Leitsatz (amtlich)
Ob der ursächliche Zusammenhang einer Gesundheitsstörung oder des Todes mit einer Schädigung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes streitig und daher die Berufung nach SGG § 150 Nr 3 zulässig ist, richtet sich nach dem Inhalt des Urteils des Sozialgerichts.
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Bescheid als Verwaltungsakt muß hinsichtlich seines Rechtsausspruchs und seiner Begründung klar sein und das erkennen lassen, was die angenommene Rechtsfolge begründet.
2. Die Ablehnung von Versorgungsbezügen muß daher so begründet werden, daß der Verletzte die Möglichkeit hat, im Rechtszuge gegen die Begründung Stellung zu nehmen und sie substantiiert anzugreifen.
3. Die Einsetzung eines Striches in ein Formblatt genügt nicht, um den Willen, eine Versorgungsleistung abzulehnen, zum Ausdruck zu bringen und einen rechtsförmlichen Verwaltungsakt zu setzen.
4. Durch bloßes Übergehen kann ein Anspruch nicht aberkannt werden.
Normenkette
SGG § 148 Fassung: 1953-09-03, § 150 Nr. 3 Fassung: 1953-09-03; BVG
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 30. September 1955 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Baden-Württemberg zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Bei dem 1876 geborenen Kläger waren nach dem Reichsversorgungsgesetz (RVG) als Wehrdienstbeschädigung "chronische Veränderungen an beiden Hüft- und Kniegelenken mit geringer Bewegungsbehinderung der Hüftgelenke" anerkannt, wofür er eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 50 v.H. bezog. Ende 1948 führte ein Antrag auf Rentenerhöhung zu einer amtsärztlichen Begutachtung, in der eine Verschlimmerung des Gelenkrheumaleidens durch Befall fast sämtlicher großer Gelenke und beginnende Versteifung der Wirbelsäule festgestellt, zur Gewährung von Pflegegeld aber nicht Stellung genommen wurde. Die Landesversicherungsanstalt als damalige Versorgungsbehörde gewährte daraufhin nach dem Gesetz über Leistungen an Körperbeschädigte (KBLG) Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 80 v.H. und übernahm im wesentlichen die frühere Bezeichnung der zu entschädigenden Leiden. Am 27. April 1951 erteilte das Versorgungsamt ohne erneute versorgungsärztliche Untersuchung einen Umanerkennungsbescheid nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG), übernahm die anerkannten Leiden und die bis dahin festgestellte Minderung der Erwerbsfähigkeit um 80 v.H. und bewilligte dementsprechend Rente. In der Spalte "Pflegezulage (§ 35)" befindet sich auf dem Bescheidformblatt ein Strich.
Am 21. Mai 1952 beantragte der Kläger die Erhöhung der Rente wegen Verschlimmerung der Leiden und die Gewährung von Pflegezulage, da er sich nicht mehr selbständig ankleiden könne. Der Befund in der folgenden versorgungsärztlichen Untersuchung ergab keine wesentliche Änderung gegenüber dem von 1948. Das Versorgungsamt lehnte deshalb mit Bescheid vom 26. August 1952 die Gewährung einer höheren Rente und einer Pflegezulage ab.
Der Kläger hat gegen den Bescheid Berufung nach altem Recht eingelegt, die als Klage auf das Sozialgericht übergegangen ist. Er begehrte die Gewährung der Vollrente wegen Erwerbsunfähigkeit sowie von Pflegezulage. Als neue Folge der anerkannten Schädigung machte er Veränderungen in den Schultergelenken geltend und führte zunächst auf sie seine Hilflosigkeit zurück. Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 21. Juni 1954 die Klage abgewiesen und u.a. ausgeführt, die Veränderungen in den Schultergelenken seien keine Schädigungsfolgen.
In der beim Landessozialgericht eingelegten Berufung hat der Kläger verschiedene Angaben über seine Kriegsleiden gemacht, die Veränderungen in den Schultergelenken als wenig belangvoll bezeichnet und zuletzt die Gewährung von Pflegezulage wegen der anerkannten Schädigungsfolgen beantragt. Das Landessozialgericht hat die Berufung durch Urteil vom 30. September 1955 als unzulässig verworfen, weil Pflegezulage nur bei Neufestsetzung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse gewährt werden könne, so daß die Berufung nach § 148 Nr.3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht statthaft sei. Auch nach § 150 Abs.3 SGG sei die Berufung nicht zulässig; denn der ursächliche Zusammenhang der Veränderungen in den Schultergelenken sei nicht mehr Gegenstand des Berufungsverfahrens gewesen. Die Revision wurde zugelassen.
Der Kläger hat Revision eingelegt und gerügt, das Landessozialgericht habe die Berufung zu Unrecht als unzulässig angesehen. Auch seien die §§ 35, 62 und 86 Abs.3 BVG verletzt.
Er hat beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen, hilfsweise, den Beklagten zur Gewährung der Pflegezulage zu verurteilen.
Der Beklagte hat Zurückweisung der Revision beantragt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist nach § 162 Abs.1 Nr.1 SGG statthaft, weil das Landessozialgericht sie wegen der grundsätzlichen Bedeutung der zu entscheidenden Rechtsfrage zugelassen hat. Die Revision ist auch begründet.
Das Landessozialgericht hat angenommen, es handele sich um einen Fall der Neufestsetzung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse, weshalb die Berufung gemäß § 148 Nr.3 SGG ausgeschlossen sei. Die Ausnahmevorschrift des § 150 Nr.3 SGG komme nicht zur Anwendung, weil in der Berufungsinstanz der ursächliche Zusammenhang der vor dem Sozialgericht neu vorgebrachten Schulterbeschwerden mit dem Wehrdienst nicht mehr streitig gewesen sei. Diese Ausführungen geben in mehrfacher Hinsicht zu Bedenken Anlaß.
Wie das Bundessozialgericht zu § 148 Nr.2 SGG wiederholt entschieden hat, kommt es für die Zulässigkeit der Berufung nicht auf den Streitgegenstand im Berufungsverfahren an, sondern auf den Inhalt des angefochtenen Urteils (vgl. BSG. 1 S.225 ff; Urteil des 10. Senats vom 24.8.1956 - 10 RV 1065/55 - abgedruckt in "Das Sozialrecht" Gruppe D SGG § 148 a 2 Nr.6). Die gleichen Erwägungen, die zu § 148 Nr.2 SGG anzustellen sind, müssen auch für die Auslegung des § 150 Nr.3 Halbsatz 1 SGG gelten. Dies ergibt sich zunächst aus dem Wortlaut des Gesetzes, weil im Eingang dieser Vorschrift auf die §§ 144 bis 149 SGG - also auch auf § 148 SGG - Bezug genommen ist. In dem Urteil des 10. Senats ist bereits auf den engen Zusammenhang zwischen den Vorschriften über die Zulässigkeit der Berufung und der Verpflichtung des Sozialgerichts hingewiesen, die Berufung nach § 150 Nr.1 SGG im Urteil zuzulassen. Da das Sozialgericht die Zulassung der Berufung im Urteil auszusprechen hat, kann eine spätere Prozeßhandlung - wie die Rechtsmitteleinlegung oder gar die nachfolgende Beschränkung des zunächst unbeschränkt eingelegten Rechtsmittels - bei Prüfung der Zulassung des Rechtsmittels nicht berücksichtigt werden, wobei nur ergänzend erwähnt sei, daß nach § 151 Abs.3 SGG für den Berufungskläger weder ein Begründungszwang noch die Pflicht besteht, in der Berufungsschrift einen bestimmten Antrag zu stellen. Würde der Ansicht des Landessozialgerichts gefolgt, könnte die Zulässigkeit der Berufung erst im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung über dieses Rechtsmittel beurteilt werden. Ein solches Ergebnis verbietet sich schon aus Gründen der Rechtssicherheit; bei nachträglicher Beschränkung der Berufung würde sogar ihre Zulassung durch das Sozialgericht selbst bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 150 Nr.1 SGG unmöglich werden, was vom Gesetz nicht gewollt sein kann. Die Zulassung des Rechtsmittels nach § 150 Nr.1 SGG steht nicht nur mit den §§ 144 bis 149 SGG in Zusammenhang, sondern auch mit § 150 Nr.3 SGG; denn ebenso wie der ausschließlich unter die erstgenannten Vorschriften fallende Inhalt der Entscheidung des Sozialgerichts die Prüfung der Zulassung notwendig macht, wird diese in den Fällen des § 150 Nr.3 SGG entbehrlich.
Zum gleichen Ergebnis führt auch ein Vergleich der beiden Halbsätze der Nr.3 des § 150 SGG. Im zweiten Halbsatz ist bestimmt, daß die Berufung zulässig ist, wenn das Sozialgericht eine Gesundheitsstörung nicht als feststellbar erachtet hat; maßgebend ist demnach - auch hier - das Urteil des Sozialgerichts. Diese Vorschrift steht im gleichen Satz, also im engsten Zusammenhang mit der des Halbsatzes 1, und muß deshalb zur Auslegung der nicht ganz so eindeutigen Wortfassung des Halbsatzes 1 herangezogen werden. Da keine Gründe dafür ersichtlich sind, in den Fällen des Halbsatzes 1 für die Zulässigkeit der Berufung nicht wie im Halbsatz 2 auf die Entscheidung des Sozialgerichts abzustellen - im Gegenteil der oben dargelegte Zusammenhang mit § 150 Nr.1 SGG gerade dafür spricht -, können die Worte "streitig ist" im Halbsatz 1 ebenfalls nur auf das Urteil des Sozialgerichts bezogen werden. Dessen Inhalt ist daher in allen Fällen der Nr.3 des § 150 SGG für die Zulässigkeit der Berufung entscheidend.
Nach dem Urteil des Sozialgerichts bestand Streit darüber, ob die Vermehrung der Beschwerden in den Schultergelenken als Wehrdienstbeschädigung anzuerkennen sei. Das Landessozialgericht hätte daher die Berufung schon nach § 150 Nr.3 SGG für zulässig ansehen und zur Sache selbst entscheiden müssen. Sein Urteil beruht auf diesem wesentlichen Mangel des Verfahrens, da der Vorderrichter bei Beachtung der verletzten Vorschrift möglicherweise anders entschieden hätte. Das Urteil des Landessozialgerichts war daher aufzuheben.
Im übrigen sind die Ausführungen des Landessozialgerichts auch insoweit, als es seine Entscheidung auf § 148 Nr.3 SGG stützt, nicht frei von Rechtsirrtum. Das Urteil nimmt dabei wesentlich auf eine Entscheidung des früheren Reichsversorgungsgerichts vom 18. Januar 1927 Bezug (Entscheidungen des RVGer. Bd.6, S.217 Nr.58). Dieser Entscheidung lag jedoch ein wesentlich anderer Sachverhalt zu Grunde. In dem vom Reichsversorgungsgericht entschiedenen Fall hatte das Versorgungsamt bereits früher die Gewährung der Pflegezulage geprüft und abgelehnt, der angefochtene Bescheid befaßte sich mit einem erneuten Antrag auf Gewährung der Pflegezulage nach rechtskräftig gewordener Ablehnung. In dem hier zur Entscheidung stehenden Fall dagegen hat das Versorgungsamt vor Einleitung des jetzigen Verfahrens über Gewährung oder Ablehnung der Pflegezulage noch keinen Bescheid erteilt, insbesondere enthält der Umanerkennungsbescheid vom 27. April 1951 keine Entscheidung über die Pflegezulage. Zwar ist in dem Formblatt bei der rechnerischen Feststellung der Rente in der für die Pflegezulage vorgesehenen Spalte ein Strich enthalten. Dies kann aber nicht als eine bescheidmäßige Versagung der Pflegezulage angesehen werden.
Seinem Wesen nach ist der Bescheid vom 27. April 1951 ein Verwaltungsakt. Er konnte zwar, wenn er nicht angefochten wurde, in Rechtskraft erwachsen und dann an die Stelle einer gerichtlichen Entscheidung treten. Durch diese Eigenschaft wurde er aber seines Charakters als Verwaltungsakt nicht entkleidet. Nach der neueren Rechtslehre und Rechtsprechung vom Verwaltungsakt muß dieser hinsichtlich seines Rechtsausspruchs und seiner Begründung klar sein und das erkennen lassen, was die angenommene Rechtsfolge begründet (vgl. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 6.Aufl., 1956, 1.Bd. § 11 S.195, § 12 S.221).
Schon vor Erlaß des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren in der Kriegsopferversorgung vom 2. Mai 1955 (BGBl. I S.202) sind diese Erfordernisse an den Bescheid als Verwaltungsakt in der Kriegsopferversorgung zu stellen (§ 30 Abs.2 KBLG). Die Ablehnung von Versorgungsbezügen muß daher so begründet werden, daß der Verletzte die Möglichkeit hat, im Rechtszuge gegen die Begründung Stellung zu nehmen und sie substantiiert anzugreifen. Im vorliegenden Fall ist weder ersichtlich, ob das Versorgungsamt die rechtlichen Voraussetzungen für Gewährung einer Pflegezulage - Hilflosigkeit des Versorgungsberechtigten - überhaupt geprüft hat, noch aus welchen Gründen etwa eine Ablehnung erfolgte. Die Einsetzung eines Striches in ein Formblatt genügt nicht, um den Willen, eine Versorgungsleistung abzulehnen, zum Ausdruck zu bringen und einen rechtsförmlichen Verwaltungsakt zu setzen.
Diese neuerdings allgemeine Auffassung vom Verwaltungsakt ist in der Rechtsprechung der Sozialversicherung im übrigen seit jeher vertreten worden, vgl. insbesondere die Rekursentscheidung Nr.1490 des früheren RVA vom 5.März 1894 (AN 1896 S.240). Dort ist ausdrücklich ausgesprochen, daß durch bloßes Übergehen ein Anspruch nicht aberkannt werden kann. Dies steht auch nicht im Gegensatz zu der Grunds. Entscheidung des 3. Senats des Reichsversorgungsgerichts vom 10. Juni 1929 (Bd. 8 S.256). Denn die dortige Bemerkung, Versorgungsgebührnisse, die nicht besonders zuerkannt seien, gelten als aberkannt, trägt diese Entscheidung nicht, sondern ist nur nebenbei gemacht.
Da es sich im vorliegenden Fall demnach um die erstmalige Feststellung der Pflegezulage handelt, kann diese nicht, wie die Neufeststellung von Versorgungsbezügen, von den Voraussetzungen des § 62 BVG abhängig gemacht werden. Die Berufung war daher auch nach § 148 Nr.3 SGG nicht ausgeschlossen. Wieweit im übrigen die in dem angeführten Urteil des fr. Reichsversorgungsgerichts vom 18. Januar 1927 (Bd. 6 S. 217) sonst zum Ausdruck gebrachten Rechtssätze, insbesondere über die Einheitlichkeit des Rentenanspruchs auch für den Bereich des seit 1945 geltenden Versorgungsrechts anzuwenden sind, brauchte hier nicht entschieden zu werden.
Nach Aufhebung des Urteils konnte der Senat in der Sache nicht selbst entscheiden, da noch Feststellungen tatsächlicher Art zu treffen sind. Der Rechtsstreit wurde daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückverwiesen. Das Landessozialgericht wird im weiteren Verfahren zu prüfen und festzustellen haben, ob und inwieweit der Kläger infolge der anerkannten oder etwa anzuerkennenden Schädigungsfolgen so hilflos ist, daß er nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen kann. Da bei dem Kläger außer den anerkannten zahlreiche andere Leiden vorliegen, wird außerdem zu prüfen und festzustellen sein, ob eine etwaige Hilflosigkeit in einem solchen Umfang auf die anerkannten Gesundheitsstörungen zurückzuführen ist, daß die Gewährung von Pflegezulage gerechtfertigt erscheint.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen