Leitsatz (redaktionell)

BVG § 35 Abs 1 S 1 - erheblicher Umfang der Hilfeleistung

1. Tätigkeiten wie das An- und Auskleiden, die Nahrungsaufnahme, die Körperreinigung und -pflege sowie die notwendige Versorgung der Gesundheitsstörungen gehören zu den wesentlichsten der "gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens".

Bedarf der Beschädigte hierbei regelmäßig fremder Hilfe, so bedarf er dieser auch in erheblichem Umfange, weil die Frage der Erheblichkeit nicht losgelöst vom Zweck der Pflegezulage als Mittel zur reinen Existenzsicherung betrachtet werden kann.

Im Urteil des BSG 1965-02-26 9/11 RV 660/63 = VersorgB 1965, 66, hat es das BSG als erforderlich angesehen, selbst einzelne Hilfeleistungen bei der Frage der Hilfsbedürftigkeit zu berücksichtigen, wenn sie regelmäßig erfolgen müssen und über das Maß einer nur geringfügigen Bestandsleistung hinausgehen.

Im Urteil des BSG 1963-04-24 11 RV 800/62 = KOV 1964, 57 hat das BSG Hilflosigkeit dann bejaht, wenn der Beschädigte lediglich bei einer einzigen, allerdings lebensnotwendigen Verrichtung in Form einer regelmäßig wiederkehrenden Heilmittelversorgung fremder Hilfe bedurfte. Es wurde also hier nicht eine bloß zahlenmäßige Wertung des Verhältnisses zwischen den hilfsbedingten und den ohne Hilfe möglichen Verrichtungen für angebracht gehalten.

2. Hilflosigkeit iS des BVG § 35 Abs 1 S 1 ist zu bejahen, wenn der Beschädigte unfähig ist, sich ohne fremde Hilfe an- und auszukleiden, zu waschen und zu baden, seine Wundränder zu versorgen und schließlich seine Nahrungsmittel zu zerkleinern, und wenn hinzutreten - wenigstens einmal wöchentlich auftretende - Schwindelanfälle mit dadurch bedingter Gangunsicherheit.

 

Normenkette

BVG § 35 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1966-12-28

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 17. Dezember 1971 abgeändert. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 11. Dezember 1969 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten um den vom Kläger erhobenen Anspruch auf Pflegezulage nach Stufe I gem. § 35 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG).

Der 1923 geborene Kläger, von Beruf Volksschullehrer, erhält Versorgungsbezüge nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 v. H. Als Schädigungsfolgen sind bei ihm anerkannt: "Pulsierender Knochendefekt am rechten Scheitelbein mit Hirnverletzung und linksseitiger Lähmung".

Anträge des Klägers auf Gewährung der Pflegezulage aus den Jahren 1955, 1957 und 1959 wurden abgelehnt. Während eines deshalb anhängigen Gerichtsverfahrens erging der Umanerkennungsbescheid des Beklagten vom 25. August 1965, in welchem er die eingangs genannten Schädigungsfolgen mit einer MdE um 80 v. H. übernahm. Mit seinem Widerspruch machte der Kläger u. a. erneut den Anspruch auf die einfache Pflegezulage geltend. Die Beteiligten beendeten das anhängige Gerichtsverfahren durch einen Vergleich, in welchem sich der Beklagte u. a. verpflichtete, im Rahmen des Widerspruchsverfahrens auch über die Frage der Pflegezulage sachlich neu zu entscheiden.

Im Widerspruchsbescheid vom 6. Februar 1967 lehnte der Beklagte u. a. die Gewährung der Pflegezulage ab, weil beim Kläger nicht Hilflosigkeit i. S. des § 35 BVG vorliege. Seiner Klage gab das Sozialgericht (SG) für das Saarland im Urteil vom 11. Dezember 1969 insoweit statt, als es den Beklagten verurteilte, dem Kläger ab 1. Juni 1960 die Pflegezulage nach Stufe I gem. § 35 BVG zu gewähren. Die vom Kläger weiterhin begehrte Erhöhung der MdE wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins lehnte das SG ab. Für seine zusprechende Entscheidung stützte sich das SG im wesentlichen auf seine Feststellung, daß der Kläger mindestens schon seit 1959 an häufigeren Schwindelanfällen leide, die zusammen mit der linksseitigen Lähmung eine derartige Gangunsicherheit bewirkten, daß er einer dauernden Hilfe bedürfe, um "weiter am täglichen Leben teilnehmen zu können und vor allen Dingen auch, um seinen Beruf auszuüben ...". Das SG berief sich auf die entsprechende Stellungnahme des im Termin zur mündlichen Verhandlung gehörten Sitzungsarztes Med. Rat Dr. G, ferner auf ein früheres Gutachten der Universitätsklinik H vom 14. April 1959 sowie auf ein von ihm eingeholtes Gutachten der Universitätsklinik H vom 28. Mai 1969.

Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) im Urteil vom 17. Dezember 1971 die Entscheidung des SG abgeändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen. Die Anschlußberufung des Klägers hat das LSG als unzulässig verworfen, weil die Entscheidung des SG über die vom Kläger zunächst ebenfalls begehrte Erhöhung der MdE rechtskräftig geworden sei; der Kläger habe nämlich wegen dieses eigenständigen prozessualen Anspruchs keine selbständige Berufung eingelegt.

In bezug auf die begehrte Pflegezulage sah das LSG das Merkmal der Hilflosigkeit i. S. von § 35 BVG beim Kläger nicht als erfüllt an, weil nämlich die Zahl der Verrichtungen, zu denen der Kläger eine fremde Hilfe benötige, nicht einen erheblichen Umfang erreiche. Nach den Feststellungen des LSG muß der Kläger bei folgenden Tätigkeiten fremde Hilfe in Anspruch nehmen: beim An- und Auskleiden, beim Zerkleinern der Speisen, beim Baden, bei der Reinigung des Kopfes sowie bei der Reinigung der Wundränder. Hierbei handelt es sich nach Meinung des LSG jedoch nur um einzelne Verrichtungen des täglichen Lebens, so daß sie im Verhältnis zu der Zahl jener Verrichtungen, die dem Kläger noch ohne fremde Hilfe möglich seien, nicht einen erheblichen Umfang erreichten.

Auch die beim Kläger auftretenden Schwindelanfälle, deren Vorhandensein das LSG auf Grund der Angaben des Klägers und der Ausführungen im o. a. Gutachten vom 28. Mai 1969 nicht in Zweifel zog, und die dadurch bedingte Gangunsicherheit führen nach Auffassung des LSG nicht zu einer anderen Beurteilung. Wie sich aus den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 11. Dezember 1969 ergebe, träten diese Anfälle manchmal wöchentlich, manchmal im Abstand von einigen Monaten auf. Hieraus folgerte das LSG, daß die Anfälle nach ihrer Häufigkeit und Schwere nicht hinreichend seien, um die Voraussetzungen der Hilflosigkeit zu bejahen; denn sie erforderten nicht die Bereitschaft einer ständigen Hilfsperson.

Auch die Notwendigkeit, den Kläger in die Schule zu fahren, begründet nach Meinung des LSG kein anderes Ergebnis. Für den Anspruch auf Pflegezulage komme es nur auf die Hilflosigkeit im höchstpersönlichen Lebensbereich an. Diese Voraussetzung lasse sich nicht damit begründen, daß ohne fremde Hilfe die Berufsausübung unmöglich wäre.

Dem Kläger stehe die Pflegezulage auch nicht unter Beachtung des § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG zu; denn er sei nicht erwerbsunfähig in dem dort genannten Sinn, weil seine Erwerbsfähigkeit nur um 80 v. H. gemindert sei.

Die Revision hat das LSG zugelassen. Sie wurde vom Kläger, dem das Berufungsurteil am 7. Januar 1972 zugestellt worden war, am 1. Februar 1972 eingelegt und begründet. Der Kläger ist der Meinung, daß das LSG den Begriff der Hilflosigkeit i. S. des § 35 BVG fehlerhaft ausgelegt habe. Einmal könne dem LSG nicht gefolgt werden, daß die Zahl der Verrichtungen, zu denen er fremde Hilfe benötige, nicht einen erheblichen Umfang erreiche. Die Maßstäbe und Kriterien für diesen Begriff sind seiner Meinung nach erfüllt, wenn die fremde Hilfe - wie hier - bei wesentlichen täglichen Lebensvoraussetzungen, wie An- und Auskleiden, der Nahrungsaufnahme und der Körperpflege regelmäßig in Anspruch genommen werden müsse. Zum anderen lasse die angefochtene Entscheidung nicht erkennen, daß das LSG die Voraussetzungen der Hilflosigkeit unter dem Gesichtspunkt des Zusammenwirkens der durch die Lähmung bedingten Behinderungen und der Folgen der Schwindelanfälle ausreichend geprüft habe. Das LSG habe beide Behinderungsursachen nur jeweils getrennt betrachtet, ohne eine ausreichende Gesamtwertung anzustellen.

Im übrigen habe das LSG § 35 BVG auch deswegen verletzt, weil es davon ausgegangen sei, daß die Verrichtungen, zu denen der Beschädigte fremder Hilfe bedürfe, überwiegen müßten. § 35 BVG verlange aber nur das Bedürfnis fremder Hilfe in erheblichem Umfange.

Der Kläger beantragt,

1.

das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 17. Dezember 1971 aufzuheben, soweit es unter Verneinung der Kostenerstattungspflicht das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 11. Dezember 1969 abgeändert und die Klage in vollem Umfange abgewiesen hat, sowie die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 11. Dezember 1969 zurückzuweisen;

2.

den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten;

3.

hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG für das Saarland zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Beide Beteiligte sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 SGG).

II

Die zulässige Revision des Klägers ist begründet. Soweit das LSG die Anschlußberufung des Klägers als unzulässig verworfen hat, ist sein Urteil rechtskräftig geworden, weil der Kläger insoweit Revisionsangriffe nicht erhoben hat. Im übrigen mußte das Berufungsurteil jedoch abgeändert werden. Das LSG durfte - wie schon das SG - über den streitigen Anspruch sachlich befinden, obwohl frühere Anträge des Klägers auf Gewährung der Pflegezulage bindend abgelehnt worden sind; denn mit dem angefochtenen Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Februar 1967 (§ 95 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) hat der Beklagte entsprechend dem Vorbringen des Klägers sachlich neu über diesen Anspruch entschieden und damit insoweit den Rechtsweg neu eröffnet (vgl. die Entscheidungen des erkennenden Senats in BSG 18, 22 und in SozR Nr. 17 zu § 85 BVG mit weiteren Nachweisen). Entgegen der Auffassung des LSG steht dem Kläger die begehrte Pflegezulage jedoch zu, weil er als hilflos i. S. von § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG anzusehen ist.

Nach dieser für den streitigen Zeitraum in ihrem hier maßgeblichen Wortlaut unveränderten Vorschrift erhält der Beschädigte eine monatliche Pflegezulage (von z. Zt. 163,- DM in der Stufe I), wenn er infolge der Schädigung so hilflos ist, daß er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens in erheblichem Umfang fremder Hilfe dauernd bedarf (vgl. § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG idF des 1., 2. und 3. Neuordnungsgesetzes - NOG -, BGBl I 1960 S. 453, 1964 S. 85, 1966 S. 750, sowie idF des 4. Anpassungsgesetzes vom 24.7.1972, BGBl I S. 1284).

Zutreffend hat das LSG hervorgehoben, daß es für die Beurteilung der Frage, ob dieses Tatbestandsmerkmal der Hilflosigkeit als Voraussetzung für den Anspruch auf die Pflegezulage vorliegt, einmal nur auf den rein persönlichen Lebensbereich des Beschädigten ankommt, also nicht auf Art und Weise seiner Behinderung in anderen Bereichen, und daß andererseits das Ausmaß der Abhängigkeit von fremder Hilfe bei den Verrichtungen des täglichen Lebens im persönlichen Bereich von entscheidender Bedeutung ist. Diese Auffassung ist im Anschluß an die Rechtsprechung bereits des Reichsversorgungsgerichts (vgl. z. B. RVG 2, 188; 6, 43; 7, 218) auch in zahlreichen Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) stets bestätigt worden (vgl. z. B. BSG 8, 97; 12, 20; 20, 205 mit weiteren Nachweisen).

Im vorliegenden Fall hat das LSG unangegriffen und daher für das BSG bindend (§ 163 SGG) festgestellt, daß der Kläger dauernd beim An- und Auskleiden, beim Zerkleinern von Speisen, beim Baden sowie bei der Reinigung des Kopfes und der Ränder seiner Verletzungswunde fremder Hilfe stets bedarf. Das LSG ist richtig davon ausgegangen, daß es sich bei diesen Vorgängen um gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens handelt, wie sie § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG voraussetzt (vgl. BSG aaO, ferner BSG in SozR Nr. 7 zu § 35 BVG, BSG in BVBl. 1963, 95). Das LSG hat allerdings bei der Wertung dieser von fremder Hilfe abhängigen Verrichtungen im Rahmen des § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG den Begriff des erheblichen Umfanges verkannt, wenn es lediglich die Zahl dieser Tätigkeiten einer anderen unbestimmten Zahl von - im einzelnen übrigens nicht aufgeführten - Tätigkeiten gegenüberstellte, die der Kläger noch ohne fremde Hilfe verrichten könne. Ein solcher rein zahlenmäßiger Vergleich läßt das Gewicht der einzelnen Verrichtungsarten außer acht und wird daher dem Sinn des § 35 BVG nicht gerecht. Mit Hilfe der Pflegezulage soll es dem Beschädigten erleichtert werden, sich fremder Hilfe für die gewöhnlichen, regelmäßigen Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens zu bedienen. Zu diesen gewöhnlichen regelmäßigen Verrichtungen gehören aber in ganz besonderem Maße die lebenserhaltenden Vorgänge wie das An- und Auskleiden, die Nahrungsaufnahme, die Körperpflege und -versorgung (vgl. z. B. BSG 8, 97, 100; BSG 12, 20, 23; ferner Urteil des erkennenden Senats vom 19.2.1964 in SozR Nr. 14 zu § 35 BVG). Allenfalls wenn der Beschädigte nur für vereinzelte dieser Verrichtungen oder nicht regelmäßig fremder Hilfe bedarf, kann es gerechtfertigt sein, den erheblichen Umfang dieser Abhängigkeit von anderen Menschen zu verneinen (vgl. z. B. Urteil des erkennenden Senats vom 26.9.1961 - 10 RV 179/59 - in SozEntsch. IX/3 - § 35 BVG nF Nr. 2 -; ferner BSG in SozEntsch. IX/3 - § 35 BVG nF Nr. 1 -) Der hier entscheidende Gedanke kam deutlich in der Fassung des § 35 Abs. 1 BVG vor dem Inkrafttreten des 1. NOG zum Ausdruck, wenn es dort hieß, daß Hilflosigkeit in diesem Sinn dann gegeben ist, wenn der Beschädigte nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen kann. Die abweichende Wortfassung dieser Vorschrift seit dem 1. NOG sollte aber keine andere Rechtslage schaffen (vgl. BSG in BVBl 1963 S. 95); vielmehr wurde die bisherige Legaldefinition des Begriffs "hilflos" noch für zu eng gehalten und sollte erweitert werden (vgl. BT-Drs. 1239, 3. Wahlperiode, zu § 35). Die Frage, ob ein Beschädigter auf sich allein gestellt nicht weiterexistieren kann bzw. ob er in seiner Existenz bedroht ist, wenn ihm bei bestimmten lebenserhaltenden Vorgängen fremde Hilfe nicht zuteil würde, hängt aber entscheidend von der Art und dem Ausmaß dieser Verrichtungen ab, selbst wenn es demgegenüber eine Anzahl von Alltagshandlungen anderer Art geben sollte, die derselbe Beschädigte im Ablauf seines Tages noch vornehmen oder an denen er noch teilnehmen kann. Dabei ist nicht zu übersehen, daß Tätigkeiten wie das An- und Auskleiden, die Nahrungsaufnahme, die Körperreinigung und -pflege sowie die notwendige Versorgung der Gesundheitsstörungen zu den wesentlichsten der "gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens" gehören. Bedarf der Beschädigte hierbei regelmäßig fremder Hilfe, so bedarf er dieser auch in erheblichem Umfange, weil die Frage der Erheblichkeit nicht losgelöst vom Zweck der Pflegezulage als Mittel zur reinen Existenzsicherung betrachtet werden kann (vgl. auch hier das Urteil des erkennenden Senats vom 23.2.1960 in BSG 12, 20, insbes. S. 23). Im Urteil vom 26. Februar 1965 - 9/11 RV 660/63 - (Versorg. Beamte 1965, 66) hat es das BSG folgerichtig denn auch als erforderlich angesehen, selbst einzelne Hilfeleistungen bei der Frage der Hilfsbedürftigkeit zu berücksichtigen, wenn sie regelmäßig erfolgen müssen und über das Maß einer nur geringfügigen Beistandsleistung hinausgehen. Im Urteil vom 24. April 1963 - 11 RV 800/62 - (BVBl 1963, S. 95) hat das BSG Hilflosigkeit sogar dann bejaht, wenn der Beschädigte lediglich bei einer einzigen, allerdings lebensnotwendigen Verrichtung in Form einer regelmäßig wiederkehrenden Heilmittelversorgung fremder Hilfe bedurfte. Es wurde also auch hier schon nicht eine bloß zahlenmäßige Wertung des Verhältnisses zwischen den hilfsbedingten und den ohne Hilfe möglichen Verrichtungen für angebracht gehalten. Der eben genannten Entscheidung steht das Urteil des BSG vom 25. November 1961 - 11 RV 660/59 (SozEntsch. IX/3 § 35 BVG nF Nr. 1) nicht entgegen; denn in dem dort ähnlich gelagerten Fall ergab sich, daß die ebenfalls als einzige Verrichtung von fremder Hilfe abhängige Heilmittelversorgung weder plötzlich und unerwartet notwendig noch zeitlich unaufschiebbar war.

Betrachtet man den Fall des Klägers nach diesen Gesichtspunkten, so führt dies zu dem Ergebnis, daß schon seine Unfähigkeit, sich ohne fremde Hilfe an- und auszukleiden, zu waschen und zu baden, seine Wundränder zu versorgen und schließlich seine Nahrungsmittel zu zerkleinern, den Kläger jedenfalls in die Nähe eines Zustands der Hilflosigkeit i. S. von § 35 Abs. 1 BVG gebracht hat. Denn das Maß seiner Abhängigkeit von fremder Hilfe in bezug auf die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf seines täglichen Lebens überschreitet die Grenze der Unerheblichkeit. Das LSG beruft sich für seine gegenteilige Meinung zu Unrecht auf das Urteil des erkennenden Senats vom 11. November 1969 - 10 RV 717/66 - (KOV 1970, 139). Dort ist festgestellt gewesen, daß der Beschädigte nur in einzelnen Fällen fremder Hilfe bedurfte. Im übrigen hat der Senat in jenem Urteil das zahlenmäßige Verhältnis der hilfeabhängigen und der hilfeunabhängigen Verrichtungen zwar als einen Wertungsmaßstab gekennzeichnet, der in bestimmten Fällen entscheidungserheblich sein kann. Den Gründen des angeführten Urteils ist aber auch bereits zu entnehmen, daß die Frage nach Art und Bedeutung der hilfeabhängigen Verrichtungen dann jedenfalls zu beachten ist, wenn davon der Grad der Hilflosigkeit abhängt.

Von dem Sachverhalt im o. a. Rechtsstreit unterscheidet sich der vorliegende Fall aber noch dadurch, daß zu dem für sich schon beträchtlichen Ausmaß der körperlichen Beeinträchtigung des Klägers durch die Folgen seiner Schädigung in bezug auf die o. a. lebenserhaltenden täglichen Verrichtungen die bei ihm festgestellten Schwindelanfälle und seine dadurch bedingte Gangunsicherheit hinzutreten. Jedenfalls unter Beachtung dieser beiden Komplexe in ihrem Zusammenhang muß die Hilflosigkeit des Klägers i. S. von § 35 Abs. 1 Nr. 1 BVG bejaht werden. Die unzutreffende Bewertung dieser Schwindelanfälle des Klägers durch das LSG beruht auf einer fehlerhaften Würdigung der vom LSG festgestellten Tatumstände. Hiernach muß davon ausgegangen werden, daß der Kläger wenigstens einmal wöchentlich mit einem derartigen Anfall zu rechnen hat, wobei noch erschwerend hinzukommt, daß der Kläger nicht weiß oder vorhersehen kann, wann und wo er von einem Anfall betroffen wird. Das LSG verweist insoweit zu Unrecht auf das Urteil des BSG vom 27. Februar 1963 - 8 RV 301/61 - (BVBl 1963, 86). Dort handelte es sich um einen Fall, in dem der Beschädigte ausschließlich mit Rücksicht auf ähnliche Anfälle, die überdies nur fünf- bis sechsmal jährlich auftraten, Pflegezulage begehrte. Im Gegensatz zum Fall des Klägers lagen dort aber keine weiteren Behinderungen bei den gewöhnlichen Verrichtungen des täglichen Lebens in der Weise vor, daß der Beschädigte diese ohne fremde Hilfe nicht hätte vornehmen können. Infolgedessen sind beide Fälle auch nicht vergleichbar. Dem LSG ist zwar in der Erwägung beizupflichten, daß wegen des Sinngehaltes der Pflegezulage die für den Kläger nötige Begleitung auf dem Weg von und zur Schule außer Betracht zu bleiben hat, weil es sich hierbei nicht um höchstpersönliche Verrichtungen i. S. von § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG handelt. Das LSG hat aber nicht hinreichend gewürdigt, daß der Kläger durch die festgestellten Schwindelanfälle und die dadurch bedingte Gangunsicherheit nicht nur auf dem Wege zum und vom Arbeitsplatz, sondern auch auf Wegen in der Öffentlichkeit aus privatem Anlaß den festgestellten Risiken ausgesetzt ist. So hat auch - wie das LSG festgestellt hat - der Gutachter Dr. Giese vor dem SG ausgeführt, daß der Kläger wegen seiner Gangunsicherheit und seiner Neigung zu Schwindelanfällen im Straßenverkehr so behindert sei, daß er einer dauernden fremden Hilfe bedürfe. Bereits im Urteil vom 29. Oktober 1959 (BVBl 1960, 45) hat der 8. Senat des BSG festgestellt, daß Hilflosigkeit i. S. von § 35 BVG gegeben ist, wenn der Beschädigte zum An- und Auskleiden und für die Bewegung im Straßenverkehr fremder Hilfe bedarf. Auch dem Beschädigten steht nämlich der Anspruch auf angemessene körperliche Bewegung und geistige Erholung zu (vgl. BSG 12, 20, 23). Besteht aber nach den Feststellungen des LSG beim Kläger Gangunsicherheit infolge der Schwindelanfälle, dann verhindert eine Begleitperson auch bei nicht aus Berufsgründen bedingter Teilnahme am öffentlichen Verkehr nicht nur die durch § 35 BVG nicht geschützte Unfallgefahr nach Auftreten eines Anfalles, sondern ermöglicht diese Teilnahme durch ihre Hilfeleistung überhaupt erst.

Unter Beachtung aller dieser Umstände ist es nach Auffassung des Senats gerechtfertigt, den Kläger als hilflos i. S. von § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG anzusehen. Die entgegenstehende Entscheidung des LSG mußte infolgedessen im beantragten Umfang abgeändert werden.

Der Senat hielt es nach Lage der Dinge auch für gerechtfertigt, dem Beklagten die Pflicht zur Erstattung der gesamten Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens aufzuerlegen (§ 193 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1670405

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