Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Urteil vom 27.06.1990) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 27. Juni 1990 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
In diesem Revisionsverfahren geht es darum, ob die Berufung der Klägerin zulässig war oder nicht.
Die im Jahre 1932 geborene Klägerin war von 1948 bis 1955 und erneut in den Jahren 1965 und 1966 versicherungspflichtig beschäftigt. Im Juli 1985 beantragte sie, ihr medizinische Leistungen zur Rehabilitation und Versichertenrente zu gewähren. In den Jahren 1985, 1986 und 1987 ließ die Beklagte bei der Klägerin Heilverfahren durchführen, ohne jedoch Übergangsgeld zu zahlen. Den Rentenantrag der Klägerin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 13. August 1986 ab, weil die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der §§ 1247 Abs 2a und 1246 Abs 2a der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht erfüllt seien. Der dagegen gerichtete Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 12. November 1986).
Im Klageverfahren hat die Klägerin geltend gemacht, der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit sei bei ihr bereits vor dem 1. Juli 1984 eingetreten. Sie hat Rente auf Zeit aufgrund eines am 30. Juni 1984 eingetretenen Versicherungsfalls bis zum 31. Juli 1988 begehrt. Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 3. März 1989 die Klage abgewiesen. Im Berufungsverfahren hat die Klägerin beantragt, ihr vorgezogenes Übergangsgeld in Höhe der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit zuzuerkennen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen (Urteil vom 27. Juni 1990). Es hat ausgeführt, da die Klägerin vor Beginn der medizinischen Rehabilitation im Oktober 1985 bereits im Juli 1985 Rente beantragt habe, komme hier nur die Gewährung von Übergangsgeld nach § 1241d Abs 5 RVO in Höhe der Rente in Betracht. Die Vorschrift des § 146 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), wonach die Berufung unzulässig ist, wenn sie Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betrifft, sei auf das nach rentenrechtlichen Vorschriften zu zahlende Übergangsgeld entsprechend anzuwenden, wenn dieses an die Stelle der Rente trete. Die Berufung der Klägerin sei auch nicht wegen eines wesentlichen Mangels des erstinstanzlichen Verfahrens zulässig.
Die Klägerin hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Sie rügt eine Verletzung der §§ 146 und 150 Nr 2 iVm 103 SGG. Das LSG hätte die Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen.
Die Klägerin beantragt,
- das Urteil des LSG aufzuheben,
- den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und … Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision der Klägerin ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden mußte. Dieses hätte eine Entscheidung in der Sache selbst treffen müssen und die Berufung der Klägerin nicht als unzulässig verwerfen dürfen.
In Angelegenheiten der Rentenversicherung ist die Berufung nach § 146 SGG nicht zulässig, soweit sie ua nur Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betrifft. Ursprünglich hatte das Bundessozialgericht (BSG) diese Vorschrift auch dann angewendet, wenn eine Berufung Übergangsgeld für bereits abgelaufene Zeiträume betraf (so BSG in SozR Nr 11 zu § 146 SGG). Mit Urteil vom 27. April 1978 (BSGE 46, 167, 169 f = SozR 1500 § 146 Nr 8) hat der 11. Senat des BSG jedoch entschieden, nach dem Inkrafttreten des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation (RehaAnglG) vom 7. August 1974 (BGBl I 1881) lasse sich für die nach diesem Gesetz in Betracht kommenden Übergangsgelder die bisherige Rechtsprechung nicht fortführen. Das Übergangsgeld sei nun nicht mehr eine spezielle Leistung der Rentenversicherung, sondern in mehreren Bereichen des Sozialrechts eingeführt worden. Es sei nach seinen Voraussetzungen und seiner Berechnung möglichst einheitlich ausgerichtet worden und könne nicht als rentenähnlich bezeichnet werden. Deshalb sei § 146 SGG auf Übergangsgeld iS des § 1240 RVO nicht mehr entsprechend anzuwenden. Dabei hat der 11. Senat unentschieden gelassen, ob das auch gilt, wenn das Übergangsgeld in der Rentenversicherung an die Stelle einer Rente tritt. Das wird vom erkennenden Senat bejaht.
Das BSG hat es in der Regel abgelehnt, die §§ 145, 146 SGG entsprechend anzuwenden, wenn Leistungen für vergangene Zeit streitig waren, die in diesen Vorschriften nicht ausdrücklich genannt sind (vgl Urteil des 11. Senats vom 13. November 1983 in SozR 1500 § 146 Nr 16 mwN). In der genannten Entscheidung ist herausgestellt worden, daß in erster Linie der Grundsatz der Rechtsmittelklarheit die Möglichkeiten einer erweiternden Auslegung und einer entsprechenden Anwendung einschränkt. Der Grundsatz, die Zulässigkeit von Rechtsmitteln möglichst von Zweifeln freizuhalten (vgl Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes – GemSoGB – in SozR 1500 § 161 Nr 18), erfordere eine restriktive, vornehmlich am Wortlaut orientierte Auslegung. Diesen Grundsatz der Rechtsmittelklarheit hat auch der 4. Senat des BSG im Urteil vom 31. Mai 1989 (SozR 1200 § 42 Nr 4) betont und im Streit um die Erstattung überzahlter Vorschüsse auf Renten der gesetzlichen Rentenversicherung § 146 SGG für nicht anwendbar erklärt.
Der 6. Senat des BSG hat im Urteil vom 24. Oktober 1984 (BSGE 57, 195, 196 f) ausgeführt, eine analoge Anwendung des Gesetzes auf gesetzlich nicht umfaßte Sachverhalte sei geboten, wenn die Regelungsabsicht des Gesetzgebers wegen der Gleichheit der zugrundeliegenden Interessenlage auch den nicht geregelten Fall hätte einbeziehen müssen. Auch bei Ausnahmevorschriften bestehe kein Analogieverbot. Zur Entscheidung des 11. Senats vom 27. April 1978 (aaO 168), wonach einzelne Senate des BSG es abgelehnt hätten, „die Ausschlußvorschriften der §§ 145, 146 SGG entsprechend anzuwenden, wenn Leistungen für vergangene Zeiten streitig sind, die diese Paragraphen nicht ausdrücklich anführen”, hat der 6. Senat dahingehend Stellung genommen, dies könne nicht bedeuten, daß bei Ausnahmevorschriften eine Analogie ausgeschlossen wäre.
Ausgehend von dieser Rechtsprechung und den dargestellten Grundsätzen sieht der erkennende Senat generell eine entsprechende Anwendung des § 146 SGG auf Streitigkeiten, die Übergangsgeld zum Gegenstand haben, nicht als zulässig an. Die Interessenlage, die der gesetzlichen Regelung in § 146 SGG zugrunde liegt, ist nicht der Situation „ähnlich”, die bei Verfahren mit dem Streitgegenstand „Übergangsgeld” gegeben ist. Für das nach § 1241 RVO zu berechnende Übergangsgeld ergibt sich das schon aus der Entscheidung des 11. Senats vom 27. April 1978 (aaO). Aber auch wenn das Übergangsgeld in den Fällen des § 1241d Abs 5 RVO „in Höhe der Rente” zu gewähren ist, verliert es dadurch nicht seinen Charakter als Übergangsgeld. Dies ist zum einen aus dem Wortlaut des Gesetzes zu folgern, wonach „anstelle der Rente” Übergangsgeld zu zahlen ist, dh die Sozialleistung „Rente” eben durch die Sozialleistung „Übergangsgeld” ersetzt wird. Zum anderen entspricht auch die Funktion der nach § 1241d Abs 5 RVO zu zahlenden Leistung nicht der einer Rente. Der Vorrang der Rehabilitation vor Rente wird durch Abs 5 des § 1241d RVO nicht durchbrochen. Nach § 7 Abs 1 RehaAnglG sollen Renten wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit oder wegen Erwerbsunfähigkeit erst dann bewilligt werden, wenn zuvor Maßnahmen zur Rehabilitation durchgeführt worden sind. Da die Klägerin nicht unmittelbar vor Beginn der Maßnahmen gegen Arbeitsentgelt versicherungspflichtig beschäftigt war, kann hier ein Übergangsgeld nicht – wie für den „Normalfall” in § 1241 Abs 1 RVO vorgesehen – „in der gleichen Weise wie Krankengeld für einen Arbeitnehmer berechnet” werden. Deshalb bleibt auch dann, wenn mangels einer anderen Berechnungsgrundlage auf die Höhe der Rente zurückgegriffen werden muß, die nach § 1241d Abs 5 RVO zu gewährende Leistung Übergangsgeld.
Der oben erwähnte Grundsatz der Rechtsmittelklarheit und die gebotene restriktive, am Wortlaut des § 146 SGG orientierte Auslegung verbieten es, das Übergangsgeld bei der Frage nach der Zulässigkeit der Berufung aufzuspalten. Diese kann nicht davon abhängig gemacht werden, wie im konkreten Fall das Übergangsgeld zu berechnen ist, vielmehr muß der – einheitliche – Charakter der Leistung auch für die Statthaftigkeit des Rechtsmittels unabhängig von der Berechnung maßgebend sein.
Da die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG durch § 146 SGG nicht ausgeschlossen war, hätte das LSG die Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen. Es wird die Entscheidung in der Sache nachzuholen haben.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen