Leitsatz (redaktionell)
Für die Beurteilung des Teilzeitarbeitsmarktes reicht eine bloße Verweisung auf die Entscheidung des Großen Senats vergleiche BSG 1969-12-11 GS 4/69 = BSGE 30, 167-192) nicht aus, weil das dortige Ergebnis eines für weibliche Teilzeitarbeitskräfte in der Regel "offenen" Arbeitsmarktes auf Ermittlungen gestützt wird, welche die BA bereits im Jahre 1967 durchgeführt hat, so daß das LSG nicht ohne eigene diesbezügliche Feststellungen davon ausgehen darf, daß diese damalige Arbeitsmarktsituation bis zu seiner erst im Jahre 1974 getroffenen Entscheidung gleich geblieben ist.
Normenkette
AVG § 23 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 103 Fassung: 1974-07-30, § 128 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 17. April 1974 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin die Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit zusteht (§ 23 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -).
Die im Jahre 1924 geborene Klägerin war nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) "vorwiegend - von 1939 bis 1970 - als Kontoristin und Stenotypistin berufstätig". Ihren im Juli 1969 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte aufgrund des Ergebnisses der veranlaßten ärztlichen Untersuchung ab (Bescheid vom 13. Januar 1970).
Die hiergegen gerichtete Klage hatte in den beiden Vorinstanzen keinen Erfolg. Das LSG holte von dem Facharzt für innere Krankheiten Dr. Sch und von dem Facharzt für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten Dr. G Gutachten über den Gesundheitszustand der Klägerin ein. Es verneinte die Berufsunfähigkeit der Klägerin im wesentlichen mit folgender Begründung: "Nach ihrem Berufsbild" sei das Leistungsvermögen der Klägerin an einer gesunden Versicherten zu messen, die einfache bis mittelschwere Büroarbeiten verrichtet. Solche könne sie "nach der übereinstimmenden medizinischen Sachaufklärung" noch wenigstens halbschichtig ausüben. Damit könne sie auch noch die Lohnhälfte verdienen, welche die Berufsunfähigkeit ausschließe. "Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG)" (Hinweis auf BSG 30, 167 ff) gebe es für einfache bis mittelschwere Büroarbeiten auch noch Arbeitsplätze in einer solchen Zahl, daß der Arbeitsmarkt für die Klägerin offen sei. Dies gelte um so mehr als für Frauen insoweit besonders günstige Verhältnisse in den Organisations-, Verwaltungs- und Handelsberufen gegeben seien (Urteil vom 17. April 1974).
Der Klägerin ist mit Beschluß des erkennenden Senats vom 29. Oktober 1974 - ihrem Prozeßbevollmächtigten zugestellt am 18. November 1974 - für das Verfahren vor dem BSG das Armenrecht bewilligt worden. Mit der sodann am 2. Dezember 1974 eingelegten und gleichzeitig begründeten Revision rügt die Klägerin wesentliche Verfahrensmängel, die sie auf Verletzungen der §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) durch das LSG stützt.
Die Klägerin beantragt, ihr wegen der Versäumung der Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren; außerdem beantragt sie, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte stellt keinen Antrag.
Entscheidungsgründe
Die Klägerin war ohne Verschulden verhindert gewesen, die Revisionsfrist (§ 164 Abs. 1 Satz 1 SGG in der bis zum 31. Dezember 1974 geltenden Fassung) einzuhalten, weil ihr das innerhalb der Frist beantragte Armenrecht erst nach deren Ablauf bewilligt wurde. Da die Revision durch den Prozeßbevollmächtigten der Klägerin binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses - der Zustellung des Armenrechtsbeschlusses - eingelegt und gleichzeitig begründet wurde, ist der Klägerin entsprechend ihrem Antrag nach § 67 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 SGG die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 16.7.1974 - 1 RA 201/731 --).
Die Revision ist gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG in der bis zum 31. Dezember 1974 geltenden und hier anzuwendenden Fassung auch statthaft, weil die gerügten wesentlichen Verfahrensmängel einer Verletzung der §§ 103, 128 Abs. 1 SGG vorliegen.
Die Klägerin beanstandet zu Recht, daß das LSG nicht alle tatsächlichen Feststellungen getroffen hat, auf die es von seinem Rechtsstandpunkt aus für die Verneinung der Berufsunfähigkeit ankam. So ist bereits offen geblieben, was nach Ansicht des LSG als bisheriger Beruf der Klägerin anzusehen ist und welche Gesundheitsstörungen ihre Leistungsfähigkeit einschränken. Diese Feststellungen sind deswegen unerläßlich, weil nur so geprüft werden kann, ob die Erwerbsfähigkeit der Klägerin in einer zumutbaren Halbtagstätigkeit mindestens die Hälfte der Erwerbsfähigkeit eines mit ihr vergleichbaren gesunden Versicherten erreicht (vgl. hierzu Urteil des erkennenden Senats vom 12.12.1974 - 1 RA 33/74 - mit weiteren Nachweisen). Dieser - gerade bei einer zeitlich eingeschränkten Leistungsfähigkeit - gemäß § 23 Abs. 2 Satz 1 AVG erforderliche Vergleich fehlt im Urteil des LSG. § 128 Abs. 1 SGG verbietet aber, von der Feststellung entscheidungserheblicher Tatsachen abzusehen.
Weiter ist es - wie die Revision ebenfalls zutreffend rügt - als ein Verstoß gegen § 103 SGG anzusehen, daß das LSG die für die Klägerin noch in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsmöglichkeiten nicht ausreichend geklärt hat. Der bloße Hinweis auf die Entscheidung des Großen Senats in BSG 30, 167 ff genügt insoweit schon deswegen nicht, weil das dortige Ergebnis eines für weibliche Teilzeitarbeitskräfte in der Regel "offenen" Arbeitsmarktes auf Ermittlungen gestützt wird, welche die Bundesanstalt für Arbeit bereits im Jahre 1967 durchgeführt hat (Mikrozensus 1967: vgl. BSG aaO S. 189). Das LSG konnte demnach nicht ohne weiteres, d.h. nicht ohne eigene diesbezügliche Feststellungen davon ausgehen, daß diese damalige Arbeitsmarktsituation bis zu seiner erst im Jahre 1974 getroffenen Entscheidung gleich geblieben ist (vgl. hierzu auch Urteil des BSG vom 21.9.1971 - 12/11 RA 204/70 -).
Auch soweit das LSG noch zusätzlich ausführt, daß die Klägerin "besonders günstige Verhältnisse" in den Organisations-, Verwaltungs- und Handelsberufen vorfinde, hat es nicht dargelegt, worauf es diese Überzeugung stützt. Es hätte insoweit durch eigene Ermittlungen oder wenigstens durch Hinweise auf solche aus anderen gleichgelagerten Rechtsstreitigkeiten klären müssen, ob die tatsächlichen Verhältnisse in dem in Betracht kommenden Verweisungsgebiet eine derartige Annahme rechtfertigen. Zwar entscheidet das Gericht gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Wie der Senat im Urteil vom 16. Juli 1974 aaO bereits ausgeführt hat, verbietet es die Vorschrift aber, das Ergebnis einer möglichen Beweisaufnahme vorwegzunehmen und von der Feststellung entscheidungserheblicher Tatsachen abzusehen. Das LSG hat dies nicht beachtet; es hat damit auch insoweit seine Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 SGG), verletzt.
Die Revision ist wegen der aufgezeigten Mängel im Verfahren des LSG zulässig. Sie ist auch insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden muß (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, weil die bisherigen Feststellungen des LSG zur abschließenden Beurteilung des geltend gemachten Rentenanspruchs nicht ausreichen.
Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen