Leitsatz (amtlich)
Ist für einen Arbeitsuchenden der allgemeine Arbeitsmarkt fachlich auf typische Arbeiten sowie räumlich auf einen bestimmten Bezirk begrenzt und sind in diesem Rahmen aus Gründen, die nicht durch die Lage des Arbeitsmarktes (Konjunktur) bedingt sind, sondern in seiner eigenen Person liegen (Alter, Erblindung), Arbeitsplätze nicht erreichbar, so steht er der Arbeitsvermittlung objektiv nicht zur Verfügung.
Normenkette
AVAVG § 76 Abs. 1 Fassung: 1957-04-03
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 26. September 1968 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der im Januar 1901 geborene - ledige - Kläger ist seit mehr als zehn Jahren erblindet (Zivilblinder). Er war zuletzt - seit 1937 - als Bürstenmacher bei der Hüttenwerke O AG (H.) in O, seinem Wohnort, beschäftigt; mit dem 31. Januar 1966 schied er aus diesem Beschäftigungsverhältnis, wie es in einer Betriebsvereinbarung vorgesehen war, wegen Erreichens der Altersgrenze von 65 Jahren aus. Er bezieht - neben dem Blindengeld - das gesetzliche Altersruhegeld.
Am 3. Februar 1966 meldete sich der Kläger beim Arbeitsamt arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld. Dabei erklärte er, noch acht Stunden täglich als Bürstenmacher arbeiten zu können; mit seiner Entlassung durch die H. sei er einverstanden gewesen, weil sein Arbeitsplatz für einen jüngeren blinden Arbeitskollegen vorgesehen gewesen sei. Eine Arbeitsaufnahme außerhalb von Oberhausen lehnte er ab, weil er auf eine Begleitperson angewiesen sei, eine solche ihm aber nicht zur Verfügung stehe.
Nach einem amtsärztlichen Gutachten vom 17. Februar 1966 kann der Kläger bei Meidung von Arbeiten schwerer und mittelschwerer Art wie bisher Blindenarbeiten verrichten. Im Bezirk des Arbeitsamts O werden indessen blinde Bürstenmacher und Besenbinder - außer bei der H. - nur in der Blindenwerkstätte Sch beschäftigt. Ein im Frühjahr 1966 unternommener Versuch des Arbeitsamts, den Kläger zu diesem Betrieb, der Kehrgeräte für Straßenreinigungsmaschinen herstellt, zu vermitteln, schlug fehl; die in Betracht kommende Arbeit wurde als für den Kläger zu schwer angesehen.
Mit Bescheid vom 2. März 1966 lehnte es das Arbeitsamt ab, dem Kläger Arbeitslosengeld zu gewähren, weil auf dem erreichbaren Arbeitsmarkt dem Alter und dem eingeschränkten Leistungsvermögen des Klägers entsprechende Arbeitsplätze nicht in nennenswertem Umfang vorhanden seien und der Kläger somit der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung stehe (§ 74 Abs. 1, § 76 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung - AVAVG -). Den Widerspruch des Klägers wies das Arbeitsamt am 17. März 1966 zurück.
Die hiergegen gerichtete Aufhebungs- und Leistungsklage ist vor dem Sozialgericht (SG) Duisburg und dem Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen ohne Erfolg geblieben. Während das SG schon die ernstliche Arbeitsbereitschaft des Klägers als nicht feststellbar bezeichnet hat, hat das LSG dieses Merkmal der Verfügbarkeit nicht in Zweifel gezogen. Es ist der Auffassung, der Kläger habe seine Bereitschaft, Arbeit aufzunehmen, mit Recht räumlich auf seinen Wohnort Oberhausen beschränkt, weil er sich wegen seiner Blindheit in einer ihm unvertrauten Umgebung ohne Begleitperson nicht zurechtzufinden vermöge. Gegen seine Arbeitsbereitschaft spreche auch nicht, daß er nicht gezögert habe, seinen Arbeitsplatz für einen jüngeren blinden Arbeitskollegen freizumachen. Das LSG ist jedoch zu dem Ergebnis gelangt, daß der Kläger aus objektiven Gründen der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung stehe. Der für ihn wegen seiner durch Blindheit bedingten Behinderung und wegen seines Alters in Betracht kommende Arbeitsmarkt beschränke sich auf den Bezirk des Arbeitsamts O. In dessen Grenzen seien Arbeitsplätze, für die der Kläger fachlich geeignet sei, nur in geringfügigem Ausmaß vorhanden, nämlich Beschäftigungen als Bürstenmacher oder Besenbinder. Für sonstige Blindenarbeiten entbehre er der spezifischen Kenntnisse und Fertigkeiten, und für arbeits- und berufsfördernde Maßnahmen, durch die er neue berufliche Kenntnisse erwerben könnte, komme der Kläger wegen Erreichens der normalen Altersgrenze nicht mehr in Betracht. Der für die Beurteilung der Verfügbarkeit des Klägers maßgebende Arbeitsmarkt sei also praktisch auf die H. und die Blindenwerkstätte Sch als die einzigen Unternehmen im Bezirk des Arbeitsamts O mit Arbeitsplätzen für blinde Bürstenmacher und Besenbinder eingeschränkt. Bei keinem dieser beiden Unternehmen sei indessen, und zwar ungeachtet der Lage des Arbeitsmarktes, eine Beschäftigung des Klägers zu verwirklichen. Die in der Blindenwerkstätte Sch anfallenden Arbeiten seien für ihn zu schwer, und bei der H. würden allgemein keine Arbeitnehmer über das 65. Lebensjahr hinaus beschäftigt, es sei denn, daß sie besondere, bei dem Kläger aber nach seinem eigenen Vorbringen nicht gegebene Voraussetzungen erfüllten. Unzutreffend sei die vom Kläger unter Berufung auf eine Entscheidung des LSG Baden-Württemberg (Breithaupt 1967, 698) vertretene Auffassung, die Beklagte habe dafür einzustehen, daß geeignete Arbeitsplätze nicht nur offen, sondern auch vorhanden seien. Die Vermittlungstätigkeit der Beklagten könne sich nur im Rahmen der Gegebenheiten vollziehen, die sie auf dem Arbeitsmarkt antreffe.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat das Rechtsmittel eingelegt.
Er rügt, das Berufungsgericht habe den Begriff der Verfügbarkeit verkannt. Da der Kläger, wie das LSG festgestellt habe, ernstlich arbeitsbereit sei, schränke sich der Meinungsstreit auf die Frage ein, ob eine fehlende Vermittlungsmöglichkeit die Verfügbarkeit so einzuengen vermöge, daß Leistungen der Beklagten entfielen. Diese Frage habe der erkennende Senat bereits in BSG 2, 67, 74 mit Recht verneint. Deshalb sei die angefochtene Entscheidung nicht zu billigen. Dies ergebe sich auch aus dem mit dem Versicherungsprinzip verbundenen Gedanken der Risikoverteilung. Nach § 39 AVAVG habe die Beklagte bei der Arbeitsvermittlung die besonderen Verhältnisse der Arbeitsuchenden, deren Unterbringung unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes erschwert sei, gebührend zu berücksichtigen. Scheitere die Vermittlung des zu diesem bevorzugten Personenkreis gehörenden Klägers daran, daß die vorhandenen Arbeitsplätze besetzt seien, so werde die Leistungspflicht der Beklagten wirksam. Die Blindheit des Klägers erhöhe nur die Pflicht zu Vermittlungsanstrengungen der Beklagten.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 26. September 1968, das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 14. März 1967 und den Bescheid der Beklagten vom 2. März 1966 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 17. März 1966 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Arbeitslosengeld in gesetzlicher Höhe und Dauer zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie führt aus: Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung seien nur dann zu gewähren, wenn Vermittlungsversuche scheiterten. Es müsse also auf dem für den Arbeitslosen erreichbaren Arbeitsmarkt wenigstens ein offener oder besetzter Arbeitsplatz vorhanden sein, für den sich der Bewerber eigne. An dieser Voraussetzung fehle es im vorliegenden Falle.
II
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.
Die Vorinstanzen haben die Klage gegen den Bescheid des Arbeitsamts vom 2. März 1966, mit welchem dem Kläger das Arbeitslosengeld versagt worden ist, mit Recht abgewiesen, weil nicht alle Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind. Nach § 74 Abs. 1 des auf den vorliegenden Streitfall noch anzuwendenden AVAVG hängt der Anspruch auf Arbeitslosengeld u. a. davon ab, daß der Arbeitslose der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht. Nach § 76 Abs. 1 AVAVG steht der Arbeitsvermittlung zur Verfügung, wer ernstlich bereit und ungeachtet der Lage des Arbeitsmarktes nach seinem Leistungsvermögen imstande ... ist, eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben, und nach der im Arbeitsleben herrschenden Verkehrsauffassung für eine Vermittlung als Arbeitnehmer in Betracht kommt. Ob der Kläger, wie das LSG angenommen hat, das subjektive Merkmal der Verfügbarkeit erfüllt, nämlich die ernstliche Bereitschaft zur Ausübung einer üblichen Beschäftigung, konnte der Senat unentschieden lassen. Der Anspruch auf Arbeitslosengeld scheitert jedenfalls daran, daß der Kläger objektiv nicht verfügbar, d. h. nach seinem Leistungsvermögen nicht imstande ist, eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben.
Der Begriff "allgemeiner Arbeitsmarkt" umfaßt, wie der erkennende Senat in BSG 11, 16 näher ausgeführt hat, den räumlichen und den fachlichen Bereich. Fachlich erstreckt sich der allgemeine Arbeitsmarkt auf den Kreis der Beschäftigungen, für die der Arbeitslose - ohne Einschränkung auf seinen Beruf - in Betracht kommt. In räumlicher Hinsicht umfaßt er grundsätzlich den gesamten Geltungsbereich des AVAVG; denn die Vermittlungsbemühungen der Arbeitsverwaltung haben sich nicht etwa nur auf den Wohnort des Arbeitslosen, sondern auf das gesamte Bundesgebiet zu erstrecken. Wenn es allerdings im Einzelfall an der sogenannten Ausgleichsfähigkeit fehlt - das ist die Fähigkeit, überörtlich, überbezirklich oder wo auch immer im Bundesgebiet vermittelt zu werden -, dann schrumpft der allgemeine Arbeitsmarkt nach der o. a. Rechtsprechung des erkennenden Senats räumlich auf das Gebiet zusammen, das der Arbeitslose erreichen kann. Die Ausgleichsfähigkeit ist für den Umfang des allgemeinen Arbeitsmarktes maßgebend, weil Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung nur zu gewähren sind, wenn überhaupt die Möglichkeit besteht, den Arbeitslosen wieder in den Arbeitsprozeß einzugliedern, wenn also seine Arbeitslosigkeit lediglich in Ermangelung offener Arbeitsstellen nicht beendet werden kann. Dies ergibt sich aus § 36 AVAVG, wonach die Vermittlung in Arbeit den Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung vorgeht (vgl. BSG, Urteil vom 29. August 1963 - 7 RAr 28/61 -, Breithaupt 1964, 708). Bei fehlender Ausgleichsfähigkeit ist die Möglichkeit der Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß nur am Wohnort des Arbeitslosen gegeben. Arbeitsplätze an anderen Orten des Bundesgebiets, für die der Arbeitslose an sich fachlich geeignet wäre, kommen für eine Vermittlung nicht in Betracht; sie sind deshalb bei der Prüfung der Vermittelbarkeit nicht zu berücksichtigen.
Nach den vom LSG getroffenen und von den Beteiligten nicht angegriffenen Feststellungen kommen für den wegen seiner Blindheit erheblich behinderten Kläger nur Beschäftigungen als Bürstenmacher oder Besenbinder in Frage; für sonstige Blindenarbeiten fehlen ihm die erforderlichen besonderen Kenntnisse und Fertigkeiten. Danach ist für ihn der Arbeitsmarkt fachlich auf die angeführten typischen Blindenarbeiten beschränkt. Ohne Rechtsirrtum hat das LSG auch angenommen, daß der Kläger wegen seines Alters von mehr als 65 Jahren für arbeits- und berufsfördernde Maßnahmen, durch die er vielleicht neue berufliche Kenntnisse und Fertigkeiten erwerben könnte, nicht mehr in Betracht kommt.
In räumlicher Hinsicht hat das LSG mit Recht die Ausgleichsfähigkeit des Klägers verneint und somit für ihn nur die Stadt O als den Bereich des allgemeinen Arbeitsmarktes angesehen. Der Grundsatz, daß einem Arbeitslosen zuzumuten ist, einen Arbeitsplatz durch Pendeln zu erreichen oder an einen anderen Ort des Bundesgebietes umzuziehen (vgl. BSG SozR Nr. 21 zu § 1246 der Reichsversicherungsordnung - RVO - und Beschluß des Großen Senats des Bundessozialgerichts - BSG - vom 11. Dezember 1969, SozR Nr. 20 zu § 1247 RVO, Bl. Aa 24 R und 25), erleidet in dem vorliegenden Streitfall eine Ausnahme. Da bei dem Kläger Blindheit, Alter und das Fehlen einer Begleitperson zusammentreffen, kann er, wie er im übrigen in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des LSG selbst vorträgt, weder im Wege des Pendelns einen Arbeitsplatz außerhalb der Stadt Oberhausen erreichen noch sich zumutbar an eine neue Arbeitsumgebung gewöhnen, nachdem er nahezu zwei Jahrzehnte in ein und demselben Betrieb beschäftigt war.
Weiter hat das LSG zutreffend entschieden, daß der Kläger an seinem Wohnort Oberhausen der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung steht. Da die Verfügbarkeit "ungeachtet der Lage des Arbeitsmarktes" zu beurteilen ist, kommt es nicht darauf an, wie die konjunkturabhängigen Vermittlungsaussichten für den Kläger in Oberhausen sind, insbesondere, nicht darauf, ob offene Stellen angeboten werden, für die er nach seiner fachlichen Eignung in Betracht kommt. Denn hierbei handelt es sich um Umstände, die nicht in der persönlichen und sachlichen Bereitschaft des Arbeitslosen (BSG 2, 67, 74), sondern in den auf dem Arbeitsmarkt herrschenden Verhältnissen ihren Grund haben. Entscheidungserheblich ist es dagegen, ob der Kläger nach seinem Leistungsvermögen imstande ist, "unter den üblichen Bedingungen" des für ihn maßgeblichen Arbeitsmarktes - in Oberhausen - eine Beschäftigung auszuüben. Üblich sind Bedingungen, wenn unter ihnen Arbeitsverhältnisse in nennenswertem Umfang eingegangen zu werden pflegen (BSG 11, 16, 20). Zu diesen Bedingungen rechnet vor allem Art und Umfang der vom Arbeitnehmer zu leistenden Arbeit (vgl. Draeger/Buchwitz/Schönefelder, Kommentar zum AVAVG, § 76 Rdnr. 10). Damit fällt, was die Revision verkennt, das Vorhandensein von Arbeitsplätzen, die der Arbeitslose auszufüllen vermag, in dessen Risikobereich. Der Kläger ist nur in der Lage, typische Blindenarbeiten als Bürstenmacher oder Besenbinder zu verrichten. Solche Arbeitsgelegenheiten gibt es aber nach den von der Revision nicht angegriffenen und somit das BSG bindenden Feststellungen des LSG in Oberhausen nur in der Blindenwerkstätte Sch und bei der Firma H. . In keinem dieser beiden Betriebe kann der Kläger jedoch beschäftigt werden, bei Sch nicht, weil die dort anfallenden Arbeiten für ihn zu schwer sind, und bei der Firma H. nicht mehr, weil das Unternehmen auf Grund einer Betriebsvereinbarung - abgesehen von Ausnahmetatbeständen, die im vorliegenden Falle nicht gegeben sind - keine Personen beschäftigt, welche das 65. Lebensjahr überschritten haben. Daß der Kläger bei der Firma H. nicht weiterbeschäftigt wird, ist demnach nicht etwa auf konjunkturbedingte Gründe, wie z. B. ein ausreichendes Angebot an jungen Arbeitskräften, zurückzuführen, sondern darauf, daß das Unternehmen grundsätzlich - auch in Zeiten eines angespannten Kräftebedarfs - keine Arbeitnehmer über das 65. Lebensjahr hinaus beschäftigt. Für den Kläger gibt es demnach aus Gründen, die allein in seiner Person liegen, in O überhaupt keinen geeigneten Arbeitsplatz.
Da der Kläger somit objektiv nicht verfügbar im Sinne des § 76 Abs. 1 AVAVG ist, hat die Beklagte ihm das Arbeitslosengeld mit Recht versagt. Seine Revision ist deshalb unbegründet und muß zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung ergeht in Anwendung des § 193 Abs. 1 und 4 SGG.
Fundstellen