Leitsatz (amtlich)
Eine Betriebstätigkeit ist iS von § 141b Abs 3 Nr 2 AFG erst vollständig beendet, wenn keine dem Betriebszweck dienende Arbeiten mehr geleistet werden. Bei Betrieben, die sowohl produzieren als auch die hergestellten Waren verkaufen, genügt die Einstellung der Produktion nicht. Der Auflösung, der reinen Abwicklung oder der Erhaltung von Betriebsmitteln dienende Arbeiten bleiben unberücksichtigt.
Normenkette
AFG § 141a Fassung: 1974-07-17, § 141b Abs 3 Nr 2 Fassung: 1974-07-17
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger Konkursausfallgeld (Kaug) bis zum 31. Dezember 1976 zusteht, weil sein Beschäftigungsunternehmen die Betriebstätigkeit erst zu diesem Zeitpunkt vollständig beendet hatte.
Der Kläger war technischer Angestellter der Glashütte M der W AG in G, deren Hauptverwaltung sich in Z/S befand. Am 20. Oktober 1976 teilte die Geschäftsleitung dem Betriebsrat mit, das Werk solle zum Jahresende 1976 stillgelegt werden. Ein vom Betriebsrat angeregter Sozialplan kam nicht zustande. Es wurde jedoch am 11. November 1976 folgender "Interessenausgleich" abgeschlossen:
"§ 1 Der Geschäftsführer der W AG, G, hat in einer Sitzung
mit dem Betriebsrat des Werkes die wirtschaftliche Situation
des Betriebes erläutert. Betriebsrat und Leitung des
Unternehmens sind übereingekommen, den Betrieb zum
15. Dezember 1976 stillzulegen. Alle betroffenen
Arbeitsverträge sind zu diesem Zeitpunkt aufzulösen.
Die Arbeitsverträge der Angestellten gelten bis zum
31. Dezember 1976.
§ 2 Im Zusammenhang mit der Stillegung der Produktion
sind alle gewerblichen Arbeitnehmer, insgesamt 34
Beschäftigte, zu entlassen. Alle kaufmännischen und
technischen Angestellten, insgesamt 13 Beschäftigte,
zu entlassen".
Mit Ablauf des 15. Dezember 1976 wurde die Produktion (Herstellung von Glasflaschen) eingestellt; die 34 gewerblichen Arbeitnehmer wurden entlassen. Die 13 Angestellten waren noch bis zum 31. Dezember 1976 im Betrieb beschäftigt, eine Buchhalterin weiterhin bis zum 7. Januar 1977 und der technische Betriebsleiter, der auf dem Betriebsgelände wohnte, bis Mitte März 1977. Am 15. Dezember 1976 lagerten auf dem Betriebsgelände noch etwa 1 1/2 bis 2 Millionen produzierte Glasflaschen, die in den folgenden 2 Wochen versandfertig gemacht, verkauft und versandt wurden. Daneben wurden die Maschinen gereinigt und eingefettet und sonstige erforderliche Wartungsarbeiten geleistet, wobei allein das Abkühlen der Glasschmelzwanne 6 Tage in Anspruch nahm.
Löhne und Gehälter wurden von der W AG bis einschließlich Oktober 1976 gezahlt. Am 22. Dezember 1976 teilte die Geschäftsleitung dem ehemaligen Betriebsrat und einem Vertreter der IG Chemie - Papier - Keramik mit, Löhne und Gehälter für November und Dezember könnten nicht gezahlt werden.
Der Kläger beantragte - wie auch die übrigen Arbeitnehmer - am 27. Dezember 1976, ihm Kaug zu gewähren. Mit Bescheid vom 28. Februar 1977 bewilligte die Beklagte Kaug für die Zeit vom 1. November bis 15. Dezember 1976. Den Widerspruch, mit dem der Kläger Kaug auch für die Zeit bis zum 31. Dezember 1976 verlangte, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 29. September 1977 zurück. Am 15. Dezember 1976 sei die Betriebstätigkeit vollständig beendet und der Betrieb stillgelegt worden. Dem Betriebszweck dienende Betriebstätigkeiten seien seitdem tatsächlich nicht mehr geleistet worden.
Das Sozialgericht Stade (SG) hat die Bescheide der Beklagten geändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Kaug auch für die Zeit vom 16. bis 31. Dezember 1976 zu gewähren. Es hat die Berufung zugelassen (Urteil vom 27. Juli 1978). Das Landessozialgericht Niedersachsen (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 7. Dezember 1979).
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 141b Abs 3 Nr 2 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG). Sie vertritt weiterhin die Auffassung, daß seit dem 15. Dezember 1976 in dem stillgelegten Betrieb nur noch Abwicklungsarbeiten geleistet worden seien, die einer vollständigen Einstellung der Betriebstätigkeit nicht entgegenstünden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen
vom 7. Dezember 1979 sowie das Urteil des Sozialgerichts
Stade vom 27. Juli 1978 aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen. Die Vorinstanzen haben zutreffend entschieden, daß der Kläger auch für die streitige Zeit vom 16. bis 31. Dezember 1976 Anspruch auf Kaug hat.
Der Kläger stand bei seinem früheren Arbeitgeber der W AG bis zum 31. Dezember 1976 in einem entgeltlichen Beschäftigungsverhältnis. Sein Arbeitsvertrag war erst zu diesem Zeitpunkt rechtswirksam gelöst worden. Er hatte deshalb Anspruch auf Arbeitsentgelt, mit dem er seit dem 1. November 1976 ausgefallen ist (§ 141a AFG idF des Konkursausfallgeldgesetzes vom 17. Juli 1974 BGBl I 1481 -KauG-). Über das Vermögen des Arbeitgebers ist zwar nicht der Konkurs eröffnet worden, noch ist ein Antrag auf Eröffnung des Konkursverfahrens mangels Masse abgelehnt worden. Jedoch ist die Betriebstätigkeit der M in G im Geltungsbereich des AFG, vollständig eingestellt worden. Ein Antrag auf Eröffnung des Konkursverfahrens ist nicht gestellt worden und ein Konkursverfahren kam offensichtlich mangels Masse nicht in Betracht (§ 141b Abs 1 und 3 Nr 2 AFG).
Die Beklagte hatte, nachdem neben anderen Arbeitnehmern auch der Kläger einen Antrag auf Kaug gestellt hatte, Ermittlungen über die mit der Stillegung der M zusammenhängenden Umstände angestellt und war ua schließlich zu der Überzeugung gelangt, ein Antrag auf Eröffnung des Konkursverfahrens würde offensichtlich mangels Masse abgewiesen werden. Sie hat daraufhin mit dem angefochtenen Bescheid den Kaug-Anspruch des Klägers vom 1. November bis 15. Dezember 1976 anerkannt. Für die anschließende noch streitige Zeit hat sie den Anspruch im Widerspruchsbescheid allein deshalb abgelehnt, die Betriebstätigkeit sei bereits am 15. Dezember 1976 vollständig eingestellt worden. Sie hat damit die "Offensichtlichkeit" im Sinne von § 141b Abs 3 Nr 2 AFG zutreffend nicht daran gemessen, ob sie für den Kläger bestand, sondern den Kaug-Antrag zum Anlaß eigener Prüfung dieses Tatbestandsmerkmals genommen (vgl BSGE 48, 269, 271, 272 und im gleichen Sinne zu der wortgleichen Vorschrift des § 7 Abs 1 Nr 4 des Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung vom 19. Dezember 1974 BGBl I 3610 das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 11. September 1980 - 3 AZR 544/79). Die Beklagte trägt nicht vor, daß sich an diesem Ergebnis ihrer Prüfung für die noch streitige Zeit etwas geändert hat. Ein später gestellter Konkursantrag und dessen Schicksal (Eröffnung oder Ablehnung mangels Masse) wäre im übrigen rechtlich unerheblich, weil die in § 141b genannten, den Kaug-Anspruch auslösenden Insolvenztatbestände gleichrangig nebeneinanderstehen und der Kaug-Anspruch durch das zeitlich früheste Ereignis ausgelöst wird (BSGE 41, 121, 123).
Nach den von der Beklagten nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG ist die Betriebstätigkeit der M aber nicht vor dem 31. Dezember 1976 vollständig beendet worden. Wie bereits der Wortlaut des § 141b Abs 3 Nr 2 AFG ergibt, ist nicht jede Beendigung einer Betriebstätigkeit rechtserheblich. So reicht etwa die Stillegung einzelner Betriebsteile wegen einer Umorganisation oder Verkleinerung des Betriebes, auch wenn sie mit Entlassungen verbunden sind, nicht aus. Erforderlich ist vielmehr die vollständige Beendigung jeder dem Betriebszweck dienenden Tätigkeit (Arbeit). Solche Tätigkeiten (Arbeiten) sind "Betriebstätigkeiten". Daher sind Arbeiten innerhalb eines Betriebes, die aber seinem Zweck nicht dienen, keine solchen Betriebstätigkeiten. Das sind insbesondere die der Auflösung, der reinen Abwicklung oder lediglich der Erhaltung von Betriebsanlagen dienende Arbeiten (Gagel, Arbeitsförderungsgesetz, 2. Lieferung - Konkursausfallgeld -, 1981, § 141b RdNr 31; Schönefelder/Kranz/Wanka, AFG-Kommentar, § 141b RdNr 13; Schmitz/Specke/Picard, Arbeitsförderungsgesetz, 2. Aufl, Stand Januar 1980, § 141b RdNr 2.2.3; Hennig/Kühl/Heuer, Arbeitsförderungsgesetz, Stand März 1981, § 141b Anm 5d). Wann die Betriebstätigkeit vollständig beendet ist, richtet sich ua nach der Art des Betriebes. Bei gemischten Betrieben, die sowohl produzieren als auch verkaufen, ist die endgültige Beendigung der Produktion nicht maßgebend, wenn produzierte Güter noch verkauft werden müssen. Solange in diesem Sinne Aufträge noch "abgewickelt" werden, ist die Betriebstätigkeit nicht vollständig beendet. Bei derartigen gemischten Betrieben ist der Betriebszweck nicht allein die Produktion, sondern wesentlich auch der Verkauf der produzierten Waren. Beides, sowohl die Produktion als auch der Verkauf, ermöglichen nämlich erst eine gewinnbringende Betriebstätigkeit. Erst eine Beendigung einer solchen Betriebstätigkeit kann einen der Eröffnung des Konkurses oder der Ablehnung mangels Masse gleichartigen Sachverhalt darstellen. Denn erst nach der gemeinten "wirtschaftlichen Abwicklung" ist die beendete Betriebstätigkeit ein Beweisanzeichen für die Zahlungsunfähigkeit (im Ergebnis ebenso: Gagel, aaO; Kühl/Lawrenz, Arbeitslosenhilfe und Konkursausfallgeld, S 88, 89). Kein brauchbarer Anhaltspunkt für die vollständige Beendigung der Betriebstätigkeit ist es, ob die im oder für den Betrieb noch geleisteten Arbeiten solche sind, die typischerweise von einem Konkursverwalter nach Eröffnung des Konkurses geleistet werden. Der Konkursverwalter hat pflichtgemäß selbst zu entscheiden, ob er die Betriebstätigkeit völlig einstellt und lediglich abwickelt oder ob er den Betrieb etwa in der Weise zunächst weiterführt, daß laufende Aufträge erfüllt werden.
Die Beschäftigten, deren Arbeitsverträge nicht mit dem 15. Dezember 1976 beendet waren, sind - wie auch der Kläger - bis zum Jahresende 1976 nicht nur mit reinen Abwicklungs-, Liquidations- oder erhaltenen Arbeiten beschäftigt gewesen. Wenn auch die am 15. Dezember 1976 noch vorhandenen Glaswaren überwiegend oder ausschließlich auf entsprechende Bestellungen hin produziert worden sind, waren diese Aufträge doch nicht mit der Herstellung der Waren erledigt. Vielmehr waren weitere Arbeiten erforderlich, um die Bestellungen endgültig auszuführen. Die Waren mußten verpackt, versandfertig gemacht und sodann an die Besteller ausgeliefert werden. Vollständig war die Betriebstätigkeit also frühestens beendet, wenn die bestellten Waren ausgeliefert waren. Insbesondere mit hierfür notwendigen Arbeiten war ua auch der Kläger bis zum Jahresende beschäftigt.
Gegen die Feststellung des 31. Dezember 1976 als maßgebenden Zeitpunkt kann nicht erfolgreich eingewendet werden, daß dadurch die gewerblichen Arbeitnehmer gegenüber den Angestellten schlechter gestellt würden. Die Beschäftigungsverhältnisse der Arbeiter waren mit dem 15. Dezember 1976 beendet, so daß sie für die folgenden 2 Wochen nicht mit Entgeltansprüchen ausgefallen sind. Es lag zwar nahe, den 31. Dezember 1976 als den Zeitpunkt der vollständigen Beendigung der Betriebstätigkeit anzusehen, weil zu diesem Zeitpunkt die Arbeitsverträge der Angestellten beendet waren. Dieser Umstand allein wäre allerdings nicht entscheidend. Tritt eines der Insolvenzereignisse des § 141b AFG ein, bevor Arbeitsverhältnisse rechtmäßig beendet worden sind, entstehen Kaug-Ansprüche für die darauf folgende Zeit nicht (§ 141b Abs 1 AFG). Im vorliegenden Fall ist aber nach den tatsächlichen Feststellungen das Insolvenzereignis des § 141b Abs 3 Nr 2 AFG nicht vor dem 31. Dezember 1976 eingetreten.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen
BSGE, 40 |
Breith. 1982, 158 |