Gutachten erläutere. Diese Bestimmung gibt dem Gericht nur eine Befugnis, von der es im Rahmen seines pflichtgemäßen Ermessens Gebrauch machen kann. Nach der Rechtsprechung der Zivilgerichte führt das Fragerecht der Parteien nach §§ 397, 402 ZPO dazu, daß im Falle der schriftlichen Begutachtung das Erscheinen des Sachverständigen vor Gericht regelmäßig anzuordnen ist, wenn dies eine Partei beantragt. Dies gilt auch, wenn der Antrag - wie im vorliegenden Streitfall - nur hilfsweise, d. h. für den Fall gestellt wird, daß das Gericht auf das schriftliche Gutachten des Sachverständigen eine der Partei nachteilige Feststellung stützen sollte. Nicht erforderlich ist, daß die Partei, die von ihrem Fragerecht Gebrauch machen will, dem Gericht diese Fragen in allen Einzelheiten oder genau formuliert bei der Antragstellung bekanntgibt; es genügt vielmehr, wenn dem Gericht die Absicht der Fragestellung und die Richtung mitgeteilt werden, in der die Fragen an den Sachverständigen den Sachverhalt weiter klären sollen (vgl. RG in JW 1935 S. 2432 und S. 2897; BGHZ 6, 401 und 24, 10, 14). Diese in der Rechtsprechung der Zivilgerichte entwickelten Grundsätze sind auch für das Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit bedeutsam. Denn im allgemeinen nötigt weder das besondere Sachgebiet, das der Beurteilung durch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit unterliegt, noch der Umstand, daß in der Praxis dieser Gerichte die schriftliche Begutachtung durch Sachverständige die Regel bildet, dazu, von den Grundsätzen abzugehen, nach denen das Beweismittel des Sachverständigen in der anderen Gerichtsbarkeit benutzt wird. Auch in der Sozialgerichtsbarkeit muß das Beweisverfahren so gestaltet sein, daß eine möglichst weitgehende Gewähr für die Anhörung der Beteiligten und für die Ermittlung des wahren Sachverhalts besteht. Diesen Zwecken dient es aber in besonderem Maße, wenn die Beteiligten Gelegenheit erhalten, an den Sachverständigen sachdienliche Fragen zu stellen.
Im sozialgerichtlichen Verfahren, in dem der Sachverhalt von Amts wegen erforscht wird, ist das Gericht allerdings an die Beweisanträge der Beteiligten regelmäßig nicht gebunden (§ 103 SGG). Es kann daher einen Antrag, der auf die persönliche Anhörung und Befragung eines Sachverständigen zur Erläuterung seines schriftlichen Gutachtens hinzielt, ablehnen, wenn hierzu keine Notwendigkeit besteht. Dies ist nicht nur der Fall, wenn etwa der Antrag offensichtlich nur zum Zwecke der Prozeßverschleppung oder sonst mißbräuchlich gestellt worden ist; dem Antrag braucht auch dann nicht entsprochen zu werden, wenn er nach der Überzeugung des Gerichts nicht die Sachdienlichkeit der Fragen erkennen läßt, die an den Sachverständigen gestellt werden sollen. Dabei kann die für die Zwecke des Zivilprozesses bestimmte Formulierung in § 397 Abs. 1 ZPO: "... die sie zur Aufklärung der Sache ... für dienlich halten" bei der entsprechenden Anwendung der Vorschrift im sozialgerichtlichen Verfahren keine über § 116 Satz 2 SGG hinausgehende Bedeutung haben, weil hier insoweit etwas anderes bestimmt ist (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG). Es kommt also darauf an, daß die Fragen, die dem Sachverständigen zur Beantwortung vorgelegt werden sollen, der Aufklärung des Sachverhalts objektiv dienen können. Deshalb braucht auch nicht befürchtet zu werden, daß das Antragsrecht der Beteiligten zu einem Mißbrauch oder - wegen der Kostenfreiheit des sozialgerichtlichen Verfahrens für die Kläger - zu einem Überhandnehmen solcher Anträge und damit zu einer untragbaren finanziellen Belastung der Gerichte führen könnte. Je nach Lage des Falles wird das Gericht, bei dem ein Antrag auf mündliche Anhörung des Sachverständigen gestellt wird, auch zu prüfen haben, ob nicht durch eine schriftliche Befragung des Sachverständigen oder durch die Einholung eines neuen Sachverständigengutachtens der gleiche Erfolg erzielt werden kann wie durch die mündliche Anhörung.
Den in der Verhandlungsniederschrift des Landessozialgerichts wiedergegebenen Antrag der Klägerin, den Sachverständigen Dr. W zur mündlichen Erläuterung seines Gutachtens zu laden, hätte das Landessozialgericht unter den vorstehend genannten Gesichtspunkten möglicherweise zwar ablehnen können; es hätte dies - für das Revisionsgericht nachprüfbar - entweder durch einen besonderen, mit Gründen versehenen Beschluß vor der Urteilsverkündung (§ 172 Abs. 2 SGG; vgl. BSG 7, 240) oder in den Gründen des angefochtenen Urteils tun müssen. Es konnte aber den Antrag, den die Klägerin vier Wochen nach der Bekanntgabe des schriftlichen Gutachtens des Dr. W und damit rechtzeitig gestellt und auch begründet hatte, nicht einfach übergehen. Die Ausübung des Fragerechts nach § 116 Satz 2 SGG (§ 397 Abs. 1 ZPO), mit dem die Beteiligten ihre Bedenken gegen die Richtigkeit, Vollständigkeit oder Schlüssigkeit eines Sachverständigengutachtens vor Gericht zur Geltung bringen und damit zur Ermittlung des wahren Sachverhalts beitragen können, ist ein Ausfluß des Rechts der Beteiligten auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG), wie auch ihres Rechts auf Mitwirkung bei der Aufklärung des Sachverhalts. Die Nichtbeachtung bedeutet einen wesentlichen Mangel des Verfahrens. Die Klägerin hat diesen Mangel auch ordnungsgemäß unter Angabe der Tatsachen und der Beweismittel gerügt (§ 164 Abs. 2 SGG). Diese Rüge macht die vom Landessozialgericht nicht zugelassene Revision statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Es braucht unter diesen Umständen nicht geprüft zu werden, ob auch der von der Klägerin weiterhin geltend gemachte Verfahrensmangel vorliegt.
Auf dem von der Klägerin gerügten Verfahrensmangel kann das angefochtene Urteil auch beruhen. Das Gutachten des Dr. H, auf das sie sich beruft, und dasjenige des Dr. Winter widersprechen sich in wesentlichen Punkten. Es ist nicht ausgeschlossen, daß das Landessozialgericht, wenn es Dr. W entsprechend dem Antrag der Klägerin zur mündlichen Verhandlung geladen und ihm die von der Klägerin gewünschten Fragen vorgelegt hätte, zu einem für den Rentenanspruch der Klägerin günstigeren Ergebnis gekommen wäre. Die Revision der Klägerin ist danach auch begründet.
Das angefochtene Urteil muß daher aufgehoben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen werden.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des Landessozialgerichts vorbehalten.
Fundstellen
Haufe-Index 2290999 |
NJW 1961, 2087 |
MDR 1961, 802 |