Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen für den Erstattungsanspruch nach § 104 SGB 10 Ermessensausübung bei der Gewährung von Maßnahmen zur Rehabilitation. Aufenthalt in einem Übergangswohnheim als medizinische Maßnahme
Orientierungssatz
1. § 104 Abs 1 S 1 SGB 10 gibt dem nachrangig verpflichteten Leistungsträger einen Anspruch, der selbständig und unabhängig vom Anspruch des Berechtigten gegen den vorrangig verpflichteten Träger entsteht. Der Berechtigte muß durch den anderen Träger eine gleichartige und zeitgleiche Leistung erhalten haben (Anschluß an BSG vom 14.5.1985 4a RJ 21/84 = SozR 1300 § 104 Nr 1 und BSG vom 17.11.1987 4a RJ 5/87 = SozR 2200 § 1237 Nr 21).
2. Wenn es in § 1236 Abs 1 S 1 RVO heißt, daß der Versicherungsträger Leistungen zur Rehabilitation erbringen "kann", so ist ihm damit kein Ermessensspielraum für die Eingangsprüfung eingeräumt worden, ob er überhaupt leisten muß (Anschluß an BSG vom 2.10.1984 5b RJ 106/83 = BSGE 57, 157 und BSG vom 15.11.1989 5 RJ 1/89 und BSG vom 16.11.1989 5 RJ 3/89).
3. Zur Frage, ob auch eine nicht ärztlich geleitete oder überwachte pädagogische Leistung eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme iS des § 1237 RVO sein kann, hier der Aufenthalt in einem Übergangswohnheim (Anschluß an BSG vom 15.11.1989 5 RJ 1/89).
Normenkette
RVO § 1236 Abs 1 S 1, § 1236 Abs 1 S 5, § 1237; SGB 10 § 104 Abs 1 S 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger, überörtlicher Träger der Sozialhilfe, begehrt von der Beklagten die Erstattung von Kosten, die durch den Aufenthalt des Beigeladenen im Übergangswohnheim Lübbecke in der Zeit vom 2. Februar 1984 bis zum 31. August 1985 entstanden sind.
Der im Jahre 1952 geborene Beigeladene war bis 1973 mit Unterbrechungen als ungelernter Polsterer und Dekorateur beschäftigt. Danach leistete er bis 1975 Wehrdienst. Kurzzeitig war er erneut 1981 versicherungspflichtig beschäftigt. Ab 11. Juni 1983 wurde der Beigeladene im Westfälischen Landeskrankenhaus in Lengerich behandelt, weil Schnittverletzungen am Unterarm, die er sich selbst zugefügt hatte, eine akute Suizidgefahr vermuten ließen. Die Kosten dieser stationären Behandlung trug der Kläger, ebenso diejenigen der Therapie im Rahmen der Eingliederungshilfe ab 16. September 1983 wegen Tendenzen zur Selbstverletzung bei einer länger dauernden depressiven Reaktion und sozialer Isolation. Am 2. Februar 1984 wurde der Beigeladene aus dem Westfälischen Landeskrankenhaus entlassen und auf Empfehlung der Ärzte, die ihn dort behandelt hatten, im Übergangswohnheim Lübbecke, einer Einrichtung des Förderkreises für psychisch Erkrankte und Behinderte - Club 74 -, aufgenommen. Ab 1. September 1985 hat er eine eigene Wohnung und ab Mai 1985 war er als Prospektverteiler ganztägig beschäftigt.
Den Antrag des Beigeladenen vom 12. Dezember 1983, ihm medizinische Maßnahmen zur Rehabilitation zu gewähren, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 19. Januar 1984 ab. Daraufhin sicherte der Kläger für den Aufenthalt des Beigeladenen in dem erwähnten Übergangswohnheim Eingliederungshilfe zu und machte insoweit einen Erstattungsanspruch bei der Beklagten geltend. Diese teilte dem Kläger mit Schreiben vom 1. März 1984 mit, es handele sich bei der von ihm erwähnten Maßnahme nicht um eine solche zur medizinischen Rehabilitation.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger die Kosten der Unterbringung des Beigeladenen im Übergangswohnheim Lübbecke zu erstatten (Urteil vom 19. Dezember 1986). Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG abgeändert und die Klage abgewiesen (Urteil vom 11. Oktober 1988). § 149 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) stehe einer Statthaftigkeit der Berufung nicht entgegen. Einen Erstattungsanspruch nach § 104 des Sozialgesetzbuches - Zusammenarbeit der Leistungsträger und ihre Beziehungen zu Dritten - (SGB X) hat das Berufungsgericht verneint, weil die dem Beigeladenen gewährte Maßnahme keine die Leistungspflicht der Beklagten begründende medizinische Rehabilitation gewesen sei. Sie sei weder medizinisch iS des § 1237 der Reichsversicherungsordnung (RVO) noch mit dem in § 1236 Abs 1 RVO normierten finalen Zweck der Sicherung oder einer Herstellung der Erwerbsfähigkeit an den Beigeladenen erbracht worden. Die berufliche Rehabilitation sei lediglich einer unter mehreren Lernschritten zum Erreichen des eigentlichen Maßnahmeziels gewesen. Dieses sei eindeutig von der Wiedereingliederung in das gemeinschaftliche Leben geprägt worden. Bei der Maßnahme handele es sich weder um eine ärztliche Leistung noch sei sie ärztlich angeordnet oder überwacht worden. Der Auffassung des Bundessozialgerichts (BSG), wonach auch eine nicht ärztlich geleitete oder überwachte pädagogische Leistung eine medizinische Maßnahme zur Rehabilitation iS des § 1237 RVO sein könne (vgl BSGE 54, 54 und BSG in SozR 2200 § 1237 Nr 21), hat sich das LSG nicht angeschlossen.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Er rügt eine Verletzung der §§ 1236 ff RVO, der §§ 1 und 10 des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation (RehaAnglG), des § 29 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - (SGB I), des § 2 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) sowie der Art 3 und 20 Abs 3 des Grundgesetzes (GG). Außerdem habe das LSG die Grenzen der freien Beweiswürdigung überschritten und gegen § 128 SGG verstoßen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger die Kosten für die Behandlung des Beigeladenen im Übergangswohnheim für psychisch Kranke - Club 74 - in Lübbecke in der Zeit vom 2. Februar 1984 bis zum 31. August 1985 (mit Ausnahme der Zeiten vom 14. bis zum 18. Juni 1984 und vom 1. bis 7. August 1984) zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung des LSG zur zutreffend.
Der Beigeladene ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers ist begründet. Die Beklagte hat - wie vom SG zutreffend entschieden - die Kosten zu erstatten, die durch den Aufenthalt des Beigeladenen im Übergangswohnheim in Lübbecke entstanden sind.
Der Erstattungsanspruch des Klägers basiert auf § 104 SGB X. Diese Vorschrift setzt in Abs 1 Satz 1 voraus, daß ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, die Voraussetzungen des § 103 Abs 1 SGB X (über das nachträgliche Entfallen einer Leistungspflicht) nicht erfüllt sind und der Berechtigte vorrangig einen Anspruch gegen den erstattungspflichtigen Leistungsträger hat oder hatte. Als Träger der Sozialhilfe war der Kläger nachrangig verpflichtet, dem Beigeladenen die erbrachten Leistungen zu gewähren, wie sich aus § 2 BSHG ergibt (vgl Urteil des BSG vom 17. November 1987 in SozR 2200 § 1237 Nr 21 mwN).
§ 104 Abs 1 Satz 1 SGB X gibt dem nachrangig verpflichteten Leistungsträger einen Anspruch, der selbständig und unabhängig vom Anspruch des Berechtigten, des Beigeladenen (Versicherten), gegen den vorrangig verpflichteten Träger (der Rentenversicherung) entsteht. Jedoch sind beide Ansprüche eng miteinander verknüpft. Deshalb müssen alle wesentlichen Voraussetzungen des Anspruchs erfüllt sein, der dem Berechtigten gegen den vorrangig verpflichteten, beklagten Leistungsträger zusteht. Außerdem muß der Berechtigte durch den anderen (Sozialhilfe-) Träger eine gleichartige und zeitgleiche Leistung erhalten haben. Dieser Rechtsprechung des 4. Senats des BSG (vgl Urteile vom 14. Mai 1985 in SozR 1300 § 104 Nr 6 und vom 17. November 1987 aaO) schließt sich der erkennende Senat an.
Der Anspruch des Beigeladenen richtet sich nach den §§ 1236, 1237 RVO. Allgemein setzt § 1236 Abs 1 Satz 1 RVO voraus: es muß sich um einen Versicherten iS des Abs 1a der genannten Vorschrift handeln und seine Erwerbsfähigkeit muß wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung gefährdet oder gemindert sein. Nach den nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen oder Gegenrügen der Beklagten angegriffenen, somit für den erkennenden Senat gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG sind diese Voraussetzungen hier erfüllt. Insofern besteht unter den Beteiligten kein Streit. Der Beigeladene ist auf Empfehlung der Ärzte des Westfälischen Landeskrankenhauses Lengerich in das Übergangsheim in Lübbecke aufgenommen worden. Das Berufungsgericht ist ausdrücklich der ärztlichen Stellungnahme vom 15. September 1983 gefolgt und hat daraus zitiert, eine Entlassung des Beigeladenen aus der stationären Behandlung in sein altes soziales Umfeld würde ein erneutes Auftreten seiner Verhaltensstörungen nach sich ziehen. Deshalb werde die Unterbringung in einem Übergangswohnheim für unbedingt notwendig gehalten. Damit steht fest, daß eine solche Maßnahme aus ärztlicher Sicht erforderlich und die Erwerbsfähigkeit des Beigeladenen wegen Krankheit erheblich gefährdet oder gemindert war.
Das LSG ist im angefochtenen Urteil in Übereinstimmung mit der Beklagten zu dem Ergebnis gelangt, daß die dem Beigeladenen gewährte, den Streit hier auslösende Maßnahme keine die Leistungspflicht der Beklagten begründende medizinische Rehabilitation gewesen sei; denn die Maßnahme sei weder als medizinische iS des § 1237 RVO noch mit dem in § 1236 Abs 1 RVO geforderten finalen Zweck der Sicherung oder Herstellung der Erwerbsfähigkeit des Beigeladenen erbracht worden.
Dieser Auffassung vermochte der erkennende Senat nicht zuzustimmen. Er hat bereits folgendes entschieden: Wenn es in § 1236 Abs 1 Satz 1 RVO heißt, daß der Versicherungsträger Leistungen zur Rehabilitation erbringen "kann", so ist ihm damit kein Ermessensspielraum für die Eingangsprüfung eingeräumt worden, ob er überhaupt leisten muß. Die Bestimmung des "Wie" der Rehabilitation nach § 1236 Abs 1 Satz 5 RVO ist hingegen vom Versicherungsträger nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen. Dabei ist eine "Reduzierung des Ermessens auf Null" anzunehmen, wenn für eine Rehabilitationsmaßnahme "medizinische Notwendigkeit und Erfolgsaussicht" besteht. Der Träger der Rentenversicherung ist gehalten, sein Ermessen dahin auszuüben, daß die für die Erwerbsfähigkeit des Versicherten günstigste Maßnahme durchgeführt wird, wobei alle Versicherten in gleicher Lage auch in gleicher Weise zu fördern sind. Insoweit wird auf die Rechtsprechung des Senats im Urteil vom 2. Oktober 1984 (BSGE 57, 157, 161) sowie in den zur Veröffentlichung bestimmten Entscheidungen vom 15. und 16. November 1989 - 5 RJ 1/89 und 5 RJ 3/89 - verwiesen.
Der Auffassung des BSG, wonach auch eine nicht ärztlich geleitete oder überwachte pädagogische Leistung eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme iS des § 1237 RVO sein könne, hat sich das LSG nicht angeschlossen. Der 11. Senat des BSG hat am 12. August 1982 (BSGE 54, 54, 57 ff) entschieden, eine Drogenbehandlung in einer sozialtherapeutischen Wohngemeinschaft zur Wiederherstellung der Drogenabstinenz sei auch ohne Mitwirkung eines Arztes selbst dann eine medizinische Leistung iS des § 1237 RVO, wenn daneben noch weitere Verhaltensstörungen behoben, Allgemein- und Berufskenntnisse vermittelt würden und die Eingliederung in die Gesellschaft angestrebt werde. Der 4a Senat des BSG hat der Entscheidung des 11. Senats im Urteil vom 17. November 1987 (aaO) jedenfalls insoweit zugestimmt, als es auf die finale Ausrichtung der Rehabilitation abstellt und eine pädagogische, auf die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit ausgerichtete Maßnahme ("Stabilisierung der Persönlichkeit") als medizinische Leistung der Rehabilitation ausreichen läßt. Dieser Rechtsprechung hat sich der erkennende Senat in der bereits erwähnten Entscheidung vom 15. November 1989 - 5 RJ 1/89 - angeschlossen. Damit handelte es sich bei dem Aufenthalt des Beigeladenen im Übergangswohnheim in Lübbecke um eine medizinische Maßnahme iS des § 1237 RVO.
Im Urteil vom 16. November 1989 - 5 RJ 3/89 - hat der Senat folgendes ausgeführt: Würden die allgemeinen Leistungsvoraussetzungen - Versicherter gemäß § 1236 Abs 1a RVO, Erwerbsfähigkeit iS des § 1236 Abs 1 Satz 1 1. Halbsatz RVO erheblich gefährdet oder gemindert - bejaht, so sei der Rentenversicherungsträger in seiner Funktion als Rehabilitationsträger gefordert ("zuständig"). Damit werde für ihn die Überlegung notwendig, welchen Weg es gebe, auf die Erwerbsfähigkeit des Versicherten günstig (stabilisierend oder regenerierend) einzuwirken. Der Versicherungsträger dürfe sich nicht darauf beschränken, eine vom Versicherten schon konkret vorgeschlagene oder gewünschte Maßnahme bloß negativ als ungeeignet zu bezeichnen. Er habe vielmehr positiv in dem Sinne tätig zu werden, daß er aus dem Katalog der zur Verfügung stehenden, geeigneten Maßnahmen eine bestimmte nach seinem pflichtgemäßen Ermessen auswählt und diese zugunsten des Versicherten erbringt (so schon der Senat im Urteil vom 2. Oktober 1984 aaO). Die ärztlicherseits veranlaßte Aufnahme des Beigeladenen im Übergangswohnheim in Lübbecke entsprach dem finalen Zweck der Rehabilitation, die Erwerbsfähigkeit des Versicherten wiederherzustellen. Insoweit bestand eine Erfolgsaussicht, wie sich schon aus der vom LSG festgestellten Tatsache ergibt, daß der Beigeladene ab Mai 1985 wieder ganztägig erwerbstätig war.
Da die Beklagte sich nicht darauf beschränken durfte, die gewählte Maßnahme im Übergangswohnheim in Lübbecke abzulehnen, vielmehr dem Beigeladenen die ihrer Ansicht nach geeignete Rehabilitation wegen der grundsätzlich dazu bestehenden Verpflichtung gewähren mußte, hat sie ihre Fürsorgepflicht gegenüber dem Versicherten verletzt. Bei dieser Sach- und Rechtslage blieb der Beklagten kein ermessensfreier Raum mehr, die vom Kläger geltend gemachte Kostenübernahme abzulehnen (so Urteil des Senats vom 15. November 1989 unter Hinweis auf die Entscheidungen vom 12. August 1982 aaO und 2. Oktober 1984 aaO).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen