Beteiligte
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 22. Mai 1996 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger begehrt als Rechtsnachfolger seiner verstorbenen Mutter die Geldleistung wegen Schwerpflegebedürftigkeit (Pflegegeld) für einen Zeitraum vor Antragstellung.
Die verstorbene Mutter des Klägers, die bei der beklagten Ersatzkasse krankenversichert war, hatte mit Schreiben vom 13. August 1991 bei der Beklagten Pflegegeld wegen Schwerpflegebedürftigkeit gemäß §§ 53, 57 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V, in der vor dem 1. April 1994 geltenden Fassung, vgl Art 4 Nr 4 iVm Art 68 Abs 2 Pflege-Versicherungsgesetz ≪PflegeVG≫ vom 26. Mai 1994, BGBl I S 1014) beantragt. Nachdem die Beklagte den Antrag zunächst, gestützt auf ein Gutachten des Medizinischen Dienstes, abgelehnt hatte, gewährte sie nach erneuter Begutachtung Pflegegeld in Höhe von monatlich 400,00 DM ab 1. August 1991 (Bescheid vom 10. Juni 1992). Im Dezember 1992 wandte sich die Mutter des Klägers mit dem Begehren an die Beklagte, das Pflegegeld rückwirkend seit dem 1. Januar 1991 zu zahlen, da bei ihr schon seit 1988 eine „dringende Pflegebedürftigkeit” vorgelegen habe. Die Beklagte lehnte dies mit Bescheid vom 26. Januar 1993 ab, da ein Anspruch auf Leistungen nach § 57 SGB V erst mit dem Antrag entstehe und Pflegegeld nicht für Zeiträume vor Antragstellung gewährt werden könne. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 15. April 1993).
Das Sozialgericht (SG) hat die hiergegen gerichtete Klage durch Urteil vom 16. Dezember 1993 abgewiesen: Häusliche Pflegehilfe gemäß § 55 SGB V sei als Sachleistung anzusehen, die immer nur für die Zukunft gewährt werden könne. Pflegegeld werde „anstelle” der häuslichen Pflegehilfe gewährt und könne daher auch nur für zukünftige Zeiträume bewilligt werden. Die Berufung blieb erfolglos (Urteil des Landessozialgerichts Berlin ≪LSG≫ vom 22. Mai 1996).
Gegen dieses Urteil richtet sich die vom LSG zugelassene Revision des Klägers, die dieser als Rechtsnachfolger seiner zwischenzeitlich verstorbenen Mutter eingelegt hat. Mit ihr rügt er eine Verletzung der §§ 53, 57 SGB V aF. Das in § 57 SGB V aF erwähnte Antragsrecht habe nur den Zweck, die Entscheidung des Leistungsberechtigten für die Geldleistung anstelle der Sachleistung zu dokumentieren. Die in § 57 Abs 4 SGB V enthaltene Regelung, daß die Geldleistung vom 1. Januar 1991 an gezahlt werde, zeige zudem, daß rückwirkende Zahlungen möglich oder vom Gesetzgeber gewollt seien. Da jeder Empfänger von Sachleistungen gemäß § 57 SGB V jederzeit das Recht habe, durch Antragstellung von der Sachleistung zur Geldleistung zu wechseln, sei auch keine Besserstellung von Geldleistungsempfängern gegenüber Sachleistungsempfängern gegeben.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 22. Mai 1996 und das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. Dezember 1993 sowie den Bescheid der Beklagten vom 26. Januar 1993 idF des Widerspruchsbescheides vom 15. April 1993 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Geldleistungen wegen Schwerpflegebedürftigkeit der Erblasserin E. M. für die Zeit vom 1. Januar 1991 bis zum 31. Juli 1991 in Höhe von DM 2.800,00 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
Die Revision des Klägers ist nicht begründet und war daher zurückzuweisen.
Das LSG hat die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des SG zu Recht zurückgewiesen. Bei dem angefochtenen Bescheid handelt es sich nicht um die Ablehnung eines ergänzenden Leistungsantrags, sondern um die Ablehnung eines Zugunstenbescheides iS von § 44 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch – Zehntes Buch (SGB X), denn der von der Mutter des Klägers gestellte Antrag auf Gewährung von Pflegegeld war nicht auf die Zeit ab 1. August 1991 beschränkt. Von daher lag in der Festsetzung des Leistungsbeginns auf den 1. August 1991 im Bescheid vom 10. Juni 1992 zugleich die Ablehnung, für die vorangegangene Zeit seit dem 1. Januar 1991 Pflegegeld zu gewähren. Die Beklagte war jedoch nicht verpflichtet, ihren Leistungsbescheid vom 10. Juni 1992 gemäß § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X insoweit zurückzunehmen, als Pflegegeld erst ab 1. August 1991 und nicht bereits ab 1. Januar 1991 bewilligt worden war; denn der Bescheid der Beklagten war rechtmäßig.
1. Der Kläger ist grundsätzlich berechtigt, die seiner Mutter bei deren Tod zustehenden Ansprüche geltend zu machen. Nach § 58 Satz 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) werden fällige Ansprüche auf Geldleistungen nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs vererbt, soweit sie nicht nach den §§ 56 und § 57 SGB I einem Sonderrechtsnachfolger zustehen. Nach den im Revisionsverfahren nicht angegriffenen Feststellungen des LSG ist der Kläger Alleinerbe seiner Mutter; ein Fall einer vorrangigen anderweitigen Sonderrechtsnachfolge iS der §§ 56, 57 SGB I liegt nicht vor.
Eine Rechtsnachfolge ist nicht wegen der Rechtsnatur des Pflegegeldes ausgeschlossen. Der Anspruch auf Pflegegeld ist mit dem Tod der Mutter des Klägers nicht erloschen. Nach § 59 Satz 1 SGB I erlöschen zwar Ansprüche auf Dienst- und Sachleistungen mit dem Tod des Berechtigten. Ansprüche auf Geldleistungen erlöschen dagegen nur, wenn sie im Zeitpunkt des Todes des Berechtigten weder festgestellt sind, noch ein Verwaltungsverfahren über sie anhängig ist (§ 59 Satz 2 SGB I). Das Verwaltungsverfahren ist noch von der Mutter des Klägers eingeleitet worden. Das Pflegegeld zählt auch zu den vererbbaren Geldleistungen iS von § 59 Satz 2 iVm § 11 Satz 1 SGB I. Dem steht nicht entgegen, daß das Pflegegeld in der Begründung zum Entwurf des Sozialgesetzbuchs – Elftes Buch (SGB XI) als Sachleistungssurrogat bezeichnet wird (BT-Drucks 12/5262 S 112, zu § 33 SGB XI – Entwurf). Mit dieser Qualifizierung sollte vor allem die Exportfähigkeit des Pflegegeldes in das EU-Ausland ausgeschlossen werden. Daß das Pflegegeld „keine Geldleistung im eigentlichen Sinne” sei (aaO, S 110 zu § 30 SGB XI), wurde vor allem damit begründet, daß es zweckgebunden zur Sicherstellung der Pflege durch selbstbeschaffte Pflegepersonen sei und nur die Sachleistung ersetze. Die Sicherstellung der Pflege durch den Pflegebedürftigen sei Grundvoraussetzung des Bezugs von Pflegegeld; lasse der Pflegebedürftige eine Kontrolle der Sicherstellung nicht zu, so könne das Pflegegeld verweigert werden. Die Kontrolle der Sicherstellung der Pflege ist durch das 1. SGB XI-ÄndG (vom 14. Juni 1996, BGBl I S 830) noch verstärkt worden (vgl § 37 Abs 3 SGB XI). Dies wirkt sich jedoch auf die Qualifizierung des Pflegegeldes als Geldleistung iS von § 59 Satz 2 SGB I nicht aus.
§ 11 Satz 1 SGB I unterscheidet die Sozialleistungen nach Dienst-, Sach- und Geldleistungen. Die Zuordnung der einzelnen Sozialleistungen richtet sich nur nach der Form, in der die Leistung erbracht wird (vgl BSG SozR 1200 § 44 Nr 1; Mrozynski, SGB I, Komm, 2. Aufl. 1995, § 11 RdNr 18 mwN). Danach ist zB der Kostenerstattungsanspruch iS von § 13 Abs 3 SGB V im Hinblick auf die Vererbbarkeit regelmäßig als Geldleistung einzustufen (vgl BSG, USK 78126; Mrozynski, aaO, § 59 RdNr 10; von Maydell, SGB I – Gemeinschaftskommentar, § 58 RdNr 3; Hauck/Haines, SGB I § 58 RdNr 3a). Auch die strenge Zweckbindung des Pflegegeldes kann seine Zuordnung zu einer anderen Leistungsart nicht begründen (vgl Krasney, SGb 1996, 253, 256). Dies gilt jedenfalls im Hinblick auf seine Vererbbarkeit. Ob das Pflegegeld im Hinblick auf die Exportfähigkeit in das EU-Ausland nicht als Geldleistung iS der EG-VO 1408/71 anzusehen ist, war hier nicht zu entscheiden.
2. Der Mutter des Klägers stand während des hier streitigen Zeitraums ein Anspruch auf Pflegegeld gemäß § 57 Abs 1 SGB V aF nicht zu. Die Krankenkasse (KK) konnte anstelle der nach § 55 SGB V aF vorgesehenen Pflegesachleistung im Rahmen der häuslichen Pflegehilfe nach § 57 SGB V aF Pflegegeld gewähren. Die §§ 53-57 SGB V sind zwar durch Art 4 Nr 3 und 4, Art 68 Abs 2 PflegeVG mit Wirkung vom 1. April 1995 aufgehoben worden. Für den hier streitigen Zeitraum sind sie jedoch weiterhin anzuwenden (BSG SozR 3-2500 § 53 Nr 9).
Die Frage, von welchem Zeitpunkt an Pflegegeld zu leisten ist, war in den §§ 53 bis 57 SGB V aF nicht ausdrücklich geregelt. Für den Leistungsbeginn ist im Regelfall der Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs maßgebend, dh wenn alle materiellen Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen (§ 40 Abs 1 SGB I); es sei denn, das jeweilige materielle Recht läßt rückwirkende Leistungen zu, wie dies etwa im Kinder- und Erziehungsgeldrecht der Fall ist (vgl § 5 Abs 2 Bundeskindergeldgesetz ≪BKGG≫, § 4 Abs 2 Satz 3 Bundeserziehungsgeldgesetz ≪BErzGG≫). Das SGB V enthielt zur rückwirkenden Gewährung von Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit keine entsprechende Regelung.
Die Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit hängen von einer Antragstellung ab (§ 1545 Reichsversicherungsordnung aF; jetzt § 19 Sozialgesetzbuch – Viertes Buch). Der Antrag ist hier materielle Anspruchsvoraussetzung. Zwar betreffen die genannten Vorschriften über das Antragserfordernis nur die verfahrensrechtliche Bedeutung, weil sie lediglich regeln, ob die Verwaltung von Amts wegen oder nur auf Antrag tätig werden darf (so Hauck/Haines, SGB IV, K § 19 Anm 3, 3a; ferner Seewald in Kasseler Komm § 19 SGB IV, Rn 4). Aus ihrer verfahrensrechtlichen Bedeutung in Verbindung mit dem Sachleistungsprinzip der häuslichen Pflegehilfe folgt aber, daß der Antrag auch materiell den Leistungsbeginn bestimmt; denn wenn die Verwaltung erst auf Antrag tätig werden darf, kann sie auch frühestens von diesem Zeitpunkt an die Leistung erbringen. Bei Geldleistungen ist allerdings ausnahmsweise eine Nachzahlung für abgelaufene Zeiträume möglich.
Für das Pflegegeld nach § 57 SGB V gilt das aber nicht. Das LSG hat dies zutreffend aus folgenden Vorgaben des Gesetzes abgeleitet: Die Leistung von Pflegegeld war als Surrogat der vorrangigen Pflegesachleistung (nach § 55 SGB V aF) vorgesehen. Die KK konnte Pflegegeld „anstelle” der häuslichen Pflegehilfe zahlen. Hieraus folgt bereits, daß der Anspruch auf Pflegegeld unabhängig vom Zeitpunkt des Eintritts von Schwerpflegebedürftigkeit nicht früher entstehen konnte als der Sachleistungsanspruch. Dieser ist seiner Natur nach zwangsläufig zukunftsgerichtet; Naturalleistungen können nicht nachträglich für zurückliegende Zeiten erbracht werden (vgl BSGE 73, 146, 158 = SozR 3-2500 § 53 Nr 4).
Die Gewährung von Pflegegeld setzte nach § 57 SGB V aF ferner einen besonderen Antrag des Schwerpflegebedürftigen voraus. Ohne entsprechenden Antrag war die KK nur zur Gewährung der Pflegesachleistung verpflichtet. Dieser Antrag hatte vorrangig die Aufgabe, die KK zur Prüfung der weiteren, über die Anforderungen der Pflegesachleistung hinausgehenden Tatbestandsvoraussetzungen zu veranlassen. Die KK hatte mit Hilfe des medizinisch-pflegerischen Sachverständigen zu prüfen, ob der Schwerpflegebedürftige die Pflege durch selbstbeschaffte Pflegepersonen in geeigneter Weise und in ausreichendem Umfang sicherstellen konnte. Die hiernach erforderliche Prognose kann nur für die Zeit nach Antragstellung getroffen werden. Ob die Leistung von Pflegegeld anstelle der Sachleistung bei positiver Prognose, wie das LSG angenommen hat, im Ermessen der KK stand oder in diesem Falle eine Ermessensreduzierung „auf Null” (so Maaßen/Schermer/Wiegand/Zipperer, SGB V, § 57 RdNr 2 und 3) eintrat, ist für den Leistungsbeginn ohne Belang. Maßgeblich ist, daß das Gesetz nur eine Entscheidung für die Zukunft zuläßt. Andernfalls käme es zudem, worauf das LSG zutreffend hingewiesen hat, zu einer Besserstellung derjenigen Pflegebedürftigen, die die Pflege durch selbst beschaffte Pflegepersonen durchführen gegenüber denjenigen, die Pflegesachleistungen in Anspruch nehmen. Das Surrogat würde damit entgegen der Intention der §§ 53 bis 57 SGB V aF gegenüber der Sachleistung als der vorrangigen Leistungsart privilegiert. Die KK würde ferner zu einem erhöhten Verwaltungsaufwand gezwungen, weil sie im nachhinein zu ermitteln hätte, ob und inwieweit tatsächlich eine Pflege durch Dritte stattgefunden hat.
Für das Pflegegeld nach § 37 SGB XI idF des PflegeVG (geändert durch das 1. SGB-XI-ÄndG vom 14. Juni 1996, BGBl I S 830) enthält § 33 Abs 1 Satz 2 SGB XI die ausdrückliche Regelung, daß Leistungen erst ab Antragstellung gewährt werden. Auch dies läßt den Schluß zu, daß der Antrag für den Beginn der Leistungen nach den §§ 53 bis 57 SGB V aF maßgebend sein sollte. Denn die Leistungsart Pflegegeld ist hinsichtlich ihrer Voraussetzungen und Zweckbestimmung unverändert geblieben. Den Materialien zum SGB XI ist kein Hinweis zu entnehmen, daß der Leistungsbeginn gegenüber dem vorhergehenden Rechtszustand abweichend geregelt werden sollte.
§ 57 Abs 4 SGB V aF, der bestimmte, daß die Geldleistung vom 1. Januar 1991 an gezahlt wird, läßt sich entgegen der Auffassung der Revision nicht entnehmen, daß auch der Gesetzgeber an die Möglichkeit einer Zahlung von Pflegegeld für zurückliegende Zeiträume gedacht hat. Diese Vorschrift legt wie auch § 55 Abs 2 SGB V aF für die Pflegesachleistung allein das spätere Wirksamwerden gegenüber der Grundnorm in § 53 SGB V aF fest, die sich in der Zeit zwischen dem 1. Januar 1989 und dem 31. Dezember 1990 nur auf die in § 56 SGB V aF geregelte Leistungsart auswirkte.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 651685 |
Breith. 1997, 837 |
SozSi 1998, 154 |