Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsweg. Nachversicherung. Aufschub
Orientierungssatz
1. Besteht nur in der Frage Streit, ob die Klägerin beim Ausscheiden aus der versicherungsfreien Tätigkeit nachzuversichern war, so ist der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit gegeben.
2. Durfte beim Ausscheiden der Klägerin aus der versicherungsfreien Tätigkeit am 31.8.1930 die Nachversicherung aufgeschoben werden, so war sie nicht nachversichert und gilt auch nach Art 6 § 18 FANG für die Zeit ihrer Beschäftigung im öffentlichen Dienst vom 1.4.1925 bis 31.8.1930 als nicht nachversichert, denn nach dieser Vorschrift gelten Personen, die gleich der Klägerin vor dem 9. Mai 1945 aus dem Dienst der insoweit in Betracht kommenden öffentlich-rechtlichen Körperschaften ausgeschieden sind, nur dann als nachversichert, wenn sie "nach den im Zeitpunkt ihres Ausscheidens geltenden Vorschriften der Reichsversicherungsgesetze für die Zeit ihrer versicherungsfreien Beschäftigung nachzuversichern waren und nicht nachversichert worden sind".
3. Entgegen der Auffassung der Klägerin gehört zu den "im Zeitpunkt ihres Ausscheidens" aus dem öffentlichen Dienst, also am 31. August 1930 "geltenden Vorschriften der Reichsversicherungsgesetze" auch die BeitrNachentrV vom 4. Oktober 1930, da diese Verordnung rückwirkend zum 1.4.1928 in Kraft trat.
Normenkette
FANG Art. 6 § 18; BeitrNachentrV § 8 Abs. 1, § 12 Abs. 2
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 05.10.1971) |
SG Berlin (Entscheidung vom 16.06.1969) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 5. Oktober 1971 geändert.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. Juni 1969 wird in vollem Umfang zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin nach Art. 6 § 18 des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes vom 25. Februar 1960 (FANG, BGBl I, 93) für die Zeit vom 1. April 1925 bis zum 31. August 1930 als nachversichert gilt.
Die 1905 geborene Klägerin war während dieser Zeit bei der im heutigen Ostberlin ansässig gewesenen Industrie- und Handelskammer B als Beamtenanwärterin versicherungsfrei tätig. Diese Tätigkeit gab sie wegen ihrer Eheschließung mit einem versorgungsberechtigten Beamten auf; eine Nachversicherung erfolgte nicht. Die Ehe besteht noch; der Ehemann bezieht jetzt Ruhegehalt. Der beigeladene Deutsche Industrie- und Handelstag (DIHT) als Treuhänder der früheren Industrie- und Handelskammer B erteilte der Klägerin am 23. Januar 1968 eine Bescheinigung über die genannte Beschäftigungszeit mit dem Zusatz, die Entscheidung darüber, ob diese im öffentlichen Dienst zurückgelegte Zeit nach den sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen zu einer Nachversicherung führe, obliege dem Versicherungsträger. Die Klägerin beantragte deshalb unter Vorlage der Bescheinigung bei der Beklagten die Ausstellung einer diese Beschäftigungszeit umfassenden Aufrechnungsbescheinigung. Die Beklagte erteilte am 18. Juli 1968 einen Bescheid dahin, die Klägerin gelte nicht als nachversichert, weil die sozialversicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die fiktive Nachversicherung nicht erfüllt seien. Der Widerspruch hatte keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 21.10.1968). Mit der Klage begehrte die Klägerin die Aufhebung beider Bescheide und die Feststellung, daß sie für die bescheinigte Dienstzeit in gesetzlicher Höhe als nachversichert gelte. Das Sozialgericht (SG) wies die Klage als unbegründet ab (Urteil vom 16.6.1969). Das Landessozialgerichts (LSG) hob beide Bescheide auf; im übrigen wies es die Berufung der Klägerin zurück. Es meint, die Beklagte sei sachlich unzuständig, Bescheide über den hier streitigen Anspruch zu erlassen, weil der gesamte Fragenkomplex grundsätzlich dem Dienstrecht zugeordnet werden müsse.
Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte (sinngemäß),
das Urteil des LSG zu ändern und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG in vollem Umfang zurückzuweisen.
Sie rügt Verletzung des Art. 6 § 18 FANG. Der angefochtene Bescheid enthalte keine dienstrechtliche Entscheidung. Ob im Einzelfall die Nachentrichtung von Beiträgen i. S. des Sozialversicherungsrechts tatsächlich aufgeschoben ist, sei eine Entscheidung über Rechte und Pflichten aus der Rentenversicherung, die allein dem Versicherungsträger zustehe, weil lediglich im Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) geregelte Sachverhalte festzustellen und zu regeln und nur die Vorschriften des Sozialversicherungsrechts auszulegen seien. Die fiktive Nachversicherung komme hier aber nicht in Betracht; die Klägerin sei nicht nachzuversichern gewesen, denn die Nachversicherung sei nach § 8 der Verordnung über die Nachentrichtung von Beiträgen für versicherungsfreie Personen vom 4. Oktober 1930 (Aufschub-VO; RGBl I, 459 = AN 1930, 432) aufgeschoben gewesen. Der Nachversicherungsfall sei bisher nicht eingetreten, weil die Ehe der Klägerin noch bestehe.
Die Klägerin ist vor dem Bundessozialgericht (BSG) nicht vertreten.
Der Beigeladene stellt keine Anträge; er schließt sich dem Vorbringen der Beklagten an.
Alle Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Da die Klägerin das Urteil des LSG nicht angefochten hat, ist ihre Feststellungsklage rechtskräftig abgewiesen und damit erledigt. Streitig und deshalb allein zu entscheiden ist noch die mit der Anfechtungsklage aufgeworfene Frage, ob die Beklagte die angefochtenen Bescheide zu Recht erlassen hat. Entgegen der Auffassung des LSG ist das zu bejahen.
Für die Anfechtungsklage ist der Sozialrechtsweg gegeben. Insoweit ist von Bedeutung, daß die hier in Betracht kommende fiktive Nachversicherung nach Art. 6 § 18 FANG ebenso wie jede andere derartige Nachversicherung sowohl von dienstrechtlichen als auch von sozialversicherungsrechtlichen Voraussetzungen abhängt. Das hat zur Folge, daß bei der Durchführung der Nachversicherung sowohl die zuständige Versorgungsdienststelle als auch der zuständige Rentenversicherungsträger mitwirken muß. Dieses zwangsläufige Zusammenwirken mehrerer Stellen hat hinsichtlich der in § 72 G 131 (Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 des Grundgesetzes fallenden Personen vom 11.5.1951; BGBl I 307) vorgesehenen fiktiven Nachversicherung durch die hierzu ergangenen Verwaltungsvorschriften (VV) eine Zuständigkeitsregelung dergestalt erfahren, daß die Versorgungsdienststellen nur die dienstrechtlichen Voraussetzungen für die fiktive Nachversicherung feststellen und bescheinigen, während die Prüfung der sozialversicherungsrechtlichen Voraussetzungen den Trägern der gesetzlichen Rentenversicherung vorbehalten ist (Nr. 2, 11, 12 der Allgem. VV zu § 72 G 131 vom 20.2.1968, BAnz Nr. 42 vom 29.2.1968; vgl. hierzu BVerwGE 23, 184; BAGE 17, 259). Die Rechtsprechung hat diese Abgrenzung der Prüfungsbefugnisse der Versorgungsdienststellen einerseits und der Rentenversicherungsträger andererseits auch für die fiktive Nachversicherung nach Art. 6 § 18 und nach Art. 6 § 22 FANG als gegeben erachtet (vgl. BVerwG in Buchholz, BVerwG 310, § 40 VwGO Nr. 64 sowie Urteil vom 6.7.1967 - BVerwG II C 33.66 - und Beschluß vom 30.1.1969 -- BVerwG II B 34.68 -; auch BSG in SozR Nr. 1 zu Art. 6 § 18 FANG). Lediglich für die fiktive Nachversicherung nach § 99 AKG (= Allgemeines Kriegsfolgengesetz vom 5.11.1957, BGBl I, 1747) ist sie noch andere Wege gegangen (BVerwGE 21, 343 und BSG Urt. vom 19.6.1969 - 11 RA 114/67 -). Inwieweit das gerechtfertigt ist, kann der Senat hier dahingestellt lassen. Er schließt sich für die fiktive Nachversicherung nach Art. 6 § 18 FANG der in der Rechtsprechung übereinstimmend vertretenen Auffassung an, daß eine Doppelspurigkeit des Behördenweges mit entsprechender Zuständigkeitsverteilung hinsichtlich der Prüfungsbefugnisse besteht. Diese Auffassung entspricht der Sachlage und führt deshalb am ehesten zu optimalen Ergebnissen, denn die bei der fiktiven Nachversicherung auftretenden sozialversicherungsrechtlichen Fragen werden mit überwiegender Wahrscheinlichkeit am besten von den Sozialversicherungsträgern entschieden, weil diese die insoweit unerläßlichen Spezialkenntnisse des Rechts der sozialen Rentenversicherung in aller Regel in größerem Maße besitzen als die Versorgungsdienststellen.
Diese Doppelspurigkeit des Behördenweges führt naturgemäß zu einer Doppelspurigkeit auch des Rechtsweges; für Streitigkeiten über dienstrechtliche Voraussetzungen der fiktiven Nachversicherung sind die Gerichte der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit zuständig, Streitigkeiten, die sozialversicherungsrechtliche Fragen betreffen, entscheiden dagegen die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit. Diese sich zwangsläufig ergebende Abgrenzung auch der Rechtswegzuständigkeit ist in der Rechtsprechung nicht umstritten (vgl. BVerwG, Urt. vom 16.1.1964 - II C 29.62 = Buchholz, BVerwG 234, § 72 G 131 Nr. 4; vom 24.8.1964 - VI C 172, 61; vom 6.10.1965 - VI C 125.62; vom 14.10.1965 - VI C 51.62; vom 27.1.1966 - II C 42.63 = BVerwGE 23, 184 sowie BSG 11, 63). Da das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) ungeachtet seiner gegenteiligen Auffassung zu § 99 AKG die Doppelspurigkeit des Behörden- und des Rechtsweges hinsichtlich der in Art. 6 § 18 FANG vorgesehenen fiktiven Nachversicherung ebenfalls bejaht (Beschluß vom 30.1.1969 - BVerwG II B 34.68), ist der erkennende Senat nicht gehalten, hier eine Entscheidung des Gemeinsamen Senats der obersten Bundesgerichte herbeizuführen.
Nach alledem ist der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit gegeben, weil die Beklagte entgegen der Auffassung des LSG für die Erteilung der angefochtenen Bescheide zuständig war; denn die Beteiligten streiten letztlich allein um die in den Bereich des Sozialrechts gehörende Frage, ob die Nachversicherung der Klägerin bei deren am 31. August 1930 erfolgten Ausscheiden aus ihrer versicherungsfreien Tätigkeit aufgeschoben werden durfte (vgl. BSG in SozR Nr. 2 und 3 zu § 1403 RVO). Falls das zu bejahen ist, war die Klägerin nämlich nicht nachzuversichern und gilt deshalb nach Art. 6 § 18 FANG für die Zeit ihrer Beschäftigung im öffentlichen Dienst vom 1. April 1925 bis 31. August 1930 auch nicht als nachversichert; denn nach dieser Vorschrift gelten Personen, die gleich der Klägerin vor dem 9. Mai 1945 aus dem Dienst der insoweit in Betracht kommenden öffentlich-rechtlichen Körperschaften ausgeschieden sind, nur dann als nachversichert, wenn sie "nach den im Zeitpunkt ihres Ausscheidens geltenden Vorschriften der Reichsversicherungsgesetze für die Zeit ihrer versicherungsfreien Beschäftigung nachzuversichern waren und nicht nachversichert worden sind".
Die Klägerin beanstandet die angefochtenen Bescheide zu Unrecht. Entgegen ihrer Auffassung gehört zu den "im Zeitpunkt ihres Ausscheidens" aus dem öffentlichen Dienst, also am 31. August 1930 "geltenden Vorschriften der Reichsversicherungsgesetze" auch die Aufschub-VO vom 4. Oktober 1930. Diese VO trat rückwirkend am 1. April 1928 in Kraft (§ 12 Abs. 1 Aufschub-VO). Aus der Sicht des erst 1960 geschaffenen FANG zählt sie deshalb schon von diesem Zeitpunkt an zu den hier in Betracht kommenden Vorschriften der Reichsversicherungsgesetze. Daß sie auch auf vor ihrem Entstehen also vor dem 4. Oktober 1930 eingetretene Nachversicherungsfälle wie den der Klägerin Anwendung findet, hat das BSG bereits entschieden. Ebenso hat das BSG schon entschieden, daß die mit dieser VO geschaffene Regelung des Aufschubs der Nachversicherung spätestens 1957, aber lediglich mit Wirkung für die Zukunft außer Kraft getreten ist und von dem Gleichheitsgrundsatz des 1949 geschaffenen und nicht zurückwirkenden Grundgesetzes (GG) nicht beeinflußt wird (BSG in Breithaupt 1963 S. 41 sowie Urt. vom 18.10.1972 - 1 RA 175/71 -). Der Senat hat keinen Anlaß, von dieser Rechtsprechung abzuweichen.
Durch § 8 Abs. 1 Aufschub-VO wurde die Nachversicherung von Beiträgen aufgeschoben, wenn eine Frau aus der versicherungsfreien Beschäftigung wegen ihrer Heirat mit einem Beamten ausschied. War in einem solchen Fall das Ausscheiden - wie bei der Klägerin - schon vor Erlaß der Aufschub-VO, also vor dem 4. Oktober 1930, erfolgt und waren Beiträge bisher noch nicht nachentrichtet worden, so konnte die Nachentrichtung ebenfalls aufgeschoben werden (§ 12 Abs. 2 Aufschub-VO). Die infolge des Aufschubs bisher nicht nachentrichteten Beiträge sind dann erst nachzuentrichten, wenn die Ehe aufgelöst wird und die Frau nicht Versorgungsleistungen bestimmten Umfangs erhält (§ 8 Abs. 2 Aufschub-VO). Die Klägerin, deren Ehe noch besteht, war mithin für die Zeit ihrer im öffentlichen Dienst verbrachten Beschäftigung bisher nicht nachzuversichern, ihrer Nachversicherung durfte nach diesen Vorschriften der Aufschub-VO aufgeschoben werden. Die Klägerin gilt deshalb nach Art. 6 § 18 FANG für diese Zeit auch nicht als nachversichert. Die Beklagte hat demnach die angefochtenen Bescheide zu Recht erlassen, so daß die Berufung der Klägerin gegen das sozialgerichtliche Urteil auch hinsichtlich der Anfechtungsklage und damit in vollem Umfang zurückgewiesen werden muß.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen