Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch auf Kostenerstattung bei selbstbeschafftem Hilfsmittel
Leitsatz (amtlich)
Ein Beschädigter hat dann Anspruch auf Erstattung der Kosten für eine selbstbeschaffte Sachleistung, wenn er durch einen Notfall zur Selbstbeschaffung gezwungen war oder die Versorgungsverwaltung die Sachleistung zuvor rechtswidrig abgelehnt hatte oder wenn von vornherein feststand, daß die Sachleistung abgelehnt werden würde (Ergänzung zu BSG vom 4.10.1984 – 9a RVi 1/84 = SozR 3100 § 18 Nr 9).
Stand: 24. Oktober 2002
Normenkette
BVG § 18 Abs. 4 S. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 26. Februar 1996 und des Sozialgerichts Ulm vom 3. August 1995 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in sämtlichen Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Bei dem 1922 geborenen kriegsbeschädigten Kläger, der Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse ist, erkannte der Beklagte 1975 als weitere Schädigungsfolge eine traumatische „Innenohrschwerhörigkeit beiderseits” an. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) hierfür schätzte der Beklagte mit 15 vH ein, die (Gesamt-)MdE setzte er deshalb von zuvor 50 ab 1. Januar 1969 auf 60 vH herauf. Jeweils 1978 und 1989 versorgte er den Kläger mit einem Hörgerät. Am 5. Juli 1994 beantragte der Kläger die Versorgung mit einem neuen Hörgerät. Bevor über den Antrag entschieden worden war, beschaffte der Kläger sich am 2. August 1994 selbst ein neues Hörgerät. Mit Bescheid vom 10. Oktober 1994 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Der Kläger sei inzwischen überwiegend durch eine schädigungsunabhängige Verschlechterung seines Hörvermögens auf ein Hörgerät angewiesen. Die MdE wegen Schwerhörigkeit betrage nunmehr insgesamt 50 vH. Davon entfielen unverändert nur 15 vH auf die knalltraumatische und deshalb schädigungsbedingte Komponente, 35 vH und damit der überwiegende Anteil sei schädigungsfremd. Auch der Widerspruch hatte keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 24. Januar 1995).
Das Sozialgericht (SG) hat die Bescheide aufgehoben und den Beklagten verurteilt, dem Kläger die Kosten der selbstbeschafften Hörhilfe zu erstatten (Urteil vom 3. August 1995). Die Berufung des Beklagten wurde zurückgewiesen. Der Kläger sei wegen der schädigungsbedingten Schwerhörigkeit weiterhin mit Hörgeräten zu versorgen, obwohl sich inzwischen schädigungsunabhängig das Hörvermögen weiter verschlechtert habe und auch ohne die Schädigungsfolge ein Hörgerät notwendig sei (Urteil vom 26. Februar 1996).
Der Beklagte macht mit der Revision geltend, das angegriffene Urteil beruhe auf einer fehlerhaften Anwendung der dem § 10 iVm § 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) zugrundeliegenden Kausalitätsnorm der wesentlichen Bedingung. Im Rahmen der orthopädischen Versorgung bestehe Anspruch auf Hörhilfe nur, wenn die Schwerhörigkeit wesentlich durch anerkannte Schädigungsfolgen verursacht sei.
Der Beklagte beantragt (sinngemäß),
die Urteile des Sozialgerichts Ulm vom 3. August 1995 und des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 26. Februar 1996 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die angegriffenen Urteile für richtig.
Die im Revisionsverfahren auf ihren Antrag beigeladene Bundesrepublik Deutschland (§§ 168 Satz 2, 75 Abs 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫, § 4 Abs 6 Satz 2 Schwerbehindertengesetz) schließt sich dem Vorbringen des Beklagten an und weist ergänzend auf Rundschreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (BMA) vom 8. Juli 1980 (BArbBl 9/1980, S 111) und vom 19. Juli 1990 (BArbBl 9/1990, S 82) hin.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Beklagten ist begründet. Der Kläger hat – entgegen der Auffassung der Vorinstanzen – keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten für das selbstbeschaffte Hörgerät. Der Anspruch scheitert schon an den formellen Voraussetzungen für eine Kostenerstattung.
Nach § 18 Abs 4 Satz 1 BVG (idF des KOVStruktG 1990) sind die Kosten, wenn der Berechtigte eine Heil- oder Krankenbehandlung selbst durchgeführt hat, in angemessenem Umfang zu erstatten, wenn unvermeidbare Umstände die Inanspruchnahme der Verwaltungsbehörde unmöglich machten. Unvermeidbare Umstände iS des § 18 Abs 4 Satz 1 BVG lagen hier nicht vor.
In Anlehnung an die Rechtsprechung auf dem Gebiet der gesetzlichen Krankenversicherung (vgl dazu BSG SozR 2200 § 182 Nr 86 zum alten Recht; BSGE 73, 271, 273 ff = SozR 3-2500 § 13 Nr 4; BSGE 77, 102, 106 f = SozR 3-2500 § 38 Nr 1; Schulin in Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 1 Krankenversicherungsrecht, § 6 RdNrn 133 ff zum neuen Recht) ist auch im Versorgungsrecht ein Anspruch auf Kostenerstattung zu bejahen, wenn die Verwaltungsbehörde eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder eine beantragte Leistung zu Unrecht abgelehnt hat (vgl dazu Urteil des Senats vom 9. April 1997 – 9 RV 23/95 –, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen und Verwaltungsvorschrift ≪VV≫ zum BVG, § 18 Nr 3). Der rechtswidrigen Ablehnung ist der Fall gleichzustellen, daß die Verwaltungsbehörde die Gewährung der Sachleistung auch bei rechtzeitiger Antragstellung verweigert hätte (für das Versorgungsrecht s BSG SozR 3100 § 18 Nr 9). Hier liegt keine der genannten Ausnahmen vom Sachleistungsprinzip des § 18 Abs 1 BVG vor.
1. Der Kläger war nicht aufgrund eines Notfalls gezwungen, sich das neue Hörgerät zu beschaffen. Das folgt schon daraus, daß er nach Antragstellung noch drei Wochen wartete, bis er sich die ärztliche Verordnung über eine neue Hörhilfe ausstellen ließ (Verordnung von Dr. K. … vom 25. Juli 1994).
2. Der Kläger kann sich aber auch nicht mit Erfolg darauf berufen, daß von vornherein mit einer Ablehnung seines Leistungsantrags durch den Beklagten zu rechnen gewesen wäre. Vielmehr war im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung der Hörhilfe am 2. August 1994 ungewiß, wie die Versorgungsverwaltung über seinen Leistungsantrag entscheiden würde. Zwar stand damals bereits generell fest, daß der Beklagte entsprechend dem Rundschreiben des BMA vom 19. Juli 1990 (aaO) die Versorgung mit einem (neuen) Hörgerät bei Überwiegen des schädigungsfremden Anteils am Hörverlust ablehnt. Daß ein solcher Fall hier vorlag, stellte sich aber erst mit der versorgungsärztlichen Stellungnahme des Obermedizinalrats R. … vom 30. September 1994 heraus, mithin erst zwei Monate nach Selbstbeschaffung des Geräts.
3. Schließlich kann der Anspruch auf Kostenerstattung nicht mit der Begründung bejaht werden, der Beklagte habe die Entscheidung über den Antrag unzumutbar verzögert und den Kläger dadurch zur Selbstbeschaffung veranlaßt. Wenn eine Verwaltungsentscheidung nicht in angemessener Frist ergeht, kann gemäß § 88 SGG eine Untätigkeitsklage erhoben werden. Die Voraussetzungen für eine solche Klage lagen hier aber schon deshalb nicht vor, weil der Kläger nach der Antragstellung vom 5. Juli 1994 nicht sechs Monate auf die Entscheidung des Beklagten gewartet hat. Im übrigen hätte die Selbstbeschaffung nach der Antragstellung nur dann einen Anspruch auf Kostenerstattung begründet, wenn – was nicht der Fall war – inzwischen ein Notfall eingetreten wäre.
Es fehlt ersichtlich auch an jedem Anhaltspunkt dafür, daß hier Umstände vorgelegen haben, die zusätzlich zu den oben genannten Fällen in der VV Nr 2 zu § 18 BVG als unvermeidbar iS des § 18 Abs 4 Satz 1 BVG bezeichnet werden.
Auf die Revision waren daher die vorinstanzlichen Entscheidungen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung erfolgt aus § 193 SGG.
Fundstellen
SozR 3-3100 § 18, Nr.4 |
SozSi 1998, 279 |