Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 15. März 1973 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
In diesem Rechtsstreit ist umstritten, ob die Beklagte bei der Berechnung der Rente des Klägers Versicherungsbeiträge wegen neben Barlohn gewährter Sachbezüge höher zu bewerten hat, obwohl die Sachbezüge bei der Höhe der entrichteten Beiträge nicht berücksichtigt worden sind (Art. 2 § 55 Abs. 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes – ArVNG – idF des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes – RVÄndG – vom 9.6.1965).
Der 1906 geborene Kläger arbeitete von 1924 bis 1936 in der Landwirtschaft. Er erhielt von 1924 bis 1929 Barlohn und freie Kost und Unterkunft; von 1930 bis 1936 erhielt er außer einem Barlohn von jährlich 680 Reichsmark Deputate (Getreide, Kartoffeln usw.) etwa im Wert des Barlohns. Die Sachbezüge wurden bei der Beitragsentrichtung nicht berücksichtigt.
Die Beklagte bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 21. Juli 1969 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vom 1. April 1969 an. Bei der Berechnung der Rente ging sie auch für die Zeit von 1924 bis 1936 nur von den in den Aufrechnungsbescheinigungen angegebenen Beiträgen aus.
Der Kläger begehrt mit seiner Klage, der Berechnung der Rente Tabellenwerte nach den Anlagen zu Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG für die Zeit von 1924 bis 1936 zugrunde zu legen. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte verurteilt, die Rente des Klägers nach Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG zu errechnen und Tabellenwerte für die Zeit vom 1. Januar 1924 bis 30. Juni 1930 nach der Leistungsgruppe 3 und für die Zeit vom 1. Juli 1930 bis 31. Dezember 1936 nach der Leistungsgruppe 2 der Anlage 2 zu Art. 2 § 55 ArVNG zugrunde zu legen. Es hat im wesentlichen sinngemäß ausgeführt, Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG setze nicht voraus, dass die Sachbezüge, die der Versicherte erhalten habe, bei der Entrichtung der Versicherungsbeiträge berücksichtigt worden seien. Der Grundgedanke des Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG gehe dahin, Beitragsleistungen, die aufgrund von Sachbezügen zu niedrig gewesen seien, aufzuwerten. Die geringen Beitragsleistungen könnten durch die Mitversicherung niedrig bewerteter Sachbezüge bedingt sein, aber auch dadurch, dass die Sachbezüge nicht in der Versicherung einbezogen worden seien.- Die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 15.März 1973).
Die Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie ist der Auffassung, in der bisherigen Rechtsprechung konme zum Ausdruck, dass bei Art. 2 § 55 ArVNG eine "Unterbewertung" der Sachbezüge zu beachten sei. Dies setze voraus, dass die Sachbezüge bei der Bemessung der Beiträge in irgendeiner Form, jedoch nicht ihrem wahren Wert entsprechend, berücksichtigt worden seien. Sie weist auf die Entscheidungen des Bundessozialgerichts - BSG - in SozR Nr. 5, 7, 8, 12, 13 zu Art. 2 § 55 ArVNG hin.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen. Er meint, auch unversicherte Sachbezüge würden von Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG erfaßt.
Die Revision ist zulässig, jedoch unbegründet. Die Verurteilung der Beklagten durch das LSG entspricht dem Gesetz. Die Beklagte hat bei der Ermittlung der für den Kläger maßgeblichen Rentenbemessungsgrundlage für die Zeit von 1924 bis 1936 von den Lohn- und Beitragsklassen nach den Anlagen zu Art. 2 § 55 Abs. 2 ArNVG auszugehen, soweit die entrichteten Beiträge nicht höher sind.
Art. 2 § 55 Abs. 2 ArNVG ist hier in der Fassung des Art. 2 § 1 Nr. 11 RVÄndG anzuwenden (Art. 5 § 10 RVÄndG).
Diese Vorschrift setzt nicht voraus, daß die Sachbezüge bei der Höhe der entrichteten Beiträge schon mitberücksichtigt worden sind. Eine solche Voraussetzung ergibt sich weder aus dem Wortlaut noch aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift noch aus ihrer Entstehungsgeschichte. Die Vorschrift verlangt nur, daß der Versicherte während mindestens 5 Jahren für eine versicherungspflichtige Beschäftigung neben Barbezügen auch Sachbezüge in wesentlichem Umfang erhalten hat. Die Sachbezüge müssen neben dem Barlohn Entgelt für die Beschäftigung, für die die Beiträge entrichtet worden sind, gewesen sein. Dies ergibt sich aus den Worten „für eine versicherungspflichtige Beschäftigung”.
In den von der Revision angeführten Entscheidungen des BSG wird zwar von „unterbewerteten” Sachbezügen gesprochen; jedoch wird dies nicht als Gegensatz zu „nicht bewerteten” Sachbezügen verstanden. Anlaß für die Höherbewertung gemäß Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG ist eine Unterbewertung der Sachbezüge bei der Beitragsbemessung infolge der früher festgesetzten niedrigen Sachbezugswerte. Die Unterbewertung von Sachbezügen ist der Regelfall, der zu der Höherbewertung nach Art. 2 § 55 ArVNG führt. Demgegenüber ist die Nichtbewertung von Sachbezügen, die für eine Beschäftigung neben Barbezügen gewährt wurden, bei der Beitragsbemessung die Ausnahme; denn die Sachbezüge waren nach § 160 Reichsversicherungsordnung (RVO) beitragspflichtiges Entgelt, so daß ihre Nichtberücksichtigung gesetzwidrig war. Die Worte „unterbewertete” Sachbezüge werden nur vereinfachend in Anlehnung an die Regelfälle des Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG gebraucht.
Aus der Entstehungsgeschichte des Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG läßt sich nicht herleiten, daß zu Unrecht beitragsmäßig nicht bewertete Sachbezüge an der Höherbewertung nicht teilnehmen sollen. Bei den Beratungen im Bundestag wurde gesagt, daß insbesondere Landarbeiter, Hausgehilfinnen und Krankenschwestern in den vergangenen Jahrzehnten immer unterversichert gewesen seien, weil die Sach- und Dienstleistungen, die sie in Form von Deputaten, freier Kost und Wohnung erhalten hätten, stets unterbewertet worden seien (2. Deutscher Bundestag, 186. Sitzung, Stenografische Berichte Seite 10.451, 10.465). Die Verhandlungen ergeben nicht, daß bei zu Unrecht unversichert gebliebenen Sachbezügen die entrichteten Beiträge nicht höher bewertet werden sollen.
In der Bundesratsdrucksache 319/64, Seite 30, ist zur Begründung der neuen Fassung des Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG durch das RVÄndG ausgeführt, daß Kleinstrenten bei Beschäftigten der Land-, Forst- und Hauswirtschaft vor allem auf die Unterbewertung der Sachbezüge, die dieser Personenkreis neben Barlohn erhalten habe, zurückzuführen sei; deshalb sei nun ein erhöhtes Arbeitsentgelt zugrunde zu legen. Auch hier spricht nichts dafür, daß bei nicht bewerteten Sachbezügen keine Höherbewertung durchzuführen sei. Gellhorn, „Erläuterungen zum Gesetz zur Beseitigung von Härten in den gesetzlichen Rentenversicherungen und zur Änderung sozialrechtlicher Vorschriften”, Bundesarbeitsblatt (BABl) 1965, 594, geht ausdrücklich davon aus, daß auch bei unversichert gebliebenen Sachbezügen ein Ausgleich nach Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG stattfinden soll. Er erwähnt dazu, bei einer Untersuchung der Gründe, die – trotz langjähriger Beschäftigungsverhältnisse – zu niedrigen Renten geführt haben, sei festgestellt worden, daß in vielen Fällen nur für die Barbezüge Beiträge entrichtet worden seien. Bei der Darlegung, wie die Fehler der Vergangenheit am besten zu beseitigen seien, führt er an, man hätte auch dem Entgelt zum Ausgleich der Unterbewertung einen einheitlichen Betrag hinzurechnen können; dabei hätten aber die Versicherten, für die nur Beiträge nach den Barbezügen entrichtet worden seien, nicht den notwendigen Ausgleich erhalten.
Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG will somit allgemein den Nachteil ausgleichen, den versicherte Beschäftigte erleiden würden, die neben Barentlohnung auch Sachbezüge als Entgelt erhielten. Dem entspricht es, die Vorschrift auch bei den Ausnahmefällen der beitragsmäßigen Nichtbewertung von Sachbezügen anzuwenden. Die Versicherten, die vor 1957 neben ihren Barbezügen als Entgelt für eine versicherungspflichtige Beschäftigung in wesentlichem Umfang Sachbezüge erhalten haben, sollen durch die Höherbewertung ihrer Beiträge entschädigt werden. Mit diesem Zweck des Gesetzes stände es nicht im Einklang, wenn gerade diejenigen Versicherten von der Vergünstigung ausgenommen würden, die durch die stärkste Art der Unterbewertung, nämlich die Nichtbewertung der Sachbezüge bei der Beitragsentrichtung, am meisten betroffen würden.
Gegen die Auffassung der Beklagten spricht schließlich noch die bei der praktischen Anwendung des Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG auftauchende Frage, wie im Einzelfall, insbesondere bei einer Beitragsentrichtung nach Beitragsklassen durch Verwendung von Beitragsmarken, festzustellen wäre, ob Sachbezüge bei der Beitragsleistung unbewertet geblieben sind oder berücksichtigt, wenn auch unterbewertet, wurden.
Somit war die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes.
Unterschriften
Penquitt, Müller, Geyser
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 05.11.1974 durch Giesler RegHauptsekretär Schriftführer
Fundstellen